Das Verkehrslexikon
Landgericht Coburg Urteil vom 13.07.2011 - 21 O 757/10 - Keine Aufsichtspflichtverletzung bei Augenblicksversagen wegen Sonnenblendung
LG Coburg v. 13.07.2011: Keine Aufsichtspflichtverletzung bei Augenblicksversagen wegen Sonnenblendung
Das Landgericht Coburg (Urteil vom 13.07.2011 - 21 O 757/10) hat entschieden:
Übersieht eine Mutter infolge Sonnenblendung kurzfristig ein herannahendes Kfz und macht eine leichte Vorwärtsbewegung, die ihr sechsjähriger Sohn als Zeichen zum Überqueren der Fahrbahn auffasst und losläuft, so stellt das Verhalten der Mutter nur ein leichtes Augenblicksversagen dar, das nicht zu einer Mithaftung für die Verletzung des Kindes führt.
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt die Feststellung, dass sie nach Schadensersatzleistungen für ihre Versicherungsnehmerin ... an den am 13.1.2001 geborenen Sohn der Beklagten aufgrund eines Verkehrsunfalles, für den die Klägerin dem Grund nach zu 100 % haftet, einen Ausgleich i. H. v. 50 % von der Beklagten als Gesamtschuldnerin verlangen kann.
Am ... gegen ... Uhr näherten sich die Klägerin und ihr damals 6 Jahre alter Sohn ... als Radfahrer auf der Straße ... in ... der B 173 in der Absicht, diese zu überqueren. Hierzu stiegen beide ab und blieben zunächst an der Einmündung stehen. In diesem Bereich ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der B 173 auf 50 km/h beschränkt. Die Beklagte blickte in beide Fahrtrichtungen um sicher zu stellen, dass sich keine Fahrzeuge näherten. Als sie annahm, die Straße gefahrlos überqueren zu können, bewegte sie sich ein Stück nach vorne um loszulaufen, bemerkte jedoch im letzten Moment aus Richtung Zeyern den Pkw der Versicherungsnehmerin der Klägerin, ... und blieb stehen. Ihr Sohn, der ihr Verhalten als Signal zum Überqueren der Straße aufgefasst hatte, rannte los und wurde von dem Pkw der ... erfasst, hochgeschleudert und kam auf dem Straßenbelag zum Liegen. Hierdurch erlitt er eine Gehirnblutung, ein Pneumothorax, eine Lungenkontusion und eine beidseitige Oberschenkelfraktur. Aufgrund des Unfallgeschehens leistete die Klägerin als Kfz.-Haftpflichtversicherung der Pkw-Fahrerin ... gegenüber dem Sohn der Beklagten bisher einen Vorschuss in Höhe von 50.000,00 € als Schadensersatz. Die abschließende Schadensregulierung steht noch aus. Aufgrund der schweren Kopfverletzungen des Kindes ist zukünftig mit weiteren Aufwendungen zu rechnen.
Die Klägerin meint, die Beklagte habe ihre Aufsichtspflicht gegenüber ihrem Sohn verletzt. Sie hätte das Kind beim Überqueren der stark befahrenen Bundesstraße an der Hand nehmen müssen um Fehlreaktionen zu verhindern. Auch sei sie verpflichtet gewesen, ihren Sohn anzuweisen, erst nach entsprechendem Zeichen loszulaufen. Stattdessen habe die Beklagte den auf mehrere Hundert Meter gut einsehbaren Verkehr selbst ohne die gebotene Aufmerksamkeit beobachtet und das Fahrzeug der ... zu spät erkannt. Bei Benutzung des in ca. 200 Meter Entfernung von der Unfallstelle gelegenen Fußgängerüberweges mit Lichtzeichenanlage hätte die Klägerin gefahrlos die Bundesstraße überqueren können und müssen. Auch wäre die Beklagte verpflichtet gewesen, ihren Sohn durch einen Helm zu schützen. Hierdurch wären die schweren Kopfverletzungen vermeidbar gewesen.
Die Klägerin beantragt,
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin jeweils 50 % der Leistungen zu erstatten und sie von zukünftigen Leistungen/Aufwendungen freizustellen, die der Klägerin aufgrund des Verkehrsunfalles vom ... gegen ... Uhr in ... an der Einmündung der Straße ... mit der B 173 entstanden sind und zukünftig entstehen, mit Ausnahme der Leistungen an Sozialversicherungsträger, solange und soweit bei diesen Sozialversicherungsträgern ein Familienprivileg besteht.
Die Beklagte beantragt
Klageabweisung.
Sie behauptet, ... sei schneller als erlaubt gefahren. Zudem sei sie abgelenkt gewesen und habe nicht sofort reagiert, als der Sohn der Beklagten für sie zu erkennen gewesen sei. Das Tragen eines Fahrradhelmes sei in der konkreten Unfallsituation nicht angezeigt gewesen, weil ihr Sohn – das Fahrrad schiebend – die Straße zu Fuß überquerte. Im Übrigen greife zu ihren Gunsten die Haftungserleichterung des § 1664 BGB, wonach sie nur für die Sorgfalt einzustehen habe, die sie in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflege. Im Interesse ihres Sohnes, ihn zur Selbständigkeit im Straßenverkehr zu erziehen, habe sie ihm die erforderlichen Freiräume gelassen. Ihre Anweisung, vor dem Erreichen der Bundesstraße vom Fahrrad abzusteigen und sich durch die Beobachtung des Verkehrs von der Gefahrlosigkeit der Überquerung zu überzeugen, sei ausreichend gewesen. Jedenfalls habe sie nicht damit rechnen müssen, dass sich ihr Sohn plötzlich in Bewegung setzen würde.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Feststellungsklage ist zulässig. Zwar kann ein Teil des Schadens (Vorschusszahlung) bereits von der Klägerin beziffert werden. Der Schaden befindet sich insgesamt jedoch noch in der Entwicklung, da der Heilungsprozess beim Sohn der Beklagten noch nicht abgeschlossen ist. In einem solchen Fall ist die Feststellungsklage insgesamt zulässig. Die Verpflichtung zur Erhebung einer möglichen Teilleistungsklage besteht nicht (Zöller, ZPO, 27. Aufl., Rdnr. 7 a zu § 256).
Die Klage ist jedoch unbegründet.
I.
Der Klägerin steht ein Ausgleichsanspruch gemäß § 426 Abs. 2 BGB gegen die Beklagte dem Grunde nach nicht zu, denn die Beklagte haftet ihrem Sohn ... gegenüber nicht gemäß § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 230 StGB aufgrund des Unfallgeschehens vom 15.10.2007.
Es kann dahinstehen, ob – wie die Beklagte behauptet – ... die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Unfallbereich überschritten bzw. zu spät reagiert hat. Selbst unter Zugrundelegung des eigenen Vortrags der Klägerin, sie sei ca. 40 km/h gefahren und habe nicht mehr bremsen können, wäre eine Einstandspflicht der Beklagten nicht begründet.
Im vorliegenden Fall käme eine Mithaftung der Beklagten gegenüber ihrem Sohn ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Aufsichtspflicht in Betracht. Hierfür wäre erforderlich, dass die Beklagte ihre Aufsichtspflicht grob fahrlässig verletzt hätte, da insoweit der Haftungsmaßstab des § 1664 BGB i. V. m. § 277 BGB zugrunde zu legen ist, wonach die Eltern bei der Ausübung der elterlichen Sorge dem Kind gegenüber nur für die Sorgfalt einzustehen haben, die sie in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegen. Gemäß § 277 BGB ist die Beklagte somit nur von der Haftung wegen grober Fahrlässigkeit nicht befreit.
Zwar ist umstritten, ob das Haftungsprivileg des § 1664 BGB Anwendung findet, wenn die Pflichtverletzung der Eltern in einer Verletzung ihrer Aufsichtspflicht liegt. Die überwiegende Ansicht vertritt jedoch die Auffassung, dass bereits der Wortlaut des § 1664 BGB, der keinen Ausschluss von Aufsichtspflichtverletzungen erkennen lässt, für eine Anwendung des Haftungsprivilegs spricht (OLG Karlsruhe NZV 08, 511, OLG Hamm NJW 1993, 542, Huber in Münchener Kommentar, BGB, 4. Aufl., § 1664 Rn. 11, 12, Palandt/Diederichsen, BGB, 70. Aufl., § 1664 Rn. 3). Eine Haftung käme daher im vorliegenden Fall nur dann in Betracht, wenn die Beklagte grob fahrlässig gehandelt hätte. Dies ist zu verneinen.
Allein der Umstand, dass die Beklagte es zugelassen hat, dass ihr Sohn an der Unfallstelle zu Fuß die B 173 überquerte, stellt kein fahrlässiges Verhalten dar. Es ist nicht zu beanstanden, dass Eltern ihre Kinder zu eigenverantwortlichem Verhalten im Straßenverkehr erziehen. An der Unfallstelle war nach dem eigenen Vortrag der Klägerin für die Beklagte die Sicht in beide Fahrtrichtungen der B 173 auf eine Strecke von 250 bzw. 400 Meter möglich und nicht durch Bewuchs o. ä. eingeschränkt. Zudem war die Höchstgeschwindigkeit für Kraftfahrzeuge auf 50 km/h begrenzt. Die Straße war zweispurig und ohne Hindernisse, wie beispielsweise Leitplanken, ausgestaltet, so dass ein zügiges Überqueren zu Fuß in wenigen Sekunden möglich war. Zudem hatte sich der Sohn der Beklagten, wie sie in ihrer informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, als geübter Radfahrer zuvor noch nie als unzuverlässig im Straßenverkehr erwiesen und galt für sie in Begleitung eines Erwachsenen als sicherer Verkehrsteilnehmer, so dass keinerlei Anhaltspunkte für die Beklagte bestanden, er könne in der konkreten Unfallsituation mit den Gegebenheiten überfordert sein. Aufgrund dieser Überlegungen war die Beklagte auch nicht verpflichtet, ca. 200 Meter entfernt von der Unfallstelle die Straße an dem beampelten Fußgängerüberweg zu überqueren oder ihren Sohn an der Hand über die Straße zu führen.
Allenfalls der Umstand, dass sich die Beklagte selbst sich bei der Einschätzung des Straßenverkehrs für den Bruchteil einer Sekunde irrte und den Pkw der Versicherungsnehmerin der Klägerin nicht wahrnahm, was zur Folge hatte, dass sie durch eine leichte Vorwärtsbewegung ihrem Sohn signalisierte, die Straße sei frei, könnte sich als fahrlässiges Verhalten der Beklagten darstellen. Allerdings ist diese Fehleinschätzung nicht als grobe Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt einzustufen. Die Beklagte hat angegeben, sie sei in der konkreten Situation durch die Sonne geblendet gewesen. Die von ihr beschriebenen Lichtverhältnisse werden durch die Lichtbilder in der polizeilichen Ermittlungsakte bestätigt. Es ist darauf deutlich zu erkennen, dass die Bundesstraße in Richtung der herrannahenden PKW-Führerin ... am Unfalltag teils in der Sonne, teils im – vom angrenzenden Bewuchs verursachten – Schatten lag. Auch habe sie (die Beklagte) das Fahrzeug der ... aufgrund seiner Farbe (helles Silber) bei den Lichtverhältnissen zur Unfallzeit nur eingeschränkt wahrnehmen können, da es sich optisch kaum vom Straßenbelag abhob. Unter Berücksichtigung des Gesamtbildes vom Unfallgeschehen kann daher das Verhalten der Beklagten allenfalls als Augenblicksversagen eingestuft werden, nicht jedoch als grob fahrlässiges Verhalten.
Schließlich vermag auch der Einwand der Klägerin, der Sohn der Beklagten habe keinen Helm getragen, eine Haftung der Beklagten nicht zu begründen. Es kann dahinstehen, ob zum Schutz der Gesundheit eines sechsjährigen Kindes eine Veranlassung der Eltern besteht, es zum Helmtragen im Straßenverkehr zu veranlassen. Jedenfalls besteht insoweit keine gesetzliche Vorschrift. Im vorliegenden Fall war der Sohn der Beklagten zudem in der konkreten Unfallsituation nicht als Radfahrer, sondern als Fußgänger, der sein Rad schob, unterwegs. Im Rahmen der Teilnahme am Straßenverkehr in dieser Eigenschaft ist eine Helmtragung – auch für Kinder – ohnehin nicht üblich.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 S. 1 u. 2 ZPO.