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BGH Urteil vom 19.03.1996 - VI ZR 380/94 - Zur Anwendung des Anscheinsbeweises beim Abkommen von der Fahrbahn
BGH v. 19.03.1996: Zur Anwendung des Anscheinsbeweises beim Abkommen von der Fahrbahn
Der BGH (Urteil vom 19.03.1996 - VI ZR 380/94) hat entschieden:
- Die Rechtsgrundsätze zum Anscheinsbeweis dürfen nur dann herangezogen werden, wenn sich unter Berücksichtigung aller unstreitigen und festgestellten Einzelumstände und besonderen Merkmale des Sachverhalts ein für die zu beweisende Tatsache nach der Lebenserfahrung typischer Geschehensablauf ergibt (im Anschluss an BGH, 1985-11-19, VI ZR 176/84, VersR 1986, 343, 344).
- An einem derartigen typischen Lebenssachverhalt fehlt es, wenn ein Kraftfahrer zwar von einer geraden und übersichtlichen Fahrbahn abkommt, dies aber in unmittelbarem Zusammenhang damit steht, dass er bei Gegenverkehr von einem anderen Fahrzeug überholt wird, das den Überholvorgang nur knapp zu Ende führen kann.
Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, bei dem er als Beifahrer in einem vom Beklagten zu 1) gesteuerten und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw schwer verletzt worden ist.
Am 27. August 1990 gegen 0.05 Uhr hat ein nicht näher identifizierter Pkw auf einem geraden und übersichtlichen Teilstück der Bundesstraße 414 in der Gemarkung A. bei Gegenverkehr das Fahrzeug des Beklagten zu 1) überholt. Letzteres ist im Zusammenhang mit diesem Überholmanöver nach rechts von der Fahrbahn abgekommen und gegen einen Baumstumpf geprallt. Der genaue Ablauf des Unfallhergangs ist zwischen den Parteien streitig. Beim Beklagten zu 1) ist nach dem Unfall eine Blutalkoholkonzentration von 0,65 %o festgestellt worden.
Der Kläger hat ein schweres Schädelhirntrauma mit Hirnleistungsminderung und Halbseitenlähmung erlitten. Er ist nicht in der Lage, eine Berufstätigkeit auszuüben; vielmehr ist er auf ständige Hilfe, Pflege und Betreuung angewiesen. Er hat dem Beklagten zu 1) vorgeworfen, dieser habe den Unfall infolge Alkoholgenusses und nicht ausreichender Fahrpraxis auf deutschen Straßen schuldhaft herbeigeführt; es habe für ihn kein Grund bestanden, im Hinblick auf den Überholvorgang verkehrsbedingt nach rechts auszuweichen. Der Kläger hat Ersatz materieller Schäden, Zahlung eines Schmerzensgeldes und Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten begehrt.
Das Landgericht hat - unter Abweisung der Klage im übrigen - die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 120.000 DM verurteilt und dem Feststellungsantrag stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung des Klägers mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Leistungspflicht der Beklagten zu 2) auf die vertraglich vereinbarte Versicherungssumme von 7 Millionen DM begrenzt werde. Mit der Revision verfolgen die Beklagten ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger hat seine auf die Höhe des Haftungsbegrenzungsausspruchs beschränkte, allein in Richtung gegen die Beklagte zu 2) eingelegte Revision zurückgenommen, nachdem das Berufungsgericht sein Urteil dahin berichtigt hat, dass die Versicherungssumme 7,5 Millionen DM betrage.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht ist der Ansicht, das Abkommen des Pkw, dessen Insasse der Kläger gewesen ist, von der Fahrbahn sei kraft ersten Anscheins auf einen schuldhaften Fahrfehler des Beklagten zu 1) zurückzuführen. Wenn ein Kraftfahrzeug auf gut ausgebauter Straße von der Fahrbahn abgerate, spreche dies dafür, dass dem entweder eine überhöhte Geschwindigkeit oder eine vorwerfbare Unaufmerksamkeit des Fahrers zugrunde liege.
Der Anscheinsbeweis sei hier nicht durch Darlegung und Nachweis von Tatsachen erschüttert, die auf eine ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs hinweisen könnten, bei dem ein Verschulden des Beklagten zu 1) nicht vorliege. Die Beweisaufnahme habe nicht zu Feststellungen von Tatsachen geführt, aus denen ernsthaft darauf zu schließen wäre, dass ein Ausweichen des Beklagten zu 1) nach rechts eine vernünftige und verkehrsgerechte Reaktion auf das Überholmanöver des nicht weiter identifizierten Pkw habe darstellen können. Vielmehr liege ein Fehlverhalten hier um so näher, als der Beklagte zu 1) noch keine große Fahrpraxis im deutschen Straßenverkehr gehabt habe und mit 0,65 %o unter Alkoholeinfluss unterwegs gewesen sei.
II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht einen schuldhaften Fahrfehler des Beklagten zu 1) für nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises erwiesen erachtet. Es fehlt aufgrund der getroffenen Feststellungen bereits an einem hierfür erforderlichen typischen Geschehensablauf.
1. Dass die Revisionsangriffe ihrem Wortlaut nach im wesentlichen gegen die Überlegungen gerichtet sind, mit denen das Berufungsgericht eine Erschütterung des Anscheinsbeweises durch die Beklagten verneint hat, hindert die revisionsrechtliche Überprüfung auch des Problems der Typizität des Geschehensablaufs unter den hier gegebenen Umständen nicht.
Der Sache nach greift die Revision der Beklagten hier die Bewertung an, die das Berufungsgericht im Hinblick auf die erhobenen Beweise und die getroffenen Feststellungen dem im Zusammenhang mit dem Abkommen des Beklagten zu 1) von der Fahrbahn abgelaufenen Überholvorgang hat angedeihen lassen. Insoweit zielen die Revisionsangriffe inhaltlich gerade auch auf die Gesichtspunkte ab, die von wesentlicher Bedeutung nicht erst für die Frage der Erschütterung des Anscheinsbeweises, sondern bereits für dessen Grundlage, nämlich die Typizität des Geschehensablaufes, sind.
2. Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (vgl. Senatsurteile vom 24. März 1959 - VI ZR 82/58 - VersR 1959, 518, 519 und vom 19. November 1985 - VI ZR 176/84 - VersR 1986, 343, 344; zur erforderlichen Typizität auch Senatsurteil vom 3. Juli 1990 - VI ZR 239/89 - VersR 1991, 195).
a) Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, dass es in diesem Sinne der allgemeinen Lebenserfahrung entspricht, dass einem Kraftfahrer, der mit dem von ihm geführten Kraftfahrzeug von einer geraden und übersichtlichen Fahrbahn abkommt, ein bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt vermeidbarer Fahrfehler zur Last fällt (vgl. z. B. Senatsurteil vom 19. September 1989 - VI ZR 349/88 - VersR 1989, 1197, 1198). Indessen reicht allein das "Kerngeschehen" des Abkommens von der Fahrbahn als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, der im Rahmen des Unfallereignisses seine Fahrbahn verlassen hat, schuldhaft gehandelt hat (vgl. im einzelnen Senatsurteil vom 19. November 1985 - VI ZR 176/84 - aaO). Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann also stets nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben. Der Typizität kann gegebenenfalls auch bereits das Vorbringen desjenigen entgegenstehen, der sich auf den Anscheinsbeweis berufen will.
b) Im vorliegenden Fall zeigt die hiernach gebotene Gesamtbetrachtung aller bekannten Sachverhaltsumstände, dass gerade nicht der typische Fall des nach allgemeiner Lebenserfahrung schuldhaften Abkommens eines Kraftfahrzeugs von gerader und übersichtlicher Fahrbahn vorliegt. Den Feststellungen des Berufungsgerichts ist zu entnehmen, dass das Abkommen des Beklagten zu 1) von der Fahrbahn im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Überholvorgang stand, bei welchem das Fahrzeug des Beklagten zu 1) durch einen anderen Pkw, und zwar bei Gegenverkehr, überholt worden ist. Das Berufungsgericht geht selbst davon aus, dass der Überholvorgang aufgrund des entgegenkommenden Verkehrs nur knapp zu Ende geführt werden konnte. Auch wenn offen bleibt, ob der überholende Pkw den Beklagten zu 1) nach rechts von der Fahrbahn abgedrängt hat, reichen die feststehenden Sachverhaltselemente bereits aus, um dem Geschehensablauf die als Grundlage des Anscheinsbeweises erforderliche Typizität zu nehmen.
Denn es geht nun nicht mehr um ein schlichtes Abkommen eines Kraftfahrzeugs von einer geraden und übersichtlichen Strecke, das nach allgemeiner Lebenserfahrung auf einen Fahrfehler des betreffenden Kraftfahrers schließen lässt. Vielmehr handelt es sich darum, dass der Beklagte zu 1) im Rahmen eines komplexen, von vornherein gefahrträchtigen Verkehrsgeschehens, an dem mehrere Kraftfahrzeuge beteiligt waren, von der Fahrbahn abgeraten ist, so dass allein die allgemeine Lebenserfahrung keinen hinreichenden Schluss darauf zulässt, dass dies auf einem vorwerfbaren Sorgfaltsverstoß des Beklagten zu 1) beruht. Einen den Anscheinsbeweis begründenden Erfahrungssatz dahin, dass in einer derartigen Verkehrssituation das Unfallgeschehen typischerweise auf eine Fehlreaktion eines Fahrers mit wenig Verkehrspraxis zurückzuführen ist, vermag der Senat nicht zu erkennen. Unter diesen Umständen kann auf ein Verschulden des Beklagten zu 1) von vornherein nicht nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins geschlossen werden.
3. Da die Anwendung des Anscheinsbeweises hier bereits an der fehlenden Typizitätsgrundlage scheitert, kommt es auf die Frage nach seiner Erschütterung nicht mehr an. Die Revision weist allerdings zu Recht auf erhebliche Bedenken hin, die auch insoweit gegen die Überlegungen des Berufungsgerichts bestehen. Es spricht einiges dafür, dass das Berufungsgericht an die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs rechtsfehlerhaft zu hohe Anforderungen gestellt hat, indem es wesentlich darauf abgehoben hat, dass nicht festzustellen war, ob das überholende Fahrzeug bereits während des Überholvorgangs wieder nach rechts gelenkt und damit den Beklagten zu 1) konkret bedrängt hat. Indessen braucht den hieraus resultierenden Fragen unter den gegebenen Umständen nicht näher nachgegangen zu werden.
III.
Da die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts auf der rechtsfehlerhaften Heranziehung der Grundsätze zum Anscheinsbeweis beruht, war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Denn es kann entgegen der Revisionserwiderung aufgrund der Ausführungen im Berufungsurteil nicht davon ausgegangen werden, dass das Berufungsgericht auch ohne Anscheinsbeweis von einem unfallursächlichen Fahrfehler des Beklagten zu 1) überzeugt gewesen wäre. Im erneuten Berufungsdurchgang werden die Beklagten Gelegenheit haben, auch zu ihren weiteren Einwendungen gegen die bisherigen Überlegungen des Berufungsgerichts noch vorzutragen.