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VerfGH Berlin Beschluss vom 20.06.2012 - 181/10 - Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Nichtberücksichtigung von entscheidungserheblichem Vortrag bei Parkverstoß in Feuerwehrzufahrt

VerfGH Berlin v. 20.06.2012: Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Nichtberücksichtigung von entscheidungserheblichem Vortrag bei Parkverstoß in Feuerwehrzufahrt


Der Verfassungsgerichshof Berlin (Beschluss vom 20.06.2012 - 181/10) hat entschieden:
Wendet der Betroffene gegen einen Kostenbescheid nach § 25a StVG ein, dem eingestellten Bußgeldverfahren habe gar keine Ordnungswidrigkeit zugrundegelegen - hier: unzureichende Kennzeichnung einer Feuerwehrzufahrt -, muss sich das Amtsgericht damit auseinandersetzen, sofern der Betroffene zu dem Einwand nicht schon zuvor Gelegenheit hatte.


Siehe auch Feuerwehrzufahrt


Gründe:

I.

Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen einen Kostenbescheid nach § 25a des Straßenverkehrsgesetzes - StVG - und die Zurückweisung seines Antrags auf gerichtliche Entscheidung durch das Amtsgericht Tiergarten.

Der Polizeipräsident in Berlin leitete gegen den Beschwerdeführer wegen des Vorwurfs, am 27. Oktober 2009 um 9:07 Uhr vor einer amtlich gekennzeichneten Feuerwehrzufahrt geparkt zu haben, ein Bußgeldverfahren ein. Nach Aktenlage ist sodann eine Verwarnung nebst Anhörungsbogen an den Beschwerdeführer per einfacher Post gesandt worden. Ob das Schreiben den Beschwerdeführer erreicht hat, lässt sich nicht feststellen. Nachdem der Beschwerdeführer nicht reagiert hatte, stellte die Behörde das Bußgeldverfahren wieder ein. Mit Kostenbescheid vom 12. Februar 2010 legte sie ihm als Fahrzeughalter die Kosten des Verfahrens in Höhe von 18,50 Euro mit der Begründung auf, die Feststellung des Führers des Kraftfahrzeugs, der den Verstoß begangen habe, sei nicht vor Eintritt der Verfolgungsverjährung möglich gewesen oder hätte einen unangemessenen Aufwand erfordert.

Mit Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 6. März 2010 trug der Beschwerdeführer vor, sein Sohn habe das Fahrzeug nachts vor der Zuwegung zu einem für Kraftfahrzeuge nicht zugänglichen Boulespielfeld abgestellt. Eine Kennzeichnung als Feuerwehrzufahrt sei objektiv nicht wahrnehmbar gewesen. Erst nachdem sein Sohn im Laufe des Tages eine schriftliche Benachrichtigung am Fahrzeug vorgefunden habe, habe er mit viel Fantasie erkennen können, dass unter anderen Verkehrszeichen wohl einmal ein Schild „Feuerwehrzufahrt“ angebracht gewesen sei. Mit Aufklebern fast vollständig überklebt und zudem auch verwittert, sei dieses Schild schon tagsüber kaum zu erkennen. Bei Nacht und schwacher Beleuchtung sei eine Wahrnehmung objektiv nicht möglich. Bei Würdigung der Verhältnisse vor Ort sei ausgeschlossen, dass mit dem Fahrzeug eine Ordnungswidrigkeit begangen worden sei, da ein unlesbares Schild nicht die Vor-aussetzungen einer Kennzeichnung im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 5 StVO erfülle. Zum Beweis legte der Beschwerdeführer von seinem Sohn vor Ort gefertigte Lichtbilder vor und benannte diesen als Zeugen.

Das Amtsgericht Tiergarten, das zunächst nur den per Fax vorab übersandten Antrag des Beschwerdeführers ohne Anlagen erhalten hatte, bat den Polizeipräsidenten um Übersendung des Originals nebst Anlagen sowie um eine Stellungnahme; beides wurde dem Gericht übersandt. Mit Beschluss vom 27. Juli 2010 verwarf das Amtsgericht Tiergarten den Antrag des Beschwerdeführers „aus den weiterhin zutreffenden Gründen dieses Bescheides“ als unbegründet.

Mit Anhörungsrüge vom 6. August 2010 machte der Beschwerdeführer geltend, das Amtsgericht habe entscheidungserhebliches Vorbringen nicht berücksichtigt. Er habe substantiiert und unter Beweisantritt vorgetragen, dass kein Parkverstoß begangen worden sei. Das Gericht hätte diesem Vortrag und den Beweisanträgen nachgehen oder aber erläutern müssen, warum es dies für entbehrlich gehalten habe. Der Verweis auf die „weiterhin zutreffenden Gründe“ des Ausgangsbescheids werde den verfassungsrechtlichen Minimalanforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren nicht gerecht.

Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge durch Beschluss vom 7. Oktober 2010 mit der Begründung zurück, eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sei nach dem Akteninhalt nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer habe im gerichtlichen Verfahren umfangreich vorgetragen. Auch wenn das Gericht nicht ausdrücklich auf die Einwendungen eingegangen sei, könne daraus nicht geschlossen werden, dass es diese nicht berücksichtigt habe. Vielmehr habe sich das Gericht ausdrücklich der Wertung des Kostenbescheids angeschlossen, der zur Begründung ausführe, der Beschwerdeführer habe seinen Sohn nicht vor Eintritt der Verfolgungsverjährung als Fahrer angegeben, weshalb das Verfahren einzustellen und ein Kostenbescheid gegen den Halter zu erlassen gewesen sei.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 15 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verfassung von Berlin - VvB -.

Art. 15 Abs. 1 VvB sei verletzt, weil das Amtsgericht auf den für das Verfahren zentralen Vortrag, eine ordnungsgemäße Kennzeichnung als Feuerwehrzufahrt habe im maßgeblichen Zeitpunkt gefehlt, mit keinem Wort eingegangen sei. Die Kosten eines eingestellten Bußgeldverfahrens könnten einem Halter nach § 25a Abs. 1 StVG nur auferlegt werden, wenn zumindest eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür spreche, dass objektiv eine Ordnungswidrigkeit vorgelegen habe. Das sei hier nicht der Fall. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung müsse der Verkehrsteilnehmer eine für den ruhenden Verkehr getroffene Regelung durch Verkehrszeichen oder sonstige straßenverkehrsrechtliche Kennzeichnung nach dem Aussteigen durch Betrachten erfassen können. Im Antrag auf gerichtliche Entscheidung sei detailliert und unter Vorlage von Lichtbildern sowie der Benennung von Zeugen vorgetragen worden, dass die Kennzeichnung als Feuerwehrzufahrt nach den gegebenen Verhältnisse beim Aussteigen aus dem Fahrzeug nicht wahrnehmbar gewesen sei. Der Eindruck, dass dieser Vortrag nicht zur Kenntnis genommen worden sei, werde durch den Beschluss vom 7. Oktober 2010 verstärkt. Abgesehen davon, dass das Gericht die Gründe des Kostenbescheides unzutreffend wiedergegeben habe, lägen seine Ausführungen auch inhaltlich neben der Sache. Entscheidungserheblich sei allein gewesen, ob das Zeichen „Feuerwehrzufahrt“ in den frühen Morgenstunden des 27. Oktober 2009 für einen verständigen Durchschnittsfahrer lesbar gewesen sei. Ob es sich bei dem Fahrer um den Beschwerdeführer oder einen Dritten gehandelt habe, sei nach keiner denkbaren Betrachtungsweise von Belang.

Die angefochtenen Beschlüsse verletzten ferner das Willkürverbot des Art. 10 Abs. 1 VvB. Dem Begründungsfragment des Beschlusses vom 7. Oktober 2010 könne die - allerdings nur „verdunkelt vermittelte“ - Auffassung des Amtsgerichts entnommen werden, dass es für einen Kostenbescheid nach § 25a StVG entgegen dessen eindeutigen Wortlaut und der einhelligen Meinung und Rechtsprechung und Literatur keines Anfangsverdachts einer Ordnungswidrigkeit bedürfe. Danach könnten dem Halter auch die Kosten eines evident zu Unrecht einge-leiteten Bußgeldverfahrens auferlegt werden. Eine solche Auslegung von § 25a StVG sei willkürlich. Auch in prozessualer Hinsicht werde die Achtlosigkeit, mit der das Verfahren betrieben worden sei, verfassungsrechtlichen Minimalanforderungen nicht gerecht. Ferner habe das Amtsgericht die Tragweite und Bedeutung der von Art. 7 Abs. 1 VvB geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit verkannt; diese sei durch die Auferlegung einer Zahlungspflicht ohne einfachgesetzliche Grundlage verletzt.

Die Beteiligten haben Gelegenheit zur Äußerung erhalten.

II.

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, soweit sie zulässig ist.

1. a) Im Hinblick auf den aus § 49 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - folgenden Subsidiaritätsgrundsatz ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, soweit sich der Beschwerdeführer gegen den Kostenbescheid wendet. Insoweit werden keine Grundrechtsverletzungen geltend gemacht, die im gerichtlichen Verfahren nach § 25a Abs. 3 Satz 1 StVG i. V. m. § 62 Abs. 2 OWiG nicht korrigierbar gewesen wären (vgl. Beschluss vom 21. April 2009 - VerfGH 18/08 - Rn. 6 und vom 15. April 2011 - VerfGH 134/09 - Rn. 12; wie alle zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs unter www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de).

b) Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde ferner, soweit sie den die Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss des Amtsgerichts zum Gegenstand hat. Entscheidungen im Anhörungsrügeverfahren sind grundsätzlich nicht mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar. Denn sie lassen allenfalls eine bereits durch die Ausgangsentscheidung eingetretene Verletzung rechtlichen Gehörs fortbestehen, indem die Selbstkorrektur der Fachgerichte unterbleibt; dabei ist unerheblich, auf welche Begründung der Beschwerdeführer die behauptete Grundrechtsverletzung durch den die Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss stützt (Beschluss vom 30. Juni 2009 - VerfGH 5/09 - Rn. 2, vom 15. April 2011 - VerfGH 134/09 - Rn. 13 und vom 1. November 2011 - VerfGH 80/08 - Rn. 9; vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2007 - 2 BvR 746/07 -, juris Rn. 2 - 4).

2. Zulässig und begründet ist die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juli 2010 richtet. Dieser verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 15 Abs. 1 der Verfassung von Berlin - VvB).

a) Art. 15 Abs. 1 VvB garantiert - inhaltsgleich mit Art. 103 Abs. 1 GG - den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zum Sachverhalt und zur Rechtslage vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Dem Recht der Parteien, sich im Verfahren mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten, entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Zwar ist grundsätzlich ohne Weiteres davon auszugehen, dass ein Gericht dieser Pflicht genüge getan hat; denn die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt aber dann vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen oder Rechtsausführungen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen wurden. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn das Gericht zu einer Frage, die für das Verfahren nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts von zentraler Bedeutung ist, trotz entsprechenden Parteivortrags in den Entscheidungsgründen nicht Stellung nimmt (Beschluss vom 29. Mai 2012 - VerfGH 87/10 - m. w. N.; st. Rspr.).

So liegt es hier. Das Amtsgericht hat sich mit dem zentralen Einwand des Beschwerdeführers, es habe keine Verkehrsordnungswidrigkeit vorgelegen, da die Kennzeichnung der Feuerwehrzufahrt unzureichend gewesen sei, nicht erkennbar befasst. Der Hinweis auf die „weiterhin zutreffenden Gründe“ des Kostenbescheids lässt keine Auseinandersetzung mit diesem Einwand erkennen. Zum einen war die ausreichende Kennzeichnung der Feuerwehrzufahrt erstmals durch den Antrag auf gerichtliche Entscheidung in Frage gestellt worden, konnte also bei Erlass des Kostenbescheids keine Rolle gespielt haben. Zum anderen kann auch nicht angenommen werden, dass das Gericht mit dem Hinweis zum Ausdruck bringen wollte, es halte den Einwand des Beschwerdeführers für rechtlich unerheblich. Im Hinblick darauf, dass der Erlass eines Kostenbescheids nach herrschender Auffassung einen objektiven Halt- oder Parkverstoß voraussetzt (vgl. BR-Drucks. 371/82, S. 39; Beschluss vom 15. April 2011 - VerfGH 97/09 - Rn. 17; BayVerfGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 - Vf. 69-VI-08 - juris Rn. 21 sowie Schmehl, in: Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, 3. Aufl. 2006, § 25a StVG Anhang zu § 109a Rn. 20 m. w. N.), wäre nämlich eine Begründung zu erwarten gewesen, wenn das Amtsgericht hiervon abweichen wollte.

Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass das Gericht im Vorfeld der Entscheidung die vom Beschwerdeführer bei dem Polizeipräsidenten eingereichten Lichtbilder sowie eine Stellungnahme der Verwaltungsbehörde angefordert hatte.

b) Der angegriffene Beschluss beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht Tiergarten bei Berücksichtigung des Verteidigungsvorbringens des Beschwerdeführers zu einer für diesen günstigeren Entscheidung gelangt wäre.

c) Auf die von dem Beschwerdeführer geltend gemachte Verletzung weiterer Grundrechte kommt es danach nicht mehr an.

III.

Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG ist der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juli 2010 aufzuheben und die Sache in entsprechender Anwendung von § 95 Abs. 2 Halbsatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zurückzuverweisen.

Damit ist der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 7. Oktober 2010 gegenstandslos.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.

Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof abgeschlossen.