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OLG Düsseldorf Urteil vom 29.06.2006 - I-24 U 196/04 - Zur Zulässigkeit der Berechnung einer anwaltlichen Zeitvergütung im Viertelstundentakt
OLG Düsseldorf v. 29.06.2006: Zur Zulässigkeit der Berechnung einer anwaltlichen Zeitvergütung im Viertelstundentakt
Das OLG Düsseldorf (Urteil vom 29.06.2006 - I-24 U 196/04) hat entschieden:
Eine formularmäßige 15-Minuten-Zeittaktklausel verstößt wegen Benachteiligung des Mandanten gegen § 9 AGBG (jetzt § 307 BGB).
Siehe auch Honorarvereinbarung und Anwaltskosten allgemein
Zum Sachverhalt:
Der klagende Rechtsanwalt hatte auf Veranlassung des Beklagten ab Ende Juni 2001 anwaltliche Tätigkeiten entfaltet, die die vermögensrechtlichen Interessen des Beklagten betreffen. Dabei ging es um mehrere Komplexe. Unter anderem hatten die Parteien in einer Zeittaktklausel in einer Honorarvereinbarung vereinbart, dass jede angefangene Viertelstunde im Zeittakt von jeweils 15 Minuten abgerechnet werden sollte.
Aus den Entscheidungsgründen:
B.
Das Rechtsmittel des Beklagten hat überwiegenden Erfolg. Er schuldet dem Kläger aus den umstrittenen Mandaten nur noch Gebühren in Höhe von 6.842,40 EUR nebst Zinsen. In dem darüber hinausgehenden Umfange (30.130,72 EUR nebst Zinsen und Feststellung) unterliegt das angefochtene Urteil der Abänderung und die Klage der Abweisung.
...
bb) Der Kläger hat den Zeitaufwand auch ohne Rücksicht auf das im Mandanteninteresse bestehende Wirtschaftlichkeitsgebot wissentlich aufgebläht. Die eigensüchtige Aufblähung des Zeitaufwands beruht einerseits strukturell auf der (unwirksamen) Zeittaktklausel, andererseits auf zahlreichen abgerechneten Tätigkeiten, die die objektiv gebotene Konzentration und Beschleunigung der Mandatswahrnehmung in grober Weise vermissen lassen.
(1) Die Zeittaktklausel (Nr. 1 Satz 2 Honorarvereinbarung) verstößt gegen § 9 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AGBG (jetzt § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB), weil sie strukturell geeignet ist, das dem Schuldrecht im allgemeinen und dem Dienstvertragsrecht im besonderen zugrunde liegende Prinzip der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung (Äquivalenzprinzip) empfindlich zu verletzen, wodurch der Gegner des Formular-Verwenders (künftig Verwendungsgegner genannt) unangemessen benachteiligt wird (zur Anwendung des AGB-Gesetzes auf vorformulierte Nebenabreden in Honorarvereinbarungen vgl. Bunte NJW 1981, 2657, 2658; Hartmann, KostenG, 34. Aufl., § 3 Rn. 55; Gerold/Schmidt/v.Eicken/Madert, BRAGO, 15. Aufl., § 3 Rn. 5 Stichw. "Honorarscheine"; Mayer/Kroiß-Traubel, RVG, § 4 Rn. 56; Mayer, AGB-Kontrolle und Vergütungsvereinbarung, AnwBl. 2006, 168, 169).
(a) Die Parteien haben durch die gemäß § 8 AGBG (jetzt § 307 Abs. 3 BGB) keiner Inhaltskontrolle unterliegende Preisabrede vereinbart (Nr. 1 Sätze 1 und 3 Honorarvereinbarung), dass der Zeitaufwand des Klägers mit 450 DM/Std (230,08 EUR/Std) vergütet werden soll. Damit ist das maßgebliche Äquivalenzverhältnis von voller Leistung und Gegenleistung (der gerichtlichen Inhaltskontrolle entzogen) privatautonom bestimmt. Daraus folgt gleichzeitig, dass der Wert eines Zeitaufwands, der nur den Bruchteil einer Stunde ausmacht, auch nur dem entsprechenden Bruchteil der Stundenvergütung entspricht.
(b) Von dieser vertraglich vorausgesetzten Äquivalenz weicht die Zeittaktklausel in ganz erheblicher Weise ab. Sie ist nämlich geeignet, die ausbedungene vollwertige Leistung, wie sie der Mandant nach Gegenstand und Zweck des Vertrages erwarten darf, unangemessen zu verkürzen. Sie unterliegt deshalb als Preisnebenabrede, der keine Leistung des Verwenders im Interesse des Verwendungsgegners entspricht, der Inhaltskontrolle (vgl. nur BGH NJW 1987, 1931, 1935 sub B.I.1 m.w.N.; Palandt/Heinrichs, BGB, 65. Aufl., § 307 Rn. 762 m.w.N). Die Unangemessenheit der Zeittaktklausel ergibt sich aus folgenden Umständen:
(aa) Nach ihr ist nicht nur jede Tätigkeit des Klägers, die etwa nur wenige Minuten oder gar auch nur Sekunden in Anspruch nimmt (z. B. ein kurzes Telefongespräch, Personalanweisungen, kurze Rückfragen, das Lesen einfacher und kurzer Texte), im Zeittakt von jeweils 15 Minuten zu vergüten, sondern auch jede länger andauernde Tätigkeit, die den jeweiligen Zeitabschnitt von 15 Minuten auch nur um Sekunden überschreitet, und zwar nicht beschränkt auf eine einmalige Anwendung z. B. am Ende eines Arbeitstages, sondern gerichtet auf die stetige Anwendung auch mehrmals täglich.
(bb) Der Senat braucht im Streitfall nicht zu entscheiden, ob etwa, wie das bei der so genannten anwaltlichen Hot-Line-Beratung üblich ist (vgl. BGH NJW 2003, 819, 821), nur eine minutengerechte Abrechnung angemessen ist oder ob mit Blick darauf, dass der Rechtsanwalt z.B. bei der Entgegennahme eines auch nur kurzen Ferngesprächs aus seinem aktuellen Gedankenfluss und Arbeitsrhythmus herausgerissen wird und eine gewisse Zeit benötigt, um die unterbrochene Arbeit konzentriert fortsetzen zu können, formularmäßig ein angemessener Zeitzuschlag vereinbart werden darf (vgl. dazu Kuhla/Hüttenbrink, Verwaltungsprozess, 3. Auflage, Abschn. G, Stichw. "Honorarvereinbarung/Zeithonorar" Rn. 145). Dem Senat erscheint zweifelhaft, ob solche (meist unvermeidbaren) Zeitverluste überhaupt formularmäßig zu Lasten der an der Unterbrechung beteiligten Mandanten abgerechnet werden können. Näher liegt es, dass sie wegen ihres Allgemeincharakters kalkulatorisch über die Stundensätze erwirtschaftet werden müssen (vgl. dazu Kilian AnwBl 2004, 688, 689f, der auf der Grundlage US-amerikanischer Untersuchungen darauf hinweist, dass im Durchschnitt zwei abrechnungsfähigen Stunden ein effektiver Aufwand von drei Zeitstunden entspricht). Einer abschließenden Entscheidung dieser Rechtsfrage bedarf es indes nicht, weil jedenfalls ein 15-minütiger Zeittakt, wie er hier vorformuliert vereinbart worden ist, evident zu einer Benachteiligung des Mandanten führt. Denn z. B. schon die Entgegennahme oder Führung von vier kurzen Ferngesprächen/Tag (mit durchschnittlich 15 Sek/Gespräch) würde auf der Grundlage der Zeittaktklausel zur Abrechnung eines Stundenhonorars von 450 DM (230,08 EUR) statt eines tatsächlich insgesamt nur verdienten Minutenhonorars von 7,50 DM (3,87 EUR) führen. Es liegt auf der Hand, dass es sich dabei nicht mehr um eine angemessene Kompensation handelt. Dabei ist ferner zu berücksichtigen, dass die Zeittaktklausel ja nicht nur bei den in Rede stehenden kurzen Arbeitsunterbrechungen zur Anwendung kommt, sondern bei jeder beliebigen (auch längere Zeit dauernden) Tätigkeit, die vor dem Ablauf eines Zeittaktes von 15 Minuten endet oder aus beliebigen (überwiegend sogar steuerbaren) Anlässen (z. B. Bearbeitung anderer Mandate, Terminswahrnehmungen, Pausen, private Tätigkeiten, Beendigung des Arbeitstags) unterbrochen wird. Dadurch entfaltet die Zeittaktklausel, strukturell einen erheblichen Kumulationseffekt.
(c) Die Zeittaktklausel kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass eine Abrechnung nach kürzeren Zeitabschnitten zu einem unzumutbaren Arbeitsaufwand des Rechtsanwalts bei der Zeiterfassung führt. Der Aufwand bei der Zeiterfassung hängt mit Blick auf die seit langem verfügbaren und deshalb auch zum Einsatz zu bringenden modernen Zeiterfassungssysteme nicht von der Länge des Zeitabschnitts ab (vgl. dazu schon Knief, Das Preis-/Leistungsverhältnis der anwaltlichen Dienstleistungen - eine Auseinandersetzung mit der Zeitgebühr, AnwBl. 1989, 258; ebs. Gerold/Schmidt/v. Eicken/Madert, aaO, § 3 Rn. 9, Stichw. "Vereinbarung von Stundenhonoraren"; vgl. dazu auch Hartung/Römermann, RVG, § 4 Rn. 67 und Hartmann, KostenG, 35. Aufl., § 4 RVG Rn. 25).
(d) Rechtsfolge der unangemessenen Klausel ist ihre Nichtigkeit, § 9 Abs. 1 AGBG (jetzt § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB). Mit Blick auf das im Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen geltende Verbot der geltungserhaltenden Reduktion (vgl. nur Palandt/Heinrichs, aaO, vor § 307 Rn. 8 m.w.N.), kann sie auch nicht mit einem zulässigen Inhalt aufrechterhalten bleiben mit der Folge, dass der Kläger seine Abrechnungen zumindest minutengenau zu erteilen hatte. Weil das nicht geschehen ist, kann grundsätzlich nur der Zeitaufwand vergütet werden, dessen Erfassung mit Sicherheit von der Zeittaktklausel nicht beeinflusst ist. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob der Kläger sie textgetreu angewendet hat; maßgeblich ist nur der durch sie eröffnete unangemessene Anwendungsspielraum.
(e) Für die hier zu untersuchende Frage nach der wissentlichen Aufblähung des Zeitaufwands ist wesentlich, dass der Kläger die Zeittaktklausel tatsächlich auch in hohem Ausmaß zu Lasten des Beklagten ausgenutzt hat. Von insgesamt 167 abgerechneten Zeittakten sind 115 im Zeittakt von 15 Minuten abgerechnet worden. Davon entfallen in feststellbarer Weise 52 auf den Komplex "N SC". Zu Lasten des Beklagten konnte bei einem 15-minütigen Zeittakt potenziell eine aufwandslose Zeit von insgesamt (115 x 14 Min.) 1.610 Minuten (26:50 Std) abgerechnet werden, im Komplex "N SC" (52 x 14 Min) 728 Minuten (12:08 Std). In den übrigen, überwiegend zu Mandatsbeginn liegenden 52 Fällen hat der Kläger (von der Vereinbarung abweichend) zwar nur nach einem 10-minütigen Zeittakt abgerechnet, wovon in feststellbarer Weise 16 Fälle auf den Komplex "N SC" entfallen. Ein solcher Zeittakt ist aber nach den vorstehenden Erwägungen immer noch unangemessen lang. Zu Lasten des Beklagten konnte bei einem 10-minütigen Zeittakt potenziell eine aufwandslose Zeit von (52 x 9 Min.) 468 Minuten (7:48 Std) abgerechnet werden, wovon auf den Komplex "N SC" (16 x 9 Min) 144 Min (2:24 Std) entfallen. Das entspricht während der rund elfmonatigen Mandatsbearbeitung einem potenziell aufwandslosen Zeithonorar in Höhe von insgesamt (34:38 Std x 450 DM/Std) 15.585 DM (7.968,48 EUR) zzgl. der gesetzlichen Mehrwertsteuer, also 18.078,60 DM (9.243,44 EUR). Davon entfällt allein auf den Komplex "N SC" ein potenziell aufwandsloses Zeithonorar von (14:32 Std x 450 DM/Std) 6.540 DM (3.343,85 EUR) zzgl. der gesetzlichen Mehrwertsteuer, also 7.586,40 DM (3.878,86 EUR). ...