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BayObLG Urteil vom 17.02.1978 - RReg 1 St 1/78 - Kein Vertrauensgrundsatz des Wartepflichtigen auf Beachtung des Haltegebots bei abknickender Vorfahrt
BayObLG v. 17.02.1978: Kein Vertrauensgrundsatz des Wartepflichtigen auf Beachtung des Haltegebots bei abknickender Vorfahrt
Das BayObLG (Urteil vom 17.02.1978 - RReg 1 St 1/78) hat entschieden:
Bei abknickender Vorfahrt hat im Verhältnis der untergeordneten Straßen zueinander auch dann der von rechts kommende Fahrzeugführer die Vorfahrt, wenn in der von ihm befahrenen Straße das Zeichen 206, in der anderen dagegen nur das Zeichen 205 aufgestellt ist; der von links Kommende darf in diesem Falle auch nicht darauf vertrauen, dass der Vorfahrtberechtigte pflichtgemäß vor der Kreuzung anhalten und dass es deshalb gar nicht zu einem Vorfahrtfall kommen werde (Ergänzung zu BGH NJW 1974, 949).
Siehe auch Irreführendes Falschblinken des Vorfahrtberechtigten und Stichwörter zum Thema Vorfahrt
Tatbestand:
Der Angeklagte fuhr mit seinem Personenkraftwagen auf der Staatsstraße 2368 von L. kommend in Richtung D.. Auf diese Straße traf von links eine Kreisstraße und von rechts eine Gemeindeverbindungsstraße. Die Kreisstraße und der in Richtung D. weiterführende Teil der Staatsstraße waren durch Zeichen 306 mit Zusatzschild zu einer abknickenden Vorfahrtstraße verbunden. In dem von L. kommenden Teil der Staatsstraße war das Zeichen 205 "Vorfahrt gewähren"! und in der Gemeindeverbindungsstraße das Zeichen 206 "Halt! Vorfahrt gewähren" je mit einem den Verlauf der Vorfahrtstraße kennzeichnenden Zusatzschild aufgestellt. Gleichzeitig mit dem Angeklagten näherte sich E. ebenfalls mit einem Personenkraftwagen der Kreuzung. Der mit den örtlichen Verhältnissen vertraute Angeklagte fuhr in der Annahme, E. werde das für ihn maßgebende Haltegebot beachten und er selbst könne daher ohne anzuhalten in die seinerzeit von keinem anderen Verkehrsteilnehmer befahrene Vorfahrtstraße einfahren, bevor E. sein Fahrzeug wieder in Bewegung setzen werde, zügig in die Kreuzung ein. Da E. unter Missachtung des Haltegebots dasselbe tat, stießen die beiden Fahrzeuge in der Kreuzung zusammen. Hierbei wurde E. getötet und seine Beifahrerin schwer verletzt.
Beide Vorinstanzen haben den Angeklagten wegen eines Vergehens der fahrlässigen Tötung in Tateinheit mit einem Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung verurteilt. Die Revision des Angeklagten blieb erfolglos.
Entscheidungsgründe:
1. Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass nach § 8 Abs 1 Satz 1 StVO der Angeklagte gegenüber dem für ihn von rechts kommenden E. wartepflichtig war. Denn wenn zwei Straßenteile durch das Zusatzschild zu Zeichen 306 zu einer abknickenden Vorfahrtstraße verbunden sind, gilt im Verhältnis der gegenüber der Vorfahrtstraße untergeordneten Straßen zueinander die allgemeine Regel, dass der von rechts Kommende vorfahrtberechtigt ist, und zwar auch dann, wenn in der rechten untergeordneten Straße das ein Haltegebot anordnende Zeichen 206, in der linken dagegen das lediglich zur Gewährung der Vorfahrt verpflichtende Zeichen 205 (jeweils mit auf die abknickende Vorfahrt hinweisenden Zusatzschildern) aufgestellt ist; denn die beiden Zeichen sind von Bedeutung nur für das Verhältnis der Benutzer der untergeordneten Straßen zu denjenigen des durch Zeichen 306 mit Zusatzschild als bevorrechtigt gekennzeichneten Straßenzugs (BGH NJW 1974; 949; Möhl in Müllers Straßenverkehrsrecht 22. Aufl StVO § 8 RdNr 38; Cramer Straßenverkehrsrecht 2. Aufl StVO § 8 RdNr 58; Jagusch Straßenverkehrsrecht 23. Aufl StVO § 8 RdNr 43; vgl auch Mühlhaus StVO 7. Aufl § 8 Anm 9b).
2. Ebenso ist dem Landgericht darin beizutreten, dass dem Angeklagten ein etwaiger Irrtum über diese an sich klare Rechtslage vorzuwerfen ist. Wenn er geglaubt haben sollte, er sei - obwohl in der von ihm befahrenen Straße kein ihm die vorfahrt einräumendes Verkehrszeichen, sondern allein das Zeichen 205 aufgestellt war - gegenüber von rechts aus der zweiten untergeordneten Straße kommenden Fahrzeugen vorfahrtberechtigt, so mussten sich hiergegen auch einem nicht rechtskundigen Kraftfahrer schwere Zweifel aufdrängen. Der Angeklagte durfte deshalb keinesfalls ohne nähere Prüfung von der Richtigkeit einer solchen Rechtsansicht ausgehen; vielmehr hätte er bei einer sachkundigen Stelle Erkundigungen einziehen müssen. Solange er dies nicht getan hatte, konnte er nicht ohne Verschulden der sicheren Auffassung sein, er sei vorfahrtberechtigt, und musste daher diejenigen Pflichten erfüllen, die ihn trafen, wenn er entgegen seiner Meinung doch wartepflichtig war (vgl BayObLG v 10.5.1961 RReg 1 St 154/61; Möhl aaO RdNr 8). Bei dieser Sachlage braucht nicht mehr erörtert zu werden, ob sich nicht bereits aus der eigenen im angefochtenen Urteil wiedergegebenen Einlassung des Angeklagten ergibt, dass er sich seiner Wartepflicht bewusst war und dass Zweifel an dieser Wartepflicht erst nachträglich von seinem Verteidiger geäußert wurden.
3. Eine andere Beurteilung ergibt sich schließlich entgegen der Meinung der Revision nicht daraus, dass der von rechts kommende E. im Hinblick auf das in der von ihm befahrenen Straße aufgestellte Zeichen 306 verpflichtet gewesen wäre, ohne Rücksicht darauf, ob sich auf einer der anderen Straße Fahrzeuge näherten oder nicht, vor Einfahrt in die Kreuzungsfläche anzuhalten, und dass dann, wenn er dieser Pflicht nachgekommen wäre, ein Vorfahrtfall gar nicht eingetreten wäre, weil in diesem Falle E. erst in einem Zeitpunkt in die Kreuzung hätte einfahren können, in dem der Angeklagte sie längst wieder verlassen gehabt hätte. Der Angeklagte durfte nämlich nicht darauf vertrauen, dass E. - pflichtgemäß - vor Einfahrt in die Kreuzung anhalten werde.
Den Wartepflichtigen trifft im Verhältnis zu einem ihm gegenüber vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmer eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Diese schließt eine Anwendung des sogenannten Vertrauensgrundsatzes zugunsten des Wartepflichtigen zwar nicht schlechthin aus, schränkt aber doch seine Anwendbarkeit wesentlich ein. Der Wartepflichtige darf sich nicht grundsätzlich auf ein verkehrsgerechtes Verhalten eines ihm gegenüber bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers verlassen, sondern muss in erheblichem Umfang der Möglichkeit Rechnung tragen, dass ein solcher Verkehrsteilnehmer gegen Verkehrsregeln verstoßen könnte (BGHSt 20, 238/241; BayObLGSt 1974, 3/5; 1974, 80/81; 1975, 35/37; 1975, 39/40; Möhl aaO RdNr 14; Cramer aaO RdNrn 116ff; Mühlhaus aaO Anm 6g). Im allgemeinen kann er nur auf das Unterbleiben atypischer grober Verkehrsverstöße vertrauen (vgl Cramer aaO RdNr 119f). Um einen solchen handelt es sich hier aber nicht.
Dass der Benutzer einer mit dem Zeichen 206 gekennzeichneten untergeordneten Straße unter Missachtung des durch dieses Zeichen angeordneten Haltegebots ohne vorheriges Anhalten in die bevorrechtigte Straße einfährt, wenn er bereits vor Erreichen der Kreuzung erkannt hat oder wenigstens erkannt zu haben glaubt, dass sich kein vorfahrtberechtigter Verkehrsteilnehmer nähert, ist keineswegs so ungewöhnlich, dass auch ein Wartepflichtiger trotz der ihn treffenden gesteigerten Sorgfaltspflicht eine derartige Möglichkeit nicht in Rechnung stellen müsste. Darauf, dass er ihm gegenüber nach § 8 Abs 1 Satz 1 StVO vorfahrtberechtigte Fahrzeugführer einem Haltegebot - das ihm deshalb auferlegt ist, weil er seinerseits gegenüber Benutzern einer anderen Straße wartepflichtig ist - nachkommen werde, darf deshalb der Wartepflichtige ebensowenig vertrauen, wie er etwa darauf vertrauen darf, dass Vorfahrtberechtigte nur auf der für sie rechten Fahrbahnhälfte nahen werden (vgl zu letzterem BGH aaO mw Nachw). Dies gilt unabhängig davon, wie die Sichtverhältnisse sich für den aus der rechten Nebenstraße Kommenden gestalten. Auch wenn diese so schlecht sind, dass er selbst bei Nichtvorhandensein eines Zeichens 206 vor der Einfahrt in die bevorrechtigte Straße anhalten müsste, um ausreichende Sicht auf den bevorrechtigten Verkehr zu bekommen, darf der von links kommende Wartepflichtige nicht auf ein solches Verhalten vertrauen. Es ist deshalb unerheblich, dass das Landgericht keine Feststellungen darüber getroffen hat, welche Einsichtmöglichkeiten der Unfallbeteiligte E. in die bevorrechtigte Straße hatte.
Angesichts dieser Rechtslage kommt es nicht mehr darauf an, ob nicht schon die von E. eingehaltene Geschwindigkeit bereits in einem Zeitpunkt, in dem der Angeklagte noch vor der Kreuzung hätte anhalten können, Anlass zu der Befürchtung hätte geben müssen, er werde pflichtwidrig das Haltegebot missachten. Es braucht daher nicht erörtert zu werden, ob die vom Landgericht getroffenen Feststellungen ausreichen würden, um ein Verschulden des Angeklagten an dem Zusammenstoß unter diesem Gesichtspunkt zu bejahen.
Ob eine andere Beurteilung dann in Betracht käme, wenn das Fahrverhalten des von rechts kommenden Vorfahrtberechtigten deutlich auf eine Absicht, Am Stop-Schild anzuhalten, hinweisen würde, bedarf keiner Entscheidung; denn ein solcher Fall lag hier nach den Feststellungen des Landgerichts nicht vor.