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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 20.06.1995 - 1 BvR 166/93 - Keine Notwendigkeit der Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung in zivilgerichtlichen Verfahren

BVerfG v. 20.06.1995: Keine Notwendigkeit der Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung in zivilgerichtlichen Verfahren und zur Weiterleitung fristgebundener Schriftsätze an das zuständige Gericht


Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 20.06.1995 - 1 BvR 166/93) hat entschieden:
  1. Die Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung ist für Urteile über zivilrechtliche Klagen von Verfassungs wegen - jedenfalls derzeit noch - nicht geboten.

    2. Ein Gericht, bei dem das Verfahren anhängig gewesen ist, ist verpflichtet, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Ist ein solcher Schriftsatz so zeitig eingereicht worden, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, ist der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Schriftsatz nicht rechtzeitig an das Rechtsmittelgericht gelangt.

Gründe:

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob zivilgerichtliche Urteile mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen sein müssen und ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wenn in einem Zivilprozess die Berufungsbegründung bei einem unzuständigen Gericht fristgerecht eingereicht, aber von dort nicht rechtzeitig an das zuständige Berufungsgericht weitergeleitet worden ist.


I.

Nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik wurde in den neuen Bundesländern mit Ausnahme Berlins die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit zunächst weiterhin durch die Kreis- und Bezirksgerichte ausgeübt (Art. 8 des Einigungsvertrages - EV - in Verbindung mit Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nummer 1 Buchst. a Abs. 1 Satz 1 des Vertrages). Die Kreisgerichte waren erstinstanzlich zuständig, soweit nach dem Gerichtsverfassungsgesetz eine Zuständigkeit der Amts- oder der Landgerichte besteht (EV, Anlage I, a.a.O., Nr. 1 Buchst. e Abs. 1). Die Bezirksgerichte waren für Berufungen gegen Urteile der Kreisgerichte zuständig (EV, Anlage I, a.a.O., Nr. 1 Buchst. h Abs. 1 Satz 1). Es war jedoch vorgesehen, dass die Länder die Gerichtsorganisation dem Gerichtsverfassungsgesetz anpassen (EV, Anlage I, a.a.O., Nr. 1 Buchst. a Abs. 2).

Das Land Sachsen-Anhalt hat dem mit dem Gesetz über die Organisation der ordentlichen Gerichte im Lande Sachsen-Anhalt (GerOrgG LSA) vom 24. August 1992 (GVBl. LSA S. 652) entsprochen. Mit Wirkung ab 1. September 1992 wurde danach ein Oberlandesgericht mit Sitz in Naumburg errichtet, dessen Bezirk das Gebiet des Landes Sachsen- Anhalt umfasst (§§ 1, 5 GerOrgG LSA); gleichzeitig wurden Amts- und Landgerichte errichtet, darunter das Landgericht Magdeburg (§ 2 Abs. 1, § 3 GerOrgG LSA).


II.

1. Die Beschwerdeführer beantragten im April 1992 beim Kreisgericht Schönebeck den Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der die Eintragung eines Widerspruchs im Grundbuch angeordnet werden sollte. Das Kreisgericht wies den Antrag durch Urteil als unbegründet ab. Den Streitwert setzte es auf 6.700 DM fest.

Gegen das am 28. Juli 1992 zugestellte Urteil legten die Beschwerdeführer am 26. August beim damals noch zuständigen Bezirksgericht Magdeburg Berufung ein. Die Berufungsschrift enthielt zwar die Berufungsanträge, aber noch keine Begründung. Die gesonderte, ebenfalls an das Bezirksgericht adressierte Berufungsbegründung ging ausweislich des Eingangsstempels am 1. September 1992 bei dem seit diesem Tage bestehenden und in den Räumen des vormaligen Bezirksgerichts tätigen Landgericht Magdeburg ein. Dem für das Berufungsverfahren inzwischen zuständig gewordenen Oberlandesgericht Naumburg wurde sie erst am 14. Dezember 1992 durch den Präsidenten des Berufsgerichtshofs für Rechtsanwaltssachen zugeleitet. Nach dessen Auskunft befand sie sich bei Unterlagen des Berufsgerichtshofs, die ihm - nach seiner Erinnerung im November 1992 - von der Geschäftsstelle des Landgerichts Magdeburg, die damals auch Geschäftsstelle des Berufsgerichtshofs war, übersandt worden waren.

2. a) Schon bevor die Berufungsbegründung beim Oberlandesgericht einging, hatte dieses die Berufung mit Beschluss vom 22. Oktober 1992 mit der Begründung als unzulässig verworfen, eine Berufungsbegründung sei nicht fristgerecht eingegangen.

Die Beschwerdeführer beantragten daraufhin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung. Unter Vorlage einer eidesstattlichen Erklärung des Prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt B. trugen sie vor, die Berufungsbegründung sei am 31. August 1992 geschrieben und an diesem oder am folgenden Tage von Rechtsanwalt B. persönlich in der Geschäftsstelle des Bezirksgerichts abgegeben worden. Anlass dafür sei gewesen, dass der 31. August 1992 der letzte Tag des Bestehens des Bezirksgerichts Magdeburg gewesen sei und Rechtsanwalt B., der bis zum Sommer 1991 dessen amtierender Präsident und Vizepräsident gewesen sei, noch mit ehemaligen Kollegen habe sprechen wollen. Es müsse sich um einen infolge des Umzugs der Senate und Geschäftsstellen herbeigeführten Irrläufer oder eine Falschabheftung handeln. Beides liege nicht im Verschuldensbereich der Berufungskläger.

b) Das Oberlandesgericht wies den Antrag zurück:

Die Fristversäumung sei nicht unverschuldet. Da der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführer eidesstattlich versichert habe, dass er die Berufungsbegründung beim Bezirksgericht entweder am 31. August oder am 1. September 1992 eingereicht habe, könne nicht festgestellt werden, dass diese fristgerecht beim zuständigen Gericht eingereicht worden sei. Wenn ein Rechtsanwalt einen fristgebundenen Schriftsatz bei einem unzuständigen Gericht einreiche, verstoße er gröblich gegen die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten. Er dürfe nicht darauf vertrauen, dass der Schriftsatz innerhalb der Frist beim zuständigen Gericht eingehe. Vielmehr trage er das Risiko einer unrichtigen Behandlung, eines mit erheblichem Zeitverlust eintretenden Irrlaufs und gegebenenfalls eines Verlusts. Mit Einreichung beim unzuständigen Gericht gehe die dem Anwalt obliegende Sorgfaltspflicht nicht auf die unzuständige Behörde über; eine Entlastung des Rechtsanwalts trete hierdurch nicht ein.

Dem Bevollmächtigten der Beschwerdeführer sei bekannt gewesen, dass das Bezirksgericht mit Ablauf des 31. August 1992 aufgehört habe zu existieren und die Zuständigkeit auf das Oberlandesgericht übergegangen sei. Selbst wenn man an die Sorgfaltspflichten eines Prozessbevollmächtigten im Falle einer grundsätzlichen Änderung der Gerichtsstruktur keine erhöhten Anforderungen stelle, sei die Einreichung beim unzuständigen Gericht schuldhaft gewesen.

3. a) Gegen diesen Beschluss erhoben die Beschwerdeführer eine Gegenvorstellung, zu deren Begründung sie ausführten:

Bis zum 31. August 1992 sei zuständiges Berufungsgericht das Bezirksgericht Magdeburg mit seinem auswärtigen Senat in Naumburg gewesen. Die Geschäftsstelle in Magdeburg sei ausdrücklich auch für Gerichtspost zuständig gewesen, die in den Geschäftsbereich des auswärtigen Senats (des Bezirksgerichts) gefallen sei. Auch nach dem 31. August 1992 habe die Geschäftsstelle diese Tätigkeit weitergeführt. Sie habe zunächst noch Post für das Oberlandesgericht angenommen und sei damit, zumindest für einen Außenstehenden, so tätig geworden, als wäre sie eine zunächst noch zuständige auswärtige Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts. Eine solche Übergangsregelung sei nicht ungewöhnlich. Es sei auch noch keine ordnungsgemäße Postanschrift des Oberlandesgerichts bekanntgegeben worden. Unter Beachtung der besonderen Situation, die durch die Einführung der neuen Gerichtsstruktur entstanden sei, müsse der Rechtsgedanke des § 9 Abs. 5 ArbGG angewendet werden. Hiernach hätte im angefochtenen Urteil ein Hinweis enthalten sein müssen, bei welcher Geschäftsstelle unter welcher Anschrift gegen dieses Urteil Rechtsmittel eingelegt werden könnte.

b) Das Oberlandesgericht wies die Gegenvorstellung mit Beschluss vom 15. März 1993 zurück und führte dazu aus:

Nach den eindeutigen Vorschriften der Zivilprozessordnung komme weder eine direkte noch eine indirekte Anwendung von § 9 Abs. 5 ArbGG in Betracht. Im übrigen habe die Änderung der Gerichtsorganisation zwar für alle Beteiligten erhebliche Probleme mit sich gebracht. Die Umstellung sei aber dadurch erleichtert worden, dass zunächst die auswärtigen Senate in Naumburg eingerichtet worden seien. Deren Anschrift sei bekannt gewesen. Sie sei seit 1. September 1992 die Anschrift des Oberlandesgerichts. All dies sei dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführer als ehemals amtierendem Präsidenten und Vizepräsidenten des Bezirksgerichts Magdeburg bekannt gewesen. Es brauche deshalb nicht näher darauf eingegangen zu werden, dass die gesetzliche Änderung der Gerichtsorganisation im Landtag beraten und verabschiedet worden sei und die anwaltlichen Berufsverbände hierauf im Vorfeld aufmerksam gemacht hätten. Wer einen fristgebundenen Schriftsatz wissentlich beim unzuständigen Gericht einreiche, handle zumindest dann schuldhaft, wenn er sich vor Ablauf der Frist nicht beim zuständigen Gericht von dem rechtzeitigen Eingang des Schriftsatzes vergewissere. Dies gelte besonders unter den Schwierigkeiten einer Umstellung der Gerichtsorganisation.

Bereits vor dieser Entscheidung hatte das Oberlandesgericht die Prozessbevollmächtigten darauf hingewiesen, dass die - inzwischen zu den Akten gelangte - Berufungsbegründung den Eingangsstempel des Landgerichts Magdeburg vom 1. September 1992 trage.


III.

Mit ihrer nach der Versagung der Wiedereinsetzung erhobenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Sie machen im wesentlichen geltend:

Die Geschäftsstelle des Bezirksgerichts Magdeburg sei auch noch nach dem 31. August 1992 für das Oberlandesgericht Naumburg tätig geworden. Die exakte postalische Anschrift des Oberlandesgerichts sei bis zum 31. August 1992 noch nicht bekannt gewesen. Nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung müsse auf einen solchen Fall der Rechtsgedanke des § 9 Abs. 5 ArbGG angewandt werden.

Im übrigen verstoße es gegen die Grundrechte auf rechtliches Gehör und Rechtsschutzgewährung, dass das Oberlandesgericht Verzögerungen bei einer Postbeförderung, die durch eine Geschäftsstelle des Gerichts vorzunehmen gewesen sei, den Beschwerdeführern zugerechnet habe. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verzögerung der Postbeförderung müsse auch auf einen solchen Fall angewendet werden.


IV.

1. Das Ministerium der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt hat mitgeteilt, dass nach eingeholten Auskünften die Geschäftsstelle für Berufungen in Zivilsachen des Landgerichts Magdeburg nach dem 31. August 1992 Gerichtspost für das Oberlandesgericht Naumburg entgegengenommen und weitergeleitet habe. Jedenfalls bis Mitte September 1992 seien Schriftsätze in oberlandesgerichtlichen Berufungssachen entgegengenommen, mit dem Eingangsstempel versehen und an das Oberlandesgericht weitergeleitet worden. Die Anschrift der (zunächst für das Bezirksgericht errichteten) auswärtigen Senate in Naumburg sei jedenfalls ab Juli 1992 regelmäßig mitgeteilt worden.

Von einer weiteren Stellungnahme hat das Ministerium abgesehen.

2. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat Äußerungen der Vorsitzenden von Zivilsenaten übermittelt, die auf deren Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung verwiesen und dazu näher Stellung genommen haben.



B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

I.

Die Beschwerdeführer haben hinsichtlich des Beschlusses über die Zurückweisung ihres Wiedereinsetzungsantrags, den sie ausdrücklich zum Gegenstand ihrer Verfassungsbeschwerde machen, die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG gewahrt.

Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde wird nicht davon berührt, dass die Beschwerdeführer die später ergangene Entscheidung über ihre Gegenvorstellung nicht mehr in die Verfassungsbeschwerde einbezogen haben; denn mit der Aufhebung der ablehnenden Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag wird die Zurückweisung der Gegenvorstellung durch das Oberlandesgericht gegenstandslos. Bei der sachlichen Prüfung sind allerdings auch die Gründe, auf die sich das Oberlandesgericht in der Entscheidung über die Gegenvorstellung gestützt hat, zu berücksichtigen.


II.

Soweit die Beschwerdeführer geltend machen, dass von Verfassungs wegen eine entsprechende Anwendung von § 9 Abs. 5 ArbGG geboten sei, ist zweifelhaft, ob sich dieses Vorbringen auf die Versagung der Wiedereinsetzung beziehen kann. Das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung hätte nach § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG zur Folge, dass die Einlegung des Rechtsmittels innerhalb eines Jahres seit der Zustellung der Entscheidung zulässig ist. Wäre diese Regelung auch auf die Einreichung der Rechtsmittelbegründung anzuwenden, um die es im vorliegenden Fall geht, so wäre die Frist für die Berufungsbegründung noch nicht abgelaufen gewesen und daher nicht die Versagung der Wiedereinsetzung, sondern die vorausgegangene Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Verwerfung der Berufung der Sache nach Gegenstand dieses Beschwerdeangriffs.

Auch insoweit ist jedoch die Verfassungsbeschwerde zulässig. Die Beschwerdeführer haben zwar nur den Beschluss über die Versagung der Wiedereinsetzung ausdrücklich als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde bezeichnet. Aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde ergibt sich jedoch im Zusammenhang mit dem Vorbringen zu § 9 Abs. 5 ArbGG hinreichend deutlich, dass sich die Beschwerdeführer unter diesem Gesichtspunkt auch gegen den Beschluss über die Verwerfung ihres Rechtsmittels wenden wollen. Die Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG ist auch insoweit gewahrt. Bei der hier gegebenen Sachlage war ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht offensichtlich aussichtslos. Die Beschwerdeführer waren daher, auch soweit sie sich gegen die Verwerfung der Berufung wenden, nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 78, 58 <68 f.> m.w.N.; st. Rspr.) gehalten, vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde zunächst auf diesem Wege vor dem Berufungsgericht die Durchführung des Berufungsverfahrens zu erstreben. Im übrigen hat das Oberlandesgericht das Vorbringen der Beschwerdeführer, dass § 9 Abs. 5 ArbGG angewendet werden müsse, in der Entscheidung über die Gegenvorstellung (und damit im Rahmen der Beurteilung des Wiedereinsetzungsbegehrens) sachlich geprüft.



C.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich gegen die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand richtet. Im übrigen ist sie unbegründet.

I.

Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg, soweit die Beschwerdeführer unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 9 Abs. 5 ArbGG geltend machen, von Verfassungs wegen habe ihnen eine Rechtsmittelbelehrung erteilt werden müssen mit der Folge, dass mangels einer solchen Belehrung die Frist für die Berufungsbegründung nicht zu laufen begonnen habe und die Berufung danach nicht als unzulässig hätte verworfen werden dürfen. Die Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung ist für Urteile über zivilrechtliche Klagen - jedenfalls derzeit noch - grundsätzlich nicht geboten. Das gilt auch für den hier gegebenen Fall, dass die Gerichtsorganisation während des Laufs der Fristen für das Rechtsmittelverfahren geändert wird, sofern diese Änderung hinreichend bekannt gemacht worden ist.

1. Aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz, der für den Bereich des Zivilprozesses durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gewährleistet ist (vgl. BVerfGE 88, 118 <123 f.> m.w.N.), folgt nicht ohne weiteres eine Pflicht, gerichtliche Entscheidungen mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen.

a) Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf notwendigerweise einer normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. In dieser kann der Gesetzgeber auch Regelungen treffen, die für ein Rechtsschutzbegehren, insbesondere auch für Rechtsmittel, besondere formelle Voraussetzungen vorsehen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken. Das Rechtsstaatsprinzip fordert zwar einerseits einen möglichst wirkungsvollen Rechtsschutz des Einzelnen; andererseits verlangt es aber auch die Herstellung von Rechtssicherheit, die voraussetzt, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden. Sowohl im öffentlichen Interesse als auch - allgemein gesehen - im Interesse der Rechtsuchenden selbst kann der Gesetzgeber daher durch verfahrensbeschleunigende Vorschriften, insbesondere auch durch Form- und Fristerfordernisse für Rechtsmittel, Vorkehrungen dagegen treffen, dass Verfahren unangemessen lange dauern.

Das Rechtsstaatsprinzip gibt nicht im einzelnen vor, wie der Widerstreit zwischen dem Interesse an Rechtssicherheit und Verfahrensbeschleunigung einerseits und dem subjektiven Interesse des Rechtsuchenden an einem möglichst uneingeschränkten Rechtsschutz andererseits zu lösen ist. Es ist Sache des Gesetzgebers, bei der Ausgestaltung des Verfahrens die einander widerstreitenden Gesichtspunkte abzuwägen und für die einzelnen Abschnitte des gerichtlichen Verfahrens zu entscheiden, welchem von ihnen jeweils der Vorzug zu geben ist. Er muss dabei allerdings, wie ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, die betroffenen Belange angemessen gewichten und in bezug auf die Auswirkung der Regelung auf den einzelnen Rechtsuchenden den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Der Rechtsweg darf danach nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 88, 118 <123 ff.>).

b) Die Rechtsschutzgarantie kann nach den dargelegten Grundsätzen eine Rechtsmittelbelehrung nur gebieten, wenn diese erforderlich ist, um unzumutbare Schwierigkeiten des Rechtswegs auszugleichen, die die Ausgestaltung eines Rechtsmittels andernfalls mit sich brächte. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Formerfordernisse des Rechtsmittels so kompliziert und schwer zu erfassen sind, dass nicht erwartet werden kann, der Rechtsuchende werde sich in zumutbarer Weise darüber rechtzeitig Aufklärung verschaffen können. Das kann namentlich in Verfahren zutreffen, in denen kein Anwaltszwang besteht.

c) Eine solche Lage ist bei den Rechtsmitteln im Klageverfahren des Zivilprozesses grundsätzlich nicht gegeben. Die Zivilgerichtsbarkeit gehört zu den Verfahrensarten, die dem Bürger am ehesten vertraut sind. Das Rechtsmittelsystem im Klageverfahren liegt im Rahmen des Herkömmlichen und ist überschaubar. Von wesentlicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ferner, dass im Zivilprozess für die Rechtsmittel der Berufung und der Revision ausnahmslos Anwaltszwang besteht (§ 78 Abs. 1 ZPO). Der Gesetzgeber konnte davon ausgehen, dass dies den Rechtsuchenden allgemein hinreichend bekannt ist. Eine Partei, die im zivilprozessualen Klageverfahren ein Rechtsmittel einlegen oder hierfür Prozesskostenhilfe beantragen will, wird sich daher, selbst wenn sie den Rechtsstreit im ersten Rechtszug noch selbst geführt hat, regelmäßig an einen Anwalt wenden. Von einem Rechtsanwalt ist ohne weiteres zu erwarten, dass er die formellen Rechtsmittelerfordernisse des Zivilprozesses kennt. Selbst wenn sich die Partei im Einzelfall nicht sofort an einen Anwalt wenden will, kann sie sich bei dem Gericht, das die anzufechtende Entscheidung erlassen hat, nach den Rechtsmittelmöglichkeiten und -erfordernissen erkundigen. Die Maßnahmen, die eine bisher nicht anwaltlich vertretene Partei danach ergreifen muss, um sich über die Rechtsmittelerfordernisse Klarheit zu verschaffen, liegen im Rahmen des Zumutbaren. Für die Partei, die bereits im vorausgegangenen Rechtszug anwaltlich vertreten war, bedarf es ohnehin keines besonderen Erkundigungsaufwands. Die Möglichkeit, dass der Anwalt der Partei bei deren Beratung und Vertretung im Einzelfall die Rechtsmittelerfordernisse verkennt oder nicht beachtet, kann in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise der Risikosphäre der Partei zugerechnet werden und bildet für sich allein keinen Grund, eine Rechtsmittelbelehrung zu fordern.

Es sind freilich keine sachlichen Gesichtspunkte ersichtlich, die einer durchgehenden Erteilung von Rechtsmittelbelehrungen in allen gerichtlichen Verfahrensarten entgegenstünden. Insbesondere wäre die Rechtssicherheit nicht beeinträchtigt, wenn die Prozessparteien jeweils von Amts wegen über ihre Rechtsmittelmöglichkeiten aufgeklärt würden. Gleichwohl kann aber aus der Rechtsschutzgarantie nicht unabhängig von der Ausgestaltung der Rechtsmittelerfordernisse ein generelles Gebot der Rechtsmittelbelehrung hergeleitet werden.

d) Auch die Besonderheit des Ausgangsverfahrens, dass während des Laufs der Rechtsmittelfristen die gerichtliche Zuständigkeit für das Rechtsmittel der Beschwerdeführer durch eine Neugestaltung der Gerichtsorganisation geändert worden ist, führte nach den gegebenen Umständen nicht dazu, dass eine Rechtsmittelbelehrung zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes geboten war. Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts, von denen auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren auszugehen ist, war die interessierte Öffentlichkeit über die bevorstehende Änderung der Gerichtsorganisation hinreichend unterrichtet worden. Die normative Grundlage für die Änderung, das eingangs genannte Gesetz vom 24. August 1992, war zwar erst am 28. August 1992 und damit nur wenige Tage vor dem Eintritt der Änderung verkündet worden (GVBl. LSA 1992, S. 652). Die Änderung war aber von langer Hand vorbereitet worden. Das gilt insbesondere für die Errichtung des neuen Oberlandesgerichts, die zunächst durch die Schaffung auswärtiger Senate des Bezirksgerichts am Sitz des späteren Oberlandesgerichts eingeleitet worden war. Auch die anwaltlichen Berufsverbände hatten schon im Vorfeld auf die Änderung der Gerichtsorganisation aufmerksam gemacht. Da die betroffenen Rechtsmittelverfahren durchweg dem Anwaltszwang unterlagen, war gewährleistet, dass die Rechtsmittelführer regelmäßig anwaltlich beraten und vertreten waren. Selbst wenn bei den mit Rechtsmittelverfahren befassten Rechtsanwälten im Einzelfall Unklarheiten über die Änderung der Zuständigkeit bestanden, konnten sich die Anwälte auf einfache Weise durch eine Rückfrage bei dem bisher mit der Sache befassten oder dem an seine Stelle getretenen Gericht oder auch bei der Justizverwaltung verlässliche Auskunft verschaffen. In dem Erkundigungsaufwand, der danach gegebenenfalls erforderlich werden konnte, kann noch keine unzumutbare Erschwerung des Rechtswegs gesehen werden. Auftretenden Härten konnte durch die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begegnet werden.

Unter diesen Umständen war der Gesetzgeber nicht verpflichtet, für diese nur eine begrenzte Zeit andauernde besondere Situation abweichend von der allgemeinen Rechtslage eine Rechtsmittelbelehrung einzuführen.

2. Auch aus dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) folgt - jedenfalls bei der derzeitigen tatsächlichen und rechtlichen Lage - noch keine Pflicht zur Einführung einer Rechtsmittelbelehrung im Klageverfahren des Zivilprozesses.

a) Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Die Ungleichbehandlung, die die Beschwerdeführer als verfassungswidrig ansehen, liegt darin, dass der Gesetzgeber für Urteile über zivilrechtliche Klagen keine Rechtsmittelbelehrung verlangt, während er sie für Entscheidungen über Klagen in anderen Gerichtsbarkeiten vorgeschrieben hat (§ 9 Abs. 5 ArbGG, § 58 VwGO, § 66 SGG; § 55 Abs. 1 Satz 2 FGO kann bei dem Vergleich außer Betracht bleiben, weil in bezug auf finanzgerichtliche Urteile nur die Revision und die Nichtzulassungsbeschwerde als Rechtsmittel in Betracht kommen). Eine Differenzierung nach personenbezogenen Merkmalen, bei der der Gesetzgeber einer besonders strengen Bindung unterliegen würde, liegt in dieser Ungleichbehandlung nicht. Es handelt sich vielmehr um eine unterschiedliche Behandlung von Sachverhaltsgruppen, bei der Gesetzgeber und Rechtsprechung einen weiten Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum haben. Da sich die Regelung nachteilig in einem grundrechtlich geschützten Freiheitsbereich - nämlich der Rechtsschutzgarantie - auswirken kann, ist der Gesetzgeber allerdings nicht lediglich durch das Willkürverbot eingeschränkt. Vielmehr kommt es in solchen Fällen darauf an, ob für die Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 88, 87 <96 f.>).

b) Nach diesen Grundsätzen ist es - jedenfalls unter den derzeitigen Verhältnissen - nicht zu beanstanden, dass im Klageverfahren des Zivilprozesses Entscheidungen nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen werden. Ein sachlicher Grund für die Differenzierung könnte freilich nicht schon darin gesehen werden, dass die verschiedenen Regelungen über die Rechtsmittelbelehrung in unterschiedlichen Verfahrensordnungen enthalten sind. Das Rechtsschutzinteresse an der Überprüfung zivilrechtlicher Urteile kann nicht als weniger gewichtig bewertet werden als dasjenige an Begehren, die in den Zuständigkeitsbereich anderer Gerichtsbarkeiten fallen. Danach kann die formelle Abgrenzung der Fachgerichtsbarkeiten gegeneinander für sich allein noch kein hinreichender Grund sein, die Frage, ob eine Rechtsmittelbelehrung zu erteilen ist, für die einzelnen Gerichtsbarkeiten unterschiedlich zu regeln.

Die Differenzierung zwischen dem Klageverfahren des Zivilprozesses und dem Klageverfahren anderer Fachgerichtsbarkeiten wird jedoch (noch) hinreichend durch die Besonderheiten des zivilgerichtlichen Verfahrens gerechtfertigt, die bereits bei der Prüfung am Maßstab der Rechtsschutzgarantie erörtert worden sind. Wesentlich fällt auch bei der Beurteilung nach Art. 3 Abs. 1 GG ins Gewicht, dass für die Rechtsmittel im zivilrechtlichen Klageverfahren ausnahmslos Anwaltszwang besteht und der Gesetzgeber davon ausgehen konnte, dass dies auch der Öffentlichkeit hinreichend bekannt ist. Weiß aber der Bürger im allgemeinen, dass er sich hinsichtlich des Rechtsmittels anwaltlich beraten und vertreten lassen muss, so ist eine Rechtsmittelbelehrung weniger dringlich als in Verfahren, in denen der Rechtsuchende das Verfahren selbst führen darf.

Es kann dahingestellt bleiben, ob etwas anderes für Verfahren vor den Zivilgerichten gilt, in denen - wie insbesondere in manchen Bereichen der freiwilligen Gerichtsbarkeit - kein Anwaltszwang besteht, andererseits aber die Rechtsmittelvoraussetzungen nicht leicht erkennbar sind. Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass auch für das Klageverfahren im Zivilprozess die Gründe, die das Unterlassen der Rechtsmittelbelehrung derzeit noch rechtfertigen, künftig um so mehr an Gewicht verlieren können, je umfassender in den übrigen Bereichen der verschiedenen Gerichtsbarkeiten eine Rechtsmittelbelehrung vorgeschrieben wird. Dabei ist auch zu bedenken, dass ein öffentliches Interesse am Unterlassen einer Rechtsmittelbelehrung nicht besteht.


II.

Die Verfassungsbeschwerde hat dagegen Erfolg, soweit sie sich gegen die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand richtet. Die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführer durften sich darauf verlassen, dass die von ihnen bei der Geschäftsstelle des neu errichteten Landgerichts Magdeburg eingereichte Berufungsbegründung rechtzeitig an das Oberlandesgericht weitergeleitet würde. Die gegenteilige Auffassung des Oberlandesgerichts verkennt die Tragweite des aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 78, 123 <126> m.w.N.), dessen Verletzung die Beschwerdeführer jedenfalls sinngemäß gerügt haben.

1. Die Frage, ob eine Prozesspartei, die einen fristgebundenen Rechtsmittelschriftsatz bei einem unzuständigen Gericht einreicht, darauf vertrauen darf, dass dieses Gericht den Schriftsatz an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterleiten werde, ist im einschlägigen Verfahrensrecht nicht geregelt. In der vom Bundesgerichtshof geprägten Rechtsprechung der Zivilgerichte wird sie bisher wohl durchgehend verneint. Das Bundessozialgericht hat sie bejaht, dabei aber entscheidend auf die Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens und den Personenkreis, der vor den Sozialgerichten klagt, abgestellt (vgl. BSG, Großer Senat, BSGE 38, 248 <259 ff.>). Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem einschlägigen Fall Wiedereinsetzung ohne solche Einschränkung gewährt (Urteil vom 21. Mai 1992 - 1 DB 6/92 -). Der Bundesgerichtshof hat dagegen bisher grundsätzlich die Auffassung vertreten, dass keine Wiedereinsetzung gewährt werden könne, wenn der Rechtsmittelschriftsatz bei einem unzuständigen Gericht eingereicht werde und beim zuständigen Rechtsmittelgericht verspätet eingehe. Er geht davon aus, dass das Verschulden einer Partei, die einen fristgebundenen Schriftsatz beim unzuständigen Gericht eingereicht hat, für die Fristversäumnis mitursächlich bleibe, auch wenn der angegangene Richter bei sofortiger und gründlicher Bearbeitung die Möglichkeit gehabt hätte, die nachteiligen Folgen durch einen Hinweis an die Partei über seine Unzuständigkeit oder durch Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Gericht abzuwenden (NJW 1972, S. 684). Auch eine verspätete Weiterleitung durch das unzuständige Gericht (zwei Wochen nach Eingang und eine Woche vor Fristablauf) sei unerheblich, weil es auf ein mögliches Mitverschulden nicht ankomme (NJW 1979, S. 876). Abgesehen davon, dass auch im Fall eines gerichtlichen Mitverschuldens an der Fristversäumung das schuldhafte Verhalten des Rechtsmittelführers selbst ursächlich bleibe und eine Wiedereinsetzung ausschließe, läge auch keine Pflichtwidrigkeit vor. Die Gerichte betrachteten es zwar weitgehend als ein nobile officium, durch Hinweise und andere Maßnahmen zur Heilung von Formmängeln beizutragen. Eine Rechtspflicht hierzu bestehe jedoch nicht (VersR 1985, S. 767). Die Ursächlichkeit des Verschuldens an einer Fristversäumung durch Einreichung der Rechtsmittelschrift bei einem unzuständigen Gericht werde nicht dadurch ausgeräumt, dass durch unverzügliche Weiterleitung die Fristversäumnis möglicherweise hätte vermieden werden können (VersR 1987, S. 48; S. 486). Jedenfalls bestehe keine Pflicht zu außerordentlichen Maßnahmen, wie etwa zur Weiterleitung noch am Tag des Eingangs (NJW 1987, S. 440). Werde allerdings die Weiterleitung durch das angegangene (unzuständige Gericht) rechtzeitig verfügt, lägen die Gründe für eine weitere Verzögerung allein im Verantwortungsbereich des Gerichts und könnten der Partei nicht angelastet werden (FamRZ 1988, S. 829 <830>).

Mit dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht die angegriffene Entscheidung über die Versagung der Wiedereinsetzung in Einklang.

2. a) Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, darf sich nicht nur an dem Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss. Danach muss der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden.

b) Wieweit die angeführte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mit diesen Grundsätzen in Einklang steht, bedarf hier keiner abschließenden Klärung. Die Abwägung zwischen den betroffenen Belangen fällt jedenfalls dann zugunsten des Rechtsuchenden aus, wenn das angegangene Gericht zwar für das Rechtsmittelverfahren nicht zuständig ist, jedoch vorher selbst mit dem Verfahren befasst war. Für ein solches Gericht bestand, während die Sache bei ihm anhängig war, die aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgende Fürsorgepflicht gegenüber den Prozessparteien. Es wird nicht unangemessen belastet, wenn ihm auch noch eine nachwirkende Fürsorgepflicht auferlegt wird. So ist ein Gericht, das im vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befasst gewesen ist, regelmäßig verpflichtet, einer Partei, die sich über die Rechtsmittelmöglichkeiten und Rechtserfordernisse nicht im klaren ist, auf Anfrage darüber Auskunft zu erteilen. Es liegt aber auch noch im Rahmen des Angemessenen, das Gericht für verpflichtet zu halten, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Eine ins Gewicht fallende Belastung des Gerichts tritt dadurch nicht ein, weil ihm die Zuständigkeit für das Rechtsmittel gegen seine eigene Entscheidung bekannt ist und daher die Ermittlung des richtigen Adressaten, selbst wenn er in dem Schriftsatz nicht deutlich bezeichnet sein sollte, keinen besonderen Aufwand verursacht. 47 Das bedeutet freilich nicht, dass das vorinstanzliche Gericht neben dem Rechtsmittelgericht zur Entgegennahme von Rechtsmittelschriftsätzen zuständig wird. Die Einreichung bei dem vorinstanzlichen Gericht wahrt daher nicht die Fristen im Rechtsmittelverfahren. Der Rechtsuchende darf jedoch darauf vertrauen, dass das mit der Sache befasst gewesene Gericht den bei ihm eingereichten, aber für das Rechtsmittelgericht bestimmten Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang dorthin weiterleiten wird. Eine etwaige Fehlleitung oder ein Verlust des Schriftsatzes fällt insoweit - unabhängig von ihren konkreten Ursachen - in den Verantwortungsbereich des Gerichts.

Geht der Schriftsatz so zeitig bei dem mit der Sache befasst gewesenen Gericht ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf die Partei nicht nur darauf vertrauen, dass der Schriftsatz überhaupt weitergeleitet wird, sondern auch darauf, dass er noch fristgerecht beim Rechtsmittelgericht eingeht. Geschieht dies tatsächlich nicht, so ist der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unabhängig davon zu gewähren, auf welchen Gründen die fehlerhafte Einreichung beruht. Mit dem Übergang des Schriftsatzes in die Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten Gerichts wirkt sich ein etwaiges Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus (vgl. zur Präklusion BVerfGE 75, 183 <188 ff.>; 81, 264 <273 f.>).

3. Im vorliegenden Fall war das Landgericht Magdeburg, bei dem die Berufungsbegründung eingereicht worden ist, nicht mit dem Verfahren befasst gewesen, da es erst am Tage der Einreichung des Schriftsatzes errichtet worden und gleichzeitig für das Berufungsverfahren das ebenfalls mit diesem Tage neu errichtete Oberlandesgericht zuständig geworden war. Andererseits bestanden die bisher mit der Sache befassten Gerichte - Kreis- und Bezirksgericht - nicht mehr. Das Landgericht Magdeburg übernahm dabei die Räume des bis dahin bestehenden Bezirksgerichts und wurde durch die Umstellung der Gerichtsorganisation auch für einen Teil von dessen früheren Aufgaben zuständig, nämlich für die Berufungsverfahren in Sachen, für die nach dem Gerichtsverfassungsgesetz im ersten Rechtszug das Amtsgericht sachlich zuständig gewesen wäre. Unter diesen Umständen müssen die dargelegten Grundsätze mit der Maßgabe angewendet werden, dass das Landgericht dieselbe Fürsorgepflicht hinsichtlich der beim Bezirksgericht anhängig gewesenen Verfahren traf, die dem Bezirksgericht bis zum Ende seines Bestehens insoweit oblegen hatte. Andernfalls würde eine Verschlechterung des Rechtsschutzes eintreten, die nicht zu vertreten wäre. Das Bedürfnis nach gerichtlicher Fürsorge ist im Fall der Neuorganisation der Gerichte, die in erhöhtem Maße klärungsbedürftige Zweifelsfragen mit sich bringen kann, nicht geringer, sondern sogar wesentlich größer als im Falle auftretender Unklarheiten bei unveränderter Gerichtsorganisation und Rechtsmittelzuständigkeit. Dem ist allgemein auch dadurch Rechnung getragen worden, dass das Landgericht Magdeburg, wie das Ministerium der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt mitgeteilt hat, bis Mitte September 1992 noch Schriftsätze für das Oberlandesgericht entgegengenommen und an dieses weitergeleitet hat.

Die Zurückweisung des Antrags der Beschwerdeführer auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nach alledem keinen Bestand haben.



Abweichende Meinung des Richters am BVerfG Kühling

Gegen die Entscheidung und ihre tragende Begründung habe ich nichts einzuwenden. Die Erwägungen zur Rechtsmittelbelehrung halte ich jedoch für zu eng. Meine These lautet: Verzichtbar ist eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung durch das Gericht nur im Anwaltsprozess. Amtsrichterliche Urteile müssen jedoch von Verfassungs wegen mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen sein.

Der verfassungsrechtliche Maßstab wird im Beschluss zutreffend aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet. Danach ist eine Rechtsmittelbelehrung verfassungsrechtlich geboten, wenn der Rechtsuchende sich anders nicht in zumutbarer Weise über die Formerfordernisse des Rechtsmittels informieren kann. Der Begriff der Zumutbarkeit umschreibt eine Beziehung zwischen einer Belastung und den sie legitimierenden Zwecken. Zumutbar ist, was angesichts des Gewichts der Gründe hingenommen werden muss.

Vorgelagert ist die Frage, ob der Zweck die Belastung tatsächlich erfordert. Das ist nicht der Fall, wenn er auf andere, weniger belastende Weise verwirklicht werden kann. Dabei sind auch kompensatorische Maßnahmen in Betracht zu ziehen: Lässt sich eine dem Bürger aus triftigen Gründen auferlegte Beeinträchtigung grundrechtlich verbürgter Positionen durch begleitende Maßnahmen abmildern, ohne dass dadurch andere öffentliche oder private Interessen geschmälert werden, so sind solche flankierenden Maßnahmen regelmäßig geboten. Dieser Gedanke wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach zum Ausdruck gebracht (vgl. etwa BVerfGE 58, 137 <147 ff.>; 84, 133 <153 ff.>).

Die mannigfaltigen Verästelungen des Rechtsmittelsystems in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten beeinträchtigen den Rechtsuchenden in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz. Der Normalbürger kann dieses System ohne professionelle Hilfe nicht handhaben. Das gilt auch für die Rechtsmittel gegen Zivilurteile der Amtsgerichte. Nun gibt es allerdings für diese Belastung nahezu zwingende Gründe. Vielleicht könnte manches einfacher und übersichtlicher geregelt werden. Aber eine auch für den juristischen Laien zugängliche Rechtsmittelordnung, die die Rechtssicherheit wahrt und einer Verschleppung entgegenwirkt, ist unter den Bedingungen unserer komplexen Wirtschafts- und Rechtsordnung kaum vorstellbar.

Im Anwaltsprozess wirken sich diese Schwierigkeiten nicht gravierend aus. Den Parteien steht rechtskundige Beratung ohnehin zur Verfügung. Ihr Rechtsschutz wird nicht nennenswert beeinträchtigt. Insofern stimme ich mit dem Senatsbeschluss überein. Ich teile auch die Auffassung, dass insoweit der allgemeine Gleichheitsgrundsatz durch das Fehlen von Rechtsmittelbelehrungen (noch) nicht verletzt wird. In Verfahren vor dem Amtsgericht ist anwaltliche Beratung jedoch nicht sichergestellt. Wer auf einen Anwalt verzichtet und unterliegt, steht zunächst auch allein vor der Frage, ob er das Urteil hinnehmen oder Rechtsmittel dagegen einlegen will. Damit aber ist er regelmäßig überfordert. Woher soll er wissen, wie hoch der Gesetzgeber die Berufungssumme in seiner jüngsten Entlastungsnovelle festgesetzt hat? Wer sagt ihm, dass sie mit dem vom Amtsgericht festgesetzten Streitwert nicht gleichzusetzen ist oder dass es in Mietsachen eine Divergenzberufung gibt? Der Senat hält eine Rechtsmittelbelehrung dennoch für entbehrlich, weil allgemein bekannt sei, dass in der nächsthöheren Instanz Anwaltszwang herrsche und der Betroffene deswegen ohnehin einen Anwalt aufsuchen müsse, wenn er das Urteil nicht hinnehmen wolle. Außerdem könne er sich beim Amtsgericht erkundigen, das, wie es an anderer Stelle heißt, regelmäßig zu entsprechenden Auskünften verpflichtet sei.

Das leuchtet mir nicht ein. Die Kenntnis vom Anwaltszwang im zivilprozessualen Rechtsmittelverfahren mag in der Tat allgemein verbreitet sein. Der Entschluss, sich bereits an einen Anwalt zu wenden, bevor feststeht, ob es überhaupt ein Rechtsmittel gibt, wird durch diese Kenntnis aber nicht erleichtert. Für die Auswahl eines Anwalts gibt es kaum Orientierungshilfen. Ist sie getroffen, muss eine Hemmschwelle überwunden werden. Anwälte kosten Geld, wieviel weiß der Laie nicht. Wer im ersten Rechtszug auf anwaltliche Hilfe verzichtet hat, nimmt die Kostenfrage im allgemeinen nicht auf die leichte Schulter.

dass die Amtsgerichte von Verfassungs wegen regelmäßig verpflichtet sind, Auskünfte über Rechtsmittelmöglichkeiten zu erteilen, wird sie überraschen. Rechtsantragstelle und Geschäftsstellen eines mir bekannten großstädtischen Amtsgerichts lehnen Auskünfte über die Zulässigkeit eines Rechtsmittels bisher strikt ab. Der Ratsuchende wird dort an einen Anwalt verwiesen. Jetzt wird man sich darauf einrichten müssen, Auskünfte zu erteilen. Den Rechtsuchenden ist damit einigermaßen geholfen, wenn sich der neue Service erst einmal herumgesprochen hat. Bis er allgemein bekannt ist, wird allerdings einige Zeit ins Land gehen. Geradezu propagieren werden ihn die Gerichte nach meiner Einschätzung nicht. Außerdem birgt die mündliche Auskunft gewisse Risiken. Missverständnisse werden regelmäßig zu Lasten des Rechtsuchenden gehen, und der Nachweis, falsch belehrt worden zu sein, wird ihm gegebenenfalls nicht leicht fallen.

Wie immer man diese Schwierigkeiten bewertet: Es gibt sie und sie betreffen das durch das Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Recht auf Zugang zu den gesetzlich vorgesehenen Rechtsmitteln. Unverkennbar können sie durch eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung, wie sie etwa § 9 Abs. 5 ArbGG vorsieht, gemildert werden. Sie braucht nicht erst eingeholt zu werden wie die anwaltliche oder gerichtliche Auskunft und ist sogar in mancher Hinsicht hilfreicher. Ihr kann der Rechtsuchende selbst entnehmen, welches Rechtsmittel statthaft, an welche Frist es gebunden ist und ob er einen Anwalt benötigt. Diese Grundinformation benötigt er, bevor er sich entscheidet, ob er das Urteil hinnehmen oder ob er - mit anwaltlichem Beistand - um weiteren Rechtsschutz nachsuchen will. Das Risiko, etwas falsch zu machen, wird ihm weitgehend abgenommen. Eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung führt dazu, dass die gesetzlichen Fristen zunächst einmal nicht zu laufen beginnen.

Einen vernünftigen Grund dafür, Zivilurteile nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen, vermag ich nicht zu erkennen. Im Zeitalter der Formulare und der Schreibautomaten verursacht sie keine zusätzlichen Kosten. Eine Verringerung der Zahl von Rechtsmitteln ist kein zulässiger Gesichtspunkt für das Unterbleiben einer Rechtsmittelbelehrung. Am Unterlassen einer Rechtsmittelbelehrung besteht keinerlei öffentliches Interesse. Das steht auch im Senatsbeschluss. Für mich drängt sich die Folgerung auf: Dann wird dem Normalbürger durch dieses Unterlassen der Weg in die nächste Instanz unnötig erschwert. Ohne schriftliche Rechtsmittelbelehrung belasten ihn die Rechtsmittelvoraussetzungen in bürgerlich-rechtlichen Verfahren unverhältnismäßig, soweit kein Anwaltszwang besteht. Das im Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Recht auf Rechtsschutz wird verletzt.

Es bleibt zu hoffen, dass der Beschluss, wenn er erst einmal rezipiert ist, zur Einführung schriftlicher Rechtsmittelbelehrungen auch in den Verfahren vor den Zivilgerichten führen wird. Der gegenwärtige Zustand ist angesichts der großzügigeren Regelungen in den anderen Gerichtszweigen auf Dauer wohl ohnehin nicht hinnehmbar. Das lässt der Beschluss unüberhörbar anklingen. Für Verfahren in manchen Bereichen der freiwilligen Gerichtsbarkeit mit besonders verwickelten Rechtsmittelvoraussetzungen treffen die Gesichtspunkte, die der Senat zur Rechtfertigung des Verzichts auf Rechtsmittelbelehrungen ins Feld führt, ersichtlich nicht zu. dass folglich schon jetzt Abhilfe geboten ist, wird im Beschluss angedeutet. Handgreiflicher als diese Hinweise dürfte sich jedoch die Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts auswirken, dass die Gerichte zu mündlichen Auskünften über die zulässigen Rechtsmittel regelmäßig verpflichtet sind. Denn die mündliche Belehrung ist auch für die Gerichte weitaus lästiger und zudem haftungsträchtiger als eine formularmäßige Belehrung mit gesetzlicher Regelung der Fehlerfolgen entsprechend § 9 Abs. 5 Satz 3 und 4 ArbGG.