Das Verkehrslexikon
BGH Beschluss vom 24.08.1972 - 4 StR 292/72 - Verjährungsunterbrechung im OWi-Verfahren
BGH v. 24.08.1972: Verjährungsunterbrechung im OWi-Verfahren auch dann, wenn der Anhörungsbogen nicht zugeht
Der BGH (Beschluss vom 24.08.1972 - 4 StR 292/72) hat entschieden:
Will der zuständige Beamte dem Betroffenen die Einleitung des Ermittlungsverfahrens durch die Übersendung eines Anhörungsbogens bekanntgeben, so wird durch die Anordnung der Übersendung die Verfolgungsverjährung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 (2. Alternative) OWiG auch dann unterbrochen, wenn der Anhörungsbogen dem Betroffenen nicht zugeht.
Gründe:
Die Amtsgerichte Köln und Bonn haben gegen die Betroffenen wegen verbotswidrigen Parkens von Kraftfahrzeugen (§§ 12, 49 StVO in Verb, mit § 24 StVG) Geldbußen festgesetzt. In allen drei Fällen sind die Ordnungswidrigkeiten ohne Wissen der Betroffenen angezeigt worden. Weniger als drei Monate nach der Tat sind an jeden von ihnen Anhörungsbogen abgegangen, die ihnen aber - unwiderlegt - nicht zugegangen sind. Die Bußgeldbescheide sind jeweils mehr als drei Monate nach der Tat, aber in weniger als drei Monaten nach der Absendung des Formulars unterzeichnet worden. Seitdem ist die Verjährung jeweils rechtzeitig unterbrochen worden.
Das Oberlandesgericht Köln möchte die Anträge der Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerden gegen die Urteile der Amtsgerichte sachlich bescheiden, nicht aber die Verfahren wegen Verjährung einstellen. Es ist der Meinung, für die Unterbrechung der Verjährung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 (2. Alt.) OWiG sei es unerheblich, ob der an den Betroffenen versandte Anhörungsbogen diesen auch erreicht habe; es komme vielmehr nur auf die behördliche Anordnung der Übersendung an. So zu entscheiden sieht sich das Oberlandesgericht Köln gehindert durch einen Beschluss des 1. Strafsenats des Oberlandesgerichts Celle (VRS 41, 210). Dieses Gericht vertritt die Auffassung, die Verjährung werde in solchen Fällen nur unterbrochen, wenn die Mitteilung von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens dem Betroffenen auch zugegangen sei (ähnlich OLG Saarbrücken VRS 42, 137; zum Streitstand vgl. BGHSt 24, 321 = VRS 43, 51). Mit Beschluss vom 24. Mai 1972 hat daher das Oberlandesgericht Köln die zu diesem Zweck verbundenen Sachen dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.
Die Voraussetzungen für eine Vorlage nach § 121 Abs. 2 GVG, § 79 Abs. 3 OWiG sind gegeben.
In der Sache teilt der Senat in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt im Ergebnis die Auffassung des vorlegenden Gerichts.
Mit Recht geht das Oberlandesgericht Köln davon aus, dass der Begriff der "Bekanntgabe" in § 29 Abs. 1 Nr. 1 OWiG nicht eindeutig ist, da darunter die Handlung dessen, der die Einleitung des Ermittlungsverfahrens mitteilt, aber auch das damit verbundene Ergebnis dieser Handlung, die Kenntnis des Betroffenen, verstanden werden kann. Dem vorlegenden Gericht ist entgegen dem Oberlandesgericht Celle auch dahin zu folgen, dass sich der Sinn der gesetzlichen Regelung nicht aus einem Vergleich der beiden Alternativen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 OWiG ergibt. Bei der ersten Vernehmung des Betroffenen (1. Alt.) und bei der Bekanntgabe, dass gegen ihn das Ermittlungsverfahren eingeleitet sei (2. Alt.), handelt es sich nicht um "gleichwertige" Maßnahmen, für die auch die gleichen Voraussetzungen gegeben sein müssten. Die Bekanntgabe ist vielmehr der weiter gehende Begriff. Da nämlich nur die Vernehmung als Betroffener die Verjährung unterbricht, ist Voraussetzung dieser Wirkung, dass dem Betroffenen spätestens bei der Vernehmung die ihm vorgeworfene Handlung und damit die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekanntgegeben wird. Der engere Begriff der "Vernehmung" kann damit nichts darüber aussagen, wie der weitere Begriff zu verstehen ist.
Wie der Senat in seinem Beschluss vom 16. März 1972 (BGHSt 24, 321) ausgeführt hat, sind für die Auslegung des § 29 OWiG die von Rechtsprechung und Lehre zu § 68 StGB entwickelten Grundsätze heranzuziehen, da mit dem Aufstellen eines gesetzlich bestimmten Katalogs von Unterbrechungshandlungen in § 29 Abs. 1 OWiG (und § 78 c Abs. 1 StGB i.d.F. des 2. StrRG) sich gegenüber der bisherigen Regelung sachlich nichts ändern sollte. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber über die Festlegung hinaus, welche der zahlreichen denkbaren Handlungen der Verwaltungsbehörde (des Gerichts) nur noch zur Unterbrechung geeignet seien, auch sonst die Voraussetzungen für die Unterbrechung ändern wollte.
Nach § 68 StGB unterbricht jede Handlung eines Strafrichters, die bestimmt und geeignet ist, die Erledigung der Strafsache zu fördern, und damit der Verfolgung der zur Untersuchung stehenden Straftat dient (BGHSt 16, 193, 196) [BGH 16.08.1961 - 4 StR 172/61]. Die Handlung braucht, um wirksam zu werden, nicht nach außen in Erscheinung zu treten oder zur Kenntnis des Beschuldigten zu gelangen (BGHSt 21, 25; LK 9. Aufl. § 68 StGB Rdn. 6, 7; Schönke/Schröder StGB 16. Aufl. § 68 Rdn. 9). Sowohl hinsichtlich der Unterbrechungswirkung als auch für den Zeitpunkt des Verjährungseintritts kommt es auf die richterliche Anordnung der Maßnahme an und nicht darauf, wann sie ausgeführt worden ist (BGHSt 21, 25, 26 [BGH 09.02.1966 - 2 StR 528/65]/27).
Wendet man diese Grundsätze auf den Begriff der "Bekanntgabe" an, so kann nicht zweifelhaft sein, dass bereits die hierauf gerichtete Handlung der Verwaltungsbehörde die Verjährung unterbricht. Diese Handlung liegt in der Verfügung des zuständigen Beamten, mit der er die Versendung des Anhörungsbogens an den Betroffenen anordnet (OLG Celle, 3. Strafsenat, DAR 1970, 248: OLG Düsseldorf VRS 40, 56; OLG Hamm VRS 41, 50; Göhler JR 1971, 301 und VOR 1972, 65; Kleinknecht StPO 30. Aufl. § 29 OWiG Anm. 2 Nr. 1; Günter DAR 1972, 121). Wollte man dagegen die Unterbrechungswirkung vom Zugang beim Betroffenen abhängig machen, würde man den Lauf der Verjährungsfrist an ein Ereignis knüpfen, das nicht mehr unmittelbar der Einwirkung des Verfügenden unterliegt. Eine solche Abhängigkeit ist sonstigen Unterbrechungshandlungen fremd. So ist auch in keiner der anderen Nummern des § 29 Abs. 1 OWiG vorgesehen, dass der Betroffene von der Unterbrechungshandlung Kenntnis erhalten müsse; in den Nummern 3 und 7 sind ausdrücklich behördeninterne Maßnahmen aufgeführt. Nicht unberücksichtigt kann auch bleiben, dass die Anordnung, dem Betroffenen einen Anhörungsbogen zu übersenden, in aller Regel alsbald zu der gewollten Kenntnisnahme führen wird. Es kann nicht Sinn einer gesetzlichen Regelung sein, mit der Massenverfahren zügig erledigt werden sollen, durch einen nicht unerheblichen Verwaltungsaufwand auch für Ausnahmefälle sicherzustellen, dass die "Bekanntgabe" den Betroffenen erreicht hat. Ob dagegen für die Fälle etwas anderes zu gelten hat, bei denen der verfügende Beamte von vornherein weiß, dass die Bekanntgabe den Adressaten nicht erreichen kann (vgl. hierzu Günter a.a.O.), bedarf hier keiner Entscheidung. Bei der Auslegung von Gesetzen ist davon auszugehen, dass diese ordnungsgemäß, jedenfalls nicht missbräuchlich angewendet werden (BayObLG NJW 1970, 1935, 1936).
Auch die durch das 1. und 2. AOStrafÄndG vom 10.08.1967 und 12.08.1968 geänderte Regelung der Verjährungsunterbrechung nach der Abgabenordnung nötigt zu keiner anderen Auslegung. Während nach § 419 Abs. 2 AO a.F. die Verjährung durch die "Einleitung der Untersuchung" unterbrochen wurde, ist nunmehr nach § 402 Abs. 2 AO n.F. erforderlich, "dass dem Beschuldigten die Einleitung des Straf- oder Bußgeldverfahrens wegen der Tat bekanntgegeben wird". Diese Änderung bedeutet aber nur, dass in den Fällen eine besondere Bekanntgabe erforderlich ist, um die Verjährung zu unterbrechen, in denen nicht schon die Ermittlungshandlung selbst (§ 432 Abs. 1 AO) für den Beschuldigten erkennbar darauf abzielt, gegen ihn steuerstrafrechtlich vorzugehen. Dass die Mitteilung den Beschuldigten auch erreicht haben müsse, um wirksam zu sein, ist § 402 Abs. 2 AO dagegen nicht zu entnehmen. Ohne Bedeutung ist schließlich, dass es in § 395 Abs. 2 Nr. 1 b und Abs. 4 AO n.F. ("bekanntgegeben worden ist") auf die Kenntnis des Beschuldigten ankommt (Hartung/Hübner in Hübschmann/Hepp/Spitaler AO 1.-6. Aufl. (1971) § 395 Rdn. 29; Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze 2. Aufl. (1971) § 395 AO Anm. 5; so wohl auch BGHSt 3, 373, 374) [BGH 13.11.1952 - 3 StR 398/52]; denn nur bei Kenntnis des Verfahrensbeginns (oder Kennenmüssen nach § 395 Abs. 2 Nr. 2 AO), nicht aber durch die bloße Anordnung, ihm die Verfahrenseinleitung mitzuteilen, kann dem Täter Straffreiheit bei Selbstanzeige versagt werden. Die ganz andersartige Zielsetzung des § 395 AO, der dem Steuersünder die Umkehr zur Steuerehrlichkeit erleichtern soll, lässt es nicht zu, von dieser Bestimmung Rückschlüsse auf die Auslegung des § 402 Abs. 2 AO zu ziehen.
Die Entscheidung des Senats steht im Einklang mit der Neufassung des § 29 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, wie sie im Entwurf eines EGStGB vorgesehen ist (vgl. BT-Drucks. VI/3250 S. 68).