Das Verkehrslexikon
Amtsgericht Berlin-Mitte Urteil vom 16.04.2010 - 111 C 3065/09 - Zur Verteilung der Sorgfaltspflichten beim parallelen Rechtsabbiegen in mehreren Fahrstreifen
AG Berlin-Mitte v. 16.04.2010: Zur Verteilung der Sorgfaltspflichten beim parallelen Rechtsabbiegen in mehreren Fahrstreifen
Das Amtsgericht Berlin-Mitte (Urteil vom 16.04.2010 - 111 C 3065/09) hat entschieden:
Beim parallelen Abbiegen hat dasjenige Fahrzeug Vorrang, das sich entsprechend § 9 Abs. 1 Satz 2 StVO beim Rechtsabbiegen möglichst weit rechts eingeordnet hat. Der Vorrang erstreckt sich nicht nur auf das Abbiegen als solches, sondern auch auf die Wahl des Fahrstreifens auf derjenigen Straße, in die abgebogen wird. Dies gilt entgegen der BGH-Rechtsprechung unabhängig von der Anzahl der nach dem Abbiegen zur Verfügung stehenden Fahrstreifen.
Tatbestand:
Die Klägerin war Eigentümerin des Pkw Peugeot (...). Die Beklagte zu 1.) war Fahrerin des Pkw Ford (...), der bei der Beklagten zu 2.) haftpflichtversichert war.
Am 07.07.2007 gegen 22.00 Uhr fuhren beide Fahrzeuge auf der H...straße in Berlin. Vor der Kreuzung mit der J Straße /...platz befinden sich fünf durch Leitlinien voneinander getrennte Fahrstreifen, auf denen Pfeile markiert sind. Auf den ersten beiden Fahrstreifen von rechts sind Rechtsabbiegerpfeile aufgebracht. Hinter der Haltelinie sind keine weiteren Leitlinien auf der Kreuzung markiert. Erst in der J Straße, in die nach rechts abgebogen wird, befinden sich hinter dem markierten Fußgängerübergang erneut vier durch Leitlinien voneinander getrennte Fahrstreifen. Der erste Fahrstreifen von rechts ist als Sonderfahrstreifen für Busse markiert. Wegen der Gestaltung der Unfallstelle und der Markierungen wird auf die Verkehrsunfallskizze (Blatt 20 der Akte) verwiesen.
Der Peugeot fuhr auf der linken, der Ford auf der rechten Rechtsabbiegerspur der H...straße. Beide Fahrzeuge fuhren zum Rechtsabbiegen in die J Straße in Kreuzung ein. Der Peugeot ordnete sich zum äußerst linken Fahrstreifen auf der J Straße ein, die Beklagte zu 1.) orientierte sich mit dem Ford zur mittleren Spur auf der J Straße .
Der Ford berührte mit seiner linken vorderen Ecke die rechte Seite des Peugeot, und zwar von der rechten Hintertür bis zum rechten Hinterrad.
Die Klägerin beziffert ihren Schaden mit insgesamt 2.301,77 €. Wegen der Schadenberechnung wird auf Seite 3 der Klageschrift (Blatt 3 der Akte) verwiesen.
Die Klägerin behauptet, der Ford habe den Bogen beim Abbiegen zu weit genommen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 2.301,77 € nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05.01.2008 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie behaupten, der Peugeot habe die Kurve zu eng genommen.
Entscheidungsgründe:
Die auf §§ 7 Abs. 1, 18 StVG, 823 BGB, 3 PflVG gestützte Klage ist unbegründet.
Beim parallelen Abbiegen hat dasjenige Fahrzeug Vorrang, das sich entsprechend § 9 Abs. 1 Satz 2 StVO beim Rechtsabbiegen möglichst weit rechts eingeordnet hat. Der Vorrang erstreckt sich nicht nur auf das Abbiegen als solches, sondern auch auf die Wahl des Fahrstreifens auf derjenigen Straße, in die abgebogen wird. Die Beklagte zu 1.) durfte also zuerst abbiegen und den Fahrstreifen in der J Straße frei wählen. Der Fahrer des Peugeot durfte sie dabei nicht behindern. Er hatte den Vorrang sämtlicher Fahrzeuge zu beachten, die sich zum Rechtsabbiegen rechts vom Peugeot eingeordnet hatten. Dies war bisher ständige Rechtsprechung, bis der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 12.12.2006 (VI ZR 75/06; NJW/RR 2007, 380 f.; NZV 2007, 185 f.) entschieden hat, dass dem am weitesten rechts eingeordneten Rechtsabbieger dann nicht stets das Vortrittsrecht zugebilligt werden könne, wenn paralleles Abbiegen in eine mehrspurige Straße durch Richtungspfeile geboten ist. Der Massenverkehr erlaube in einem solchen Fall das Fahren in mehreren Reihen nebeneinander, ohne zu überholen oder sich stets vor dem weiter rechts fahrenden einordnen zu müssen. An die Stelle des Rechtsfahrgebotes trete die Pflicht zum Spurhalten. Ziel der Richtungspfeile und der Möglichkeit zum parallelen Abbiegen sei nämlich die Schaffung von mehr Verkehrsraum, der auch genutzt werden soll. Dem liefe der Vorrang des am weitesten rechts eingeordneten entgegen, weil dadurch die ausgewiesene zweite Abbiegespur nur erschwert zum Abbiegen verwendet werden und unbenutzt bleiben könne. Deshalb müsse bei paarweisen Rechtsabbiegen der Linksfahrende den Bogen so weit nehmen, dass er die in der rechten Spur fahrenden Fahrzeuge nicht in Bedrängnis bringe und umgekehrt. Dies gelte auch dann, wenn die Fahrbahnmarkierungen und Richtungspfeile an der Haltelinie endeten.
Das Gericht hat seine Bedenken gegen diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in mehreren Entscheidungen zurückgestellt, um Rechtseinheit zu wahren. Diese Entscheidungen betrafen jedoch Fälle des parallelen Abbiegens in eine Straße, in der nur zwei freie markierte Fahrstreifen vorhanden waren. Der vorliegende Fall zeigt, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes im Interesse der Verkehrssicherheit nicht haltbar ist. Die Fahrzeuge bogen parallel aus zwei markierten Rechtsabbiegerspuren in eine Straße ab, in der vier markierte Spuren frei waren.
Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die rechte Spur der J Straße – auch nur rechtlich – nicht zum Abbiegen zur Verfügung stand, verblieben immer noch drei freie Fahrstreifen zum Abbiegen. Es bleibt das Geheimnis des Bundesgerichtshofes, wie in derartigen Fällen gefahren werden soll. Soll das Rechtsfahrgebot dahingehend ausgelegt werden, dass beim parallelen Abbiegen nur in die erste und zweite freie Spur von rechts abgebogen werden darf? Oder soll der Rechtsabbieger, der sich links eingeordnet hat, den linken Fahrstreifen ansteuern, während der rechte Rechtsabbieger den rechten anvisiert, so dass der mittlere Fahrstreifen frei bleibt, um einen möglichst großen Abstand zwischen den Abbiegern zu wahren? Oder sollen schließlich beide Fahrzeuge auf die ersten beiden Fahrstreifen von links abbiegen? Die Unsicherheiten und Ungewissheiten lassen sich noch steigern, wenn Fahrzeuge auf einem der Fahrstreifen parken, im Stau stehen oder verbotswidrig anhalten. Man könnte sich auch eine Baustelle auf einen der Fahrstreifen denken, die von den markierten Abbiegerspuren noch gar nicht erkennbar ist, sondern erst im Verlauf des Abbiegens sichtbar wird. All diese Ungewissheiten und Möglichkeiten des städtischen Verkehrs zeigen, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum parallelen Abbiegen auf markierten Abbiegerstreifen den Erfordernissen des Straßenverkehrs nicht gerecht wird. Sie gefährdet geradezu die Verkehrssicherheit.
Darüber hinaus operiert sie mit Begriffen, die der Straßenverkehrsordnung völlig fremd sind. Eine "Pflicht zum Spurhalten" hat der erkennende Richter in der Straßenverkehrsordnung nicht finden können. Weder § 7 StVO, auf den sich der Bundesgerichtshof stützt, noch § 9 StVO verwenden den Begriff der "Spur". Dieser wird allenfalls in Zusammenhang mit dem Fahrzeug selbst (mehrspuriges Fahrzeug – § 7 Abs. 1 Satz 2 StVO), nicht aber zur Beschreibung eines Teils der Fahrbahn benutzt. Hier ist der Begriff "Fahrstreifen" maßgebend. Noch diffuser wird die Sprache des Bundesgerichtshofes, wenn ausgeführt wird, "der Bogen" sei soweit zu fahren, dass die Fahrzeuge auf der rechten Spur nicht behindert werden. Was nun ein "Bogen" im Rechtssinne sein soll oder im verkehrstechnischen Sinne, bleibt das Geheimnis des Bundesgerichtshofes.
Angesichts der Vielzahl der Gestaltungsmöglichkeiten der Fahrbahnen beim Abbiegen ist Verkehrssicherheit nur durch die bisherige Regel, dass das Fahrzeug, dass sich entsprechend § 9 Abs. 1 Satz 2 StVO auf der Innenbahn eingeordnet hat, Vorrang beim Abbiegen hat. Unabhängig davon, wie viele Fahrstreifen sich auf der Straße befinden, in die die Fahrzeuge nebeneinander abbiegen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes verwässert klare Regeln. Diese sind im Interesse der Verkehrssicherheit aber erforderlich. Es geht nicht an, im Nachhinein derartige Regeln auf der Haftungsebene aufzuweichen (vgl. auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur so genannten halben Vorfahrt).
Das Gericht folgt deshalb dieser Rechtsprechung nicht mehr.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.