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OLG Koblenz Urteil vom 03.12.2012 - 12 U 1473/11 - Zum Haftungsanteil des Halters eines Linienbusses bei einem Haltestellenunfall
OLG Koblenz v. 03.12.2012: Zum Haftungsanteil des Halters eines Linienbusses bei einem Haltestellenunfall
Das OLG Koblenz (Urteil vom 03.12.2012 - 12 U 1473/11) hat entschieden:
Ist die Schädigung eines Schülers unmittelbar durch die Einwirkung "schubsender" und "drängender" aber haftungsprivilegierter Mitschüler entstanden, so greifen die Regeln des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs ein. Dies bedeutet, dass der verletzte Schüler die Halterin eines Linienbusses, unter dessen Rad er an einer Haltestelle durch Schubsereien von hinten geraten ist, nicht gemäß § 421 BGB auf den vollen Schaden in Anspruch nehmen kann, sondern nur auf den Anteil, den die Halterin des Busses bei einer Abwägung zwischen den Haftungsanteilen der mehreren Schädigergruppen im Innenverhältnis zu tragen hätte, wenn die Haftungsprivilegierung hinweggedacht würde (hier 50%).
Gründe:
I.
Mit der Klage macht der Kläger Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einem Verkehrsunfallereignis vom 07.03.2008 an der Bushaltestelle in der …[X]straße in …[Y] geltend. Der Beklagte zu 1. war zum Unfallzeitpunkt Fahrer des in den Unfall involvierten Linienbusses, die Beklagte zu 2. die Halterin.
Am Unfalltag wartete der damals elf Jahre alte Kläger nach der Schule zusammen mit einer Vielzahl von Schülern auf das Eintreffen des Linienbusses an der Bushaltestelle in der ...[X]straße. Der Kläger stand in der ersten Reihe, wobei hinter ihm durch die ebenfalls wartenden Schüler ein erhebliches Gedränge stattfand. Aufgrund des für den Beklagten zu 1. wahrnehmbaren Gedränges fuhr dieser äußerst langsam und vorsichtig in den Bereich der Haltestelle ein. Der Kläger geriet aufgrund des Gedränges der anderen Schüler mit dem linken Fuß unter das rechte Vorderrad des Busses. Der Kläger zog sich hierbei u. a. eine 5 cm lange klaffende Risswunde über dem lateralen Fußrücken und eine weitere ca. 3 cm lange Risswunde über dem Außenknöchel zu. Er wurde in der Folgezeit langwierig stationär und ambulant behandelt und musste sich u.a. mehrmaligen Wundversorgungen unter Vollnarkose unterziehen. Am 19.03.2008 erfolgte eine operative Defektdeckung mit Spalthauttransplantation, wobei diese Hauttransplantation teilweise nicht angenommen wurde. Der Kläger leidet seit seinem Unfall unter Taubheitsgefühlen am Fuß, zusätzlich wächst auch der betroffene Fuß nicht in dem selben Maß wie der gesunde.
Der Kläger hat beantragt,
- die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an ihn ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens aber 12.500,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus zu zahlen,
- festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, ihm sämtliche materiellen und immateriellen Schäden soweit diese zukünftig noch entstehen werden aus dem Unfall vom 7.03.2008 an der Bushaltestelle in der ...[X]straße in …[Y] zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden,
- die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, ihn von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren des Rechtsanwalts …[B] in Höhe von 899,40 € freizustellen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit seinem am 18.11.2011 verkündeten Urteil hat das Landgericht die Klage gegen den Beklagten zu 1. abgewiesen und die Beklagte zu 2. verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 12.500,00 € nebst Zinsen zu zahlen. Weiterhin hat es festgestellt, dass die Beklagte zu 2. verpflichtet ist, dem Kläger Ersatz in Höhe von 100 % der materiellen und immateriellen Schäden, soweit diese zukünftig noch entstehen werden, zu ersetzen. Schließlich hat es die Beklagte zu 2. verurteilt, den Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren des Rechtsanwalts …[B] in Höhe von 899,40 € freizustellen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte zu 2. Berufung eingelegt.
Die Beklagte zu 2. beantragt,
sie unter Abweisung der Klage im Übrigen zu verurteilen, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 € zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 29.03.2011,
festzustellen, dass sie verpflichtet ist, dem Kläger Ersatz in Höhe von 50 % der materiellen und immateriellen Schäden, soweit diese zukünftig noch entstehen werden, aus dem Unfall von 07.03.2008 an der Bushaltestelle in der ...[X]straße in …[Y] zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden,
sie zu verurteilen, den Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren, des Rechtsanwalts …[B] in Höhe von 603,92 € freizustellen.
Die Streithelferin der Beklagten zu 2. schließt sich den Anträgen der Beklagten zu 2. an.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze der Parteien nebst Urkunden sowie auf das angefochtene Urteil verwiesen.
II.
Die Berufung der Beklagten zu 2. hat überwiegend Erfolg.
Die Haftung der Beklagten zu 2. ergibt sich aus § 7 Abs. 1 StVG, da sich der streitgegenständliche Unfall beim Betrieb des Linienbusses ereignet hat. Das Vorliegen höherer Gewalt i. S. von § 7 Abs. 2 StVG kann nicht angenommen werden. Die Schadensersatzpflicht der Beklagten zu 2. beschränkt sich allerdings auf eine Quote von 50 %, da die Regeln des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs eingreifen.
Schüler sind gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII gesetzlich unfallversichert. Für ihre Haftung untereinander gilt deshalb nach § 106 Abs. 1 SGB VII die Regelung der §§ 104, 105 SGB VII entsprechend. Folglich sind gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII Schüler untereinander zum Ersatz des Personenschadens, den sie sich gegenseitig zufügen, nicht verpflichtet, wenn die Verletzungshandlung (Versicherungsfall) durch eine schulbezogene Tätigkeit verursacht wird, die Verletzungshandlung nicht vorsätzlich erfolgt und kein Wegeunfall i. S. des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SBG VII vorliegt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Schüler, die gemeinsam in ein Schulzentrum fahren, derselben Schule im organisatorischen Sinne angehören oder nicht (OLG Koblenz in VersR 1986, 595).
Eine Schulbezogenheit ist dann zu bejahen, wenn die Verletzungshandlung auf der typischen Gefährdung aus dem engen schulischen Kontakt beruht und somit ein innerer Bezug zum Schulbetrieb gegeben ist. Dies liegt vor, wenn eine Situation feststellbar ist, in der sich schulspezifische, gefährdende Verhaltensweisen einzustellen pflegen, nämlich Raufereien und Neckereien, die geprägt sind durch übermütiges, bedenkenloses Verhalten, Verlust des Verantwortungsgefühls im Rahmen einer Gruppe oder durch Imponiergehabe (OLG Koblenz in NJW-RR 2006, 1174; OLG Koblenz in VersR 1986, 596; BGH in VersR 2008, 1407). Nach den nicht zu beanstandenden Feststellungen des Landgerichts wartete der Kläger nach Schulschluss mit einer Vielzahl von Schülern auf das Eintreffen des Busses, wobei der betreffende Schülerpulk drängelte und der Kläger im Verlauf dieses Gedränges mit dem linken Fuß unter den Bus geriet. Es ist somit eine Situation gegeben, in der sich schulspezifische, gefährdende Verhaltensweisen, geprägt durch übermütiges, bedenkenloses Verhalten in geradezu klassischer Weise verwirklicht haben. Von einer Schulbezogenheit ist damit auszugehen.
Eine vorsätzliche Verletzungshandlung oder ein Wegeunfall i. S. des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SBG VII liegt nicht vor.
Ist somit die Schädigung des Klägers unmittelbar durch die Einwirkung "schubsender" und "drängender" aber haftungsprivilegierter Mitschüler entstanden - woran, wie oben ausgeführt, keine Zweifel bestehen - so greifen die Regeln des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs ein (siehe hierzu u. a. Palandt-Grüneberg, BGB, 71. Aufl., § 426 Rn. 18). Dies bedeutet, dass der Kläger die Beklagte zu 2. nicht gemäß § 421 BGB auf den vollen Schaden in Anspruch nehmen kann, sondern nur auf den Anteil, den die Beklagte zu 2. bei einer Abwägung zwischen den Haftungsanteilen der mehreren Schädigergruppen im Innenverhältnis zu tragen hätte, wenn die Haftungsprivilegierung hinweggedacht würde. Bei der Festlegung dieser Haftungsanteile war zu beachten, dass zwar von dem Linienbus eine ganz erhebliche Betriebsgefahr ausging, der Fahrer des Linienbusses, der Beklagte zu 1., sich aber äußerst vorsichtig und sorgfältig verhalten hat und ihn an dem Zustandekommen des Unfalls keinerlei Verschulden trifft. Als ganz maßgebliche Ursache für das Zustandekommen des Verkehrsunfalles ist hier das von den übrigen Schülern ausgehende Geschubse und Gedränge anzusehen. Der Sachverhalt unterscheidet sich insoweit auch von demjenigen, der dem Verfahren OLG Koblenz 12 U 1459/04 (NJW-RR 2006, 1174) zugrunde lag. Dort war ein schuldhaftes Verhalten des Busfahrers gegeben. Der Senat sieht hier eine Haftungsverteilung von jeweils 50 % als sachgerecht und angemessen an. Entsprechend war die begehrte Feststellung auszusprechen.
Was die Höhe des geltend gemachten Schmerzensgeldes angeht, ist festzustellen, dass der Kläger durch den Unfall unstreitig schwere Weichteilverletzungen erlitten hat. Er musste vier Wochen stationär im Krankenhaus behandelt werden und sich einer Hauttransplantation unterziehen, wobei diese teilweise nicht angeschlagen ist. Weiter war zu beachten, dass der Kläger bei jedem der zahlreichen Verbandswechsel narkotisiert werden musste, was für ein Kind unzweifelhaft eine ganz erhebliche Belastung darstellt. Unter weiterer Beachtung der nach wie vor bei dem Kläger vorliegenden Taubheitsgefühle im Bereich des verletzten Fußes und der bestehenden Wachstumsverzögerungen sieht auch der Senat, in Übereinstimmung mit dem Landgericht, ein Schmerzensgeld in Höhe von 12.500,00 € als angemessen an. Dem Kläger war folglich der hälftige Betrag in Höhe von 6.250,00 € zuzusprechen.
Was die zuerkannten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 661,16 € angeht, ergibt sich deren Berechtigung aus einem Gesamtbetrag in Höhe von 7.500,00 € aus Verzug (§ 286 BGB).
Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286, 288, 291 BGB.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97,101 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Für die Zulassung der Revision besteht kein Anlass. Die in § 543 Abs. 2 ZPO genannten Voraussetzungen liegen nicht vor.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 8.750,00 € festgesetzt.