Das Verkehrslexikon

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OVG Münster Beschluss vom 02.10.2012 - 16 B 1116/12 - Tattagsprinzip bei der Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Punktsystem

OVG Münster v. 02.10.2012: Zum Tattagsprinzip bei der Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Punktsystem


Das OVG Münster (Beschluss vom 02.10.2012 - 16 B 1116/12) hat entschieden:
Für die Beantwortung der Frage, wann sich 18 Punkte im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG ergeben haben, kommt es wiederum auf den Tag der Begehung der letzten zum Erreichen dieser Punkteschwelle führenden Tat und nicht auf den Zeitpunkt deren rechtskräftiger Ahndung an.


Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung das Oberverwaltungsgericht beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), zieht die Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses nicht erfolgreich in Zweifel.

Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG seien erfüllt. Mit dem Geschwindigkeitsverstoß vom 12. März 2012 hätten sich zu Lasten des Antragstellers 18 Punkte ergeben. Von diesem Punktestand sei ungeachtet dessen auszugehen gewesen, dass der den Geschwindigkeitsverstoß ahndende Bußgeldbescheid erst am 24. Mai 2012 rechtskräftig geworden und zu diesem Zeitpunkt der Punktestand des Antragstellers schon wieder unterhalb der Grenze von 18 Punkten gelegen habe. Denn die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG normierte unwiderlegliche Vermutung der Fahrungeeignetheit werde bereits durch die Begehung einer zum Erreichen von 18 Punkten führenden Zuwiderhandlung und nicht erst mit dem Eintritt der Rechtskraft der die Zuwiderhandlung sanktionierenden Entscheidung ausgelöst (sog. Tattagprinzip).

Die hiergegen gerichtete Kritik der Beschwerde dringt nicht durch. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass einem Fahrerlaubnisinhaber, zu dessen Lasten sich im Verkehrszentralregister 18 (oder mehr) Punkte ergeben haben, die Fahrerlaubnis zu entziehen ist, und zwar unabhängig von später - vor oder nach Erlass der Entziehungsverfügung - eintretenden Punktetilgungen.
Siehe BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 - 3 C 21.07 -, juris, Rdnr. 9 (= BVerwGE 132, 57).
Für die Beantwortung der Frage, wann sich 18 Punkte im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG ergeben haben, kommt es wiederum auf den Tag der Begehung der letzten zum Erreichen dieser Punkteschwelle führenden Tat und nicht auf den Zeitpunkt deren rechtskräftiger Ahndung an. Dies folgt aus den weiteren Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. September 2008
- 3 C 3.07 -, juris (= BVerwGE 132, 48), und - 3 C 34.07 -, juris (= DAR 2009, 104 [nur Leitsatz]),
die unmittelbar zwar nur die Geltung des sog. Tattagprinzips bei der Anwendung von § 4 Abs. 4 StVG betreffen, gleichwohl jedoch Ausführungen enthalten, aus denen sich ableiten lässt, dass im Rahmen von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG ebenfalls das Tattagprinzip zugrunde zu legen ist.
So bereits OVG NRW, Beschluss vom 27. Dezember 2011 - 16 B 1500/11 - unter Hinweis auf Bay. VGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 - 11 CS 10.377 -, juris, Rdnr. 18 ff. (= ZfSch 2010, 597), und Urteil vom 19. Dezember 2011 - 11 B 11.1848 -, juris, Rdnr. 26 ff.; Sächs. OVG, Beschluss 25. Juni 2010 - 3 B 65/10 -, juris, Rdnr. 4 (= DAR 2010, 534); VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 7. Dezember 2010 - 10 S 2053/10 -, juris, Rdnr. 4 ff. (= DAR 2011, 166), und vom 10. Mai 2011 - 10 S 137/11 -, juris, Rdnr. 4 (= NJW 2011, 2456); Dauer, in: Hentschel/König/ Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. 2011, § 4 StVG Rdnr. 24; ders, DAR 2009, 49; Janker, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 2012, § 4 StVG Rdnr. 3a.
Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Auffassung, bei der Anwendung des § 4 Abs. 4 StVG sei auf den Tattag abzustellen, wesentlich mit Sinn und Zweck der Regelungen über das Punktsystem begründet und dabei u. a. darauf verwiesen, dass ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Rechtskraft den Betroffenen dazu verleiten könne, offensichtlich aussichtslose Rechtmittel einzulegen, um den Eintritt der Rechtskraft hinauszuzögern und sich dadurch die Möglichkeit einer Punktereduzierung zu erhalten. Der Gesetzgeber habe aber gerade auch die Vermeidung von Verfahrensverzögerungen im Blick gehabt. Dies werde durch die Begründung zu der Bestimmung des § 2a Abs. 2 Satz 1 StVG verdeutlicht, welche die Maßnahmen regele, die die Fahrerlaubnisbehörde bei Verkehrsverstößen des Inhabers eines Führerscheins auf Probe zu treffen habe. Nach Satz 1 habe die Fahrerlaubnisbehörde die in den Nrn. 1 bis 3 vorgesehenen Maßnahmen gegen den Inhaber einer Fahrerlaubnis, der in der Probezeit eine nach § 28 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 StVG in das Verkehrszentralregister einzutragende Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen habe, auch dann zu ergreifen, wenn die Probezeit zwischenzeitlich abgelaufen sei. In der Gesetzesbegründung heiße es dazu, dass deshalb nicht auf den Tag der Rechtskraft der Entscheidung oder der Eintragung in das Verkehrszentralregister abgestellt werde, weil ansonsten zu befürchten sei, dass viele Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren von den Betroffenen bewusst verzögert würden, um vor einer Entscheidung bzw. Eintragung das Ende der Probezeit zu erreichen (VkBl. 1986 S. 354, 364).
Vgl. BVerwG, Urteile 25. September 2008 - 3 C 3.07 -, a. a. O., Rdnr. 35, und - 3 C 34.07 -, a. a. O., Rdnr. 33.
Dieser Gedanke ist auf den hier maßgeblichen Zusammenhang ohne Weiteres übertragbar. Denn auch insoweit besteht die Gefahr, dass betroffene Fahrerlaubnisinhaber Rechtmittel aus rein taktischen Überlegungen einlegen, um die Rechtskraft der die Tat ahndenden Entscheidung hinauszuzögern und so in den Genuss der Tilgungsreife zu kommen. Damit würde die gesetzliche Intention konterkariert, Personen, die eine solche Vielzahl von Verkehrsverstößen begangen haben, dass diese in der Summe trotz aller vorgeschalteten Warnungen und Hilfestellungen zum Erreichen (oder Überschreiten) von18 Punkten führen, und dadurch gravierende Defizite dokumentieren, die mit dem Mehrfachtäter- Punktsystem sanktioniert werden sollen, rasch und effektiv von der weiteren Teilnahme am Kraftfahrverkehr auszuschließen. Dass die Fahrerlaubnisbehörde nach dem Willen des Gesetzgebers möglichst schnell handeln und zu einem schnellen Handeln auch in der Lage sein soll, zeigt sich nicht zuletzt in § 4 Abs. 7 Satz 2 StVG. Danach ist eine auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis kraft Gesetzes für sofort vollziehbar erklärt, was bedeutet, dass zur unmittelbaren Umsetzung der Entziehungsverfügung anders als im Regelfall einer Fahrerlaubnisentziehung die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht erforderlich ist.
Dazu eingehend VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7. Dezember 2010 - 10 S 2053/10 -, a. a. O., Rdnr. 8 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch OVG NRW, Beschluss vom 24. Mai 2006 - 16 B 1093/05 -, juris, Rdnr. 9 (= NWVBl. 2007, 24).
Hinzu kommt, dass nach der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts zwischen der Formulierung des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG, wonach sich eine bestimmte Punktzahl "ergeben" haben muss, und dem in § 4 Abs. 4 bis 6 StVG verwendeten Begriff des "Erreichens" von Punkten kein sachlicher Unterschied besteht, sondern der Gesetzgeber die verschiedenen Begrifflichkeiten synonym genutzt hat.
Vgl. BVerwG, Urteile 25. September 2008 - 3 C 3.07 -, a. a. O., Rdnr. 29, und - 3 C 34.07 -, a. a. O., Rdnr. 27.
Ist das aber der Fall, lässt sich die Frage, wann sich Punkte "ergeben" bzw. sie "erreicht" werden, schon aus diesem Grunde innerhalb des gesamten § 4 StVG nur einheitlich und damit zwangsläufig im Sinne des nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für den Bereich des § 4 Abs. 4 StVG heranzuziehenden Tattagprinzips beantworten.
So ausdrücklich auch Bay. VGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 - 11 CS 10.377 -, a. a. O., Rdnr. 19, 21.
Der Anwendbarkeit des Tattagprinzips im Rahmen des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG steht schließlich - anders als die Beschwerde meint - nicht entgegen, dass den straßenverkehrsrechtlichen Maßnahmen, die nach § 4 Abs. 3 StVG gegenüber Mehrfachtätern zu ergreifen sind, nur rechtskräftig geahndete und erst insofern im Verkehrszentralregister eintragungsfähige Verkehrsverstöße zugrunde gelegt werden können.
Vgl. dazu näher BVerwG, Urteile 25. September 2008 - 3 C 3.07 -, a. a. O., Rdnr. 19 ff., und - 3 C 34.07 -, a. a. O., Rdnr. 17 ff.
Damit allein ist nichts darüber ausgesagt, welche Verkehrsverstöße bei der Ermittlung des von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG vorausgesetzten Punktestands zu berücksichtigen sind. Auch das Tattagprinzip verzichtet nämlich nicht auf die Rechtskraft der die jeweiligen Zuwiderhandlungen ahndenden Entscheidungen.
Vgl. BVerwG, Urteile 25. September 2008 - 3 C 3.07 -, a. a. O., Rdnr. 38, und - 3 C 34.07 -, a. a. O., Rdnr. 36.
Vielmehr ist nur nicht erforderlich, dass die Unanfechtbarkeit bereits zu dem nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG maßgeblichen Zeitpunkt eingetreten ist.
Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7. Dezember 2010 - 10 S 2053/10 -, a. a. O., Rdnr. 5; siehe auch Dauer, DAR 2009, 49, der von einer Art schwebender Unwirksamkeit der zum Zeitpunkt der Tat entstandenen Punkte spricht, solange noch keine rechtskräftige Ahndung der Tat erfolgt ist; darauf bezugnehmend Bay. VGH, Urteil vom 19. Dezember 2011 - 11 B 11.1848 -, a. a. O., Rdnr. 36.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 sowie 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).