Das Verkehrslexikon

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OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 21.03.2012 - OVG 1 S 18.12 - Drogenscreening bei gelegentlichem Cannabiskonsum

OVG Berlin-Brandenburg v. 21.03.2012: Drogenscreening bei gelegentlichem Cannabiskonsum


Das OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 21.03.2012 - OVG 1 S 18.12) hat entschieden:
  1. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Anordnung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV zur Beibringung eines Eignungsgutachtens ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Anordnung maßgeblich.

  2. Ein rechtmäßig angeordnetes Gutachten muss auch dann beigebracht werden, wenn die zur Begutachtung Anlass gebenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nach der Anordnung im Verkehrszentralregister getilgt werden. Dies gilt auch dann, wenn die Tilgungsfrist vor Ablauf der Frist zur Beibringung des Gutachtens endet.

Gründe:

Die gemäß §§ 146 Abs. 4, 147 VwGO zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die für sofort vollziehbar erklärte Verfügung vom 13. Dezember 2011, mit der dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entzogen wurde, zu Unrecht stattgegeben. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts wird sich die Fahrerlaubnisentziehung im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtmäßig erweisen.

I.

Die Entziehung der Fahrerlaubnis wurde wie folgt begründet: Der Antragsteller habe am 14. Februar 2009 unter dem Einfluss von Cannabis (20,3 ng/ml Tetrahydrocannabinol [THC] und 117 ng/ml THC-Carbonsäure [THC-COOH]) ein Kraftfahrzeug geführt. Aufgrund der den Grenzwert von 75 ng/ml übersteigenden THC-COOH-Konzentration sei von einem gelegentlichen Cannabiskonsum auszugehen. Im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges belege der festgestellte THC-Wert, dass der Antragsteller gemäß den Vorgaben in Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) grundsätzlich als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeuges anzusehen sei. In Anbetracht des seit der Rauschfahrt verstrichenen Zeitraums habe die Fahrerlaubnisbehörde jedoch nicht mehr zwingend von einem aktuell bestehenden Eignungsmangel ausgehen können. Deshalb sei der Antragsteller unter dem 22. September 2011 gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV aufgefordert worden, ein medizinisch-psychologisches Gutachten bis zum 1. November 2011 vorzulegen. Dem sei der Antragsteller nicht nachgekommen. Deshalb sei gemäß § 11 Abs. 8 FeV i.V.m. § 46 Abs. 3 FeV auf seine fehlende Fahreignung zu schließen und die Fahrerlaubnis gemäß § 3 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV zu entziehen.

Das Verwaltungsgericht hat dem vorläufigen Rechtsschutzantrag mit dem angegriffenen Beschluss stattgegeben. Das Gericht hat offen gelassen, ob die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Eignungsgutachtens im vorliegenden Fall auf § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV gestützt werden könne oder § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV einschlägig sei. Jedenfalls könne dem Antragsteller die unter dem Einfluss von Cannabis am 14. Februar 2009 stattgefundene und gemäß § 24a Abs. 2 StVG u.a. mit einem Bußgeld geahndete Verkehrsteilnahme, für fahrerlaubnisrechtliche Maßnahmen entsprechend § 29 Abs. 8 Abs. 1 Satz 1 StVG nicht mehr vorgehalten werden, denn die Tat sei vor dem Zeitpunkt, an dem das Gutachten vorzulegen war, aus dem Verkehrszentralregister getilgt. Daher habe der am 1. November 2011 eingetretene fruchtlose Ablauf der in der Gutachtenanordnung bestimmten Frist nicht mehr die Fiktion der Ungeeignetheit auslösen können.


II.

Das für die Prüfung des Senats maßgebliche Beschwerdevorbringen (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigt es, den Beschluss zu ändern und die vom Antragsteller begehrte Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs abzulehnen. Die Entziehung der Fahrerlaubnis stellt sich nach der im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig dar, weshalb die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO anzustellende Abwägung der widerstreitenden Interessen zu Lasten des Antragstellers ausfällt.

1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG in Verbindung mit § 46 Abs. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach der Anlage 4 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Unter welchen Umständen der Betäubungsmittelkonsum zur Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen führt, wird in Nr. 9 der Anlage 4 näher bestimmt. Bei gelegentlicher Einnahme von Cannabis besteht die Fahreignung (nur) dann, wenn der Fahrerlaubnisinhaber zwischen dem Drogenkonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeugs trennen kann (Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV). Letzteres war hier am 14. Februar 2009 nicht der Fall. Aufgrund der bei dem Antragsteller an diesem Tag festgestellten hohen THC-Carbonsäure-Konzentration ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. nur Beschluss vom 16. Juni 2009 - OVG 1 S 17.09 - Blutalkohol 46, 356, juris Rn. 5) von einem gelegentlichen Cannabiskonsum auszugehen; dies ist ebenfalls nicht streitig.

2. Nachdem wegen der seit der Rauschfahrt verstrichenen Zeit Zweifel an einer noch bestehenden Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen bestanden und dies folglich aufzuklären war (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 C 25.04 - NJW 2005, 3081, zit. nach juris Rn. 18 und 22 ff.), hatte die Behörde den Antragsteller nach § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV dazu anzuhalten, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, konnte sie sich hierbei nicht auf § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV stützen, denn diese Vorschrift wird bei Vorliegen einer lediglich gelegentlichen Cannabiseinnahme durch die für diesen Fall in § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV getroffene spezielle Regelung verdrängt (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2005, a.a.O. Rn. 21; Bayerischer VGH, Beschluss vom 29. August 2002 - 11 CS 02.1606 - juris Rn. 18; Sächsisches OVG, Beschluss vom 8. November 2001 - 3 BS 136/01 - DÖV 2002, 577, juris Rn. 3 ff.). Die Voraussetzungen von § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV, wonach die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden kann, wenn eine gelegentliche Einnahme von Cannabis vorliegt und weitere Tatsachen, wie hier die Teilnahme am Straßenverkehr unter Cannabiseinfluss, Zweifel an der Fahreignung begründen, sind im vorliegenden Fall erfüllt; dies gilt insbesondere, weil die Behörde die Rauschfahrt des Antragstellers zum maßgeblichen Zeitpunkt der Gutachtenanordnung vom 22. September 2011 noch berücksichtigen konnte.

Zwar dürfen gemäß § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen für die Zwecke des § 28 Abs. 2 StVG nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden, wenn eine Eintragung über eine gerichtliche Entscheidung im Verkehrszentralregister getilgt ist; entsprechendes gilt bei einer verwaltungsbehördlichen Bußgeldentscheidung. Da die am 27. Oktober 2009 rechtskräftig gewordene Bußgeldentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 3 StVG mit Ablauf des 27. Oktober 2011 aus dem Verkehrszentralregister zu tilgen war, hätte die Fahrerlaubnisbehörde die Rauschfahrt des Antragstellers nach diesem Datum nicht mehr zum Anlass für eine Gutachtenanordnung nehmen dürfen. Hier war die Anordnung jedoch bereits unter dem 22. September 2011 ergangen. Dass die sich aus § 29 StVG ergebende Tilgungsfrist vor dem Ende der Beibringungsfrist am 1. November 2011 abgelaufen war, ist - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - unschädlich, da nach Maßgabe des materiellen Rechts auf den Zeitpunkt der Gutachtenanordnung abzustellen ist.

8 Zum Zeitpunkt der Gutachtenanordnung lagen die dafür erforderlichen Voraussetzungen vor; nach der Rauschfahrt vom 14. Februar 2009 stand die Ungeeignetheit des Antragstellers fest, und von einer Wiedererlangung der Kraftfahreignung kann regelmäßig erst nach Vollziehung eines entsprechenden Einstellungswandels ausgegangen werden, der durch medizinisch-psychologische Begutachtung nachzuweisen ist. Wenn freilich zum Zeitpunkt der Anordnung - wie hier - ein Eignungsnachweis erforderlich war, um mögliche Gefahren für die Sicherheit des Straßenverkehrs auszuschließen, so kann dieses Bedürfnis nicht durch nachträglich eintretende Umstände, die diese Gefahren nicht beseitigen, nicht wieder entfallen (ebenso zur vergleichbaren Problematik im Zusammenhang mit § 13 Nr. 2 Buchst. b FeV: OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 13. Februar 2007 - 1 M 13/07 - juris Rn. 7, mit zustimmender Anmerkung von Geiger, SVR 2007, 354 f.; Sächsisches OVG, Beschlüsse vom 24. Juli 2008 - 3 B 18/08 - und vom 13. Oktober 2009 - 3 B 314/09 - jeweils juris Rn. 5; Senatsbeschluss vom 18. Januar 2011 - OVG 1 S 233.10 - Abdruck S. 3 f.; a.A. die Spruchpraxis des Bayerischen VGH: vgl. Beschluss vom 22. August 2011 - 11 ZB 10.2620 - juris Rn. 29). Diese Auslegung entspricht auch deswegen der Systematik des materiellen Rechts, weil die Fahrerlaubnisbehörde aus der Nichtbefolgung einer rechtmäßig angeordneten Begutachtung gemäß § 11 Abs. 8 in Verbindung mit § 46 Abs. 3 FeV zwingend auf die mangelnde Fahreignung schließen muss und in Folge dessen die Fahrerlaubnis zu entziehen hat (vgl. nur VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24. Januar 2012 - 10 S 3175/11 - juris Rn. 24 m.w.N.). § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV beruht auf dem Rechtsgedanken, dass bei grundloser Verweigerung einer berechtigterweise erforderten Begutachtung die Vermutung begründet, dass der Fahrerlaubnisinhaber einen ihm bekannten Eignungsmangel verbergen wolle; insofern muss ein solcher Eignungsmangel zum Zeitpunkt der Gutachtenanordnung als nachgewiesen gelten.

Nach alledem dürfte sich vorliegend der aus dem fruchtlosen Ablauf der Vorlagefrist gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV gezogene Schluss der Fahrerlaubnisbehörde im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erweisen, dass der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Da der Antragsteller die ihm eingeräumte Möglichkeit nicht genutzt hat, seine (ggf. wiedererlangte) Fahreignung nachzuweisen, gebietet es im Übrigen auch der im Zweifel vorrangige Schutz der Verkehrssicherheit, dem öffentlichen Vollziehungsinteresse gegenüber dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers den Vorrang einzuräumen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).