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OLG Bamberg Beschluss vom 17.07.2012 - 3 Ss OWi 944/12 - Zur Aufstellung des Messgeräts in der Nähe der Ortstafel und zum Absehen vom Fahrverbot bei Augenblicksversagen

OLG Bamberg v. 17.07.2012: Zur Aufstellung des Messgeräts in der Nähe der Ortstafel und zum Absehen vom Fahrverbot bei Augenblicksversagen


Das OLG Bamberg (Beschluss vom 17.07.2012 - 3 Ss OWi 944/12) hat entschieden:
  1. Sieht der Tatrichter von einem Regelfahrverbot wegen einer innerörtlichen Geschwindigkeitsüberschreitung mit der Begründung ab, dass die Messstelle entgegen der einschlägigen landespolizeilichen Verkehrsüberwachungsrichtlinien in einem zu geringen Abstand vor der das Ende der innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit markierenden Ortstafel (Zeichen 311) eingerichtet wurde, sind weitere Feststellungen dazu unabdingbar, ob die Messstelle bzw. die Überwachungsstrecke nicht aufgrund der örtlichen Gegebenheiten z.B. als Unfallbrennpunkt bzw. Unfallgefahrenpunkt oder aufgrund sonstiger besonderer Verkehrsverhältnisse oder anderer gefahrerhöhender Umstände sachlich gerechtfertigt und damit ermessensfehlerfrei ausgewählt wurde (u.a. Anschluss an OLG Bamberg DAR 2006, 464f., OLG Stuttgart DAR 2011, 220, OLG Dresden DAR 2010, 29f.; BayObLG NZV 1995, 496f. = DAR 1995, 495f. und BayObLG NZV 2002, 576f. = zfs 2003, 42).

  2. Macht der Betroffene geltend, aufgrund einer Probefahrt mit einem ihm unbekannten und ungewohnten Fahrzeug eine innerörtliche Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit übersehen zu haben, scheidet eine Ausnahme von einem an sich verwirkten Regelfahrverbot aufgrund besonderer Tatumstände, insbesondere die Anerkennung eines privilegierendes sog. Augenblicksversagens, regelmäßig aus (Anschluss an OLG Frankfurt DAR 2002, 82f.).

Siehe auch Stichwörter zum Thema Fahrverbot und Stichwörter zum Thema Geschwindigkeit


Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat den bislang straßenverkehrsrechtlich nicht in Erscheinung getretenen Betroffenen, einen nach den Urteilsfeststellungen seit mehr als 20 Jahren überwiegend auf Provisionsbasis im Außendienst mit Kundenbetreuungen im südostbayerischen Raum sowie von Großbaustellen bis in den Raum Nürnberg tätigen Vertreter, wegen einer am 09.11.2011 als Führer eines Pkw anlässlich einer Probefahrt fahrlässig begangenen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 39 km/h zu einer Geldbuße von 320 Euro verurteilt. Von dem im Bußgeldbescheid neben einer dort vorgesehenen Regelgeldbuße von 160 Euro angeordneten Fahrverbot von einem Monat nach Maßgabe des § 25 Abs. 2a StVG hat das Amtsgericht demgegenüber abgesehen.

Mit ihrer ausweislich der Rechtsmittelanträge und ihrer Begründung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsbeschwerde rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts. Sie beanstandet, dass das Amtsgericht zu Unrecht von der Verhängung eines Fahrverbots gegen den Betroffenen abgesehen hat.


II.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte, insbesondere fristgerecht eingelegte und zulässig auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Rechtsbeschwerde ist begründet. Wenn auch das Amtsgericht nicht verkannt hat, dass wegen der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 39 km/h gemäß §§ 24, 25 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., 26 a StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1c zum BKat die Anordnung eines Fahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers in der Regel in Betracht kam, vermögen jedenfalls die bisherigen Feststellungen eine Ausnahme von dem verwirkten Regelfahrverbot auch angesichts der Verdoppelung der Regelgeldbuße nicht zu rechtfertigen.

1. Zwar hat das Amtsgericht zu Recht die vom Betroffenen geltend gemachten persönlichen, beruflichen und wirtschaftlichen Folgen eines Fahrverbots bedacht und in den Urteilsgründen thematisiert. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage gebot schon das rechtsstaatliche Übermaßverbot. Es entspricht andererseits ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung, dass Angaben eines Betroffenen, es drohe bei Verhängung eines Fahrverbots der Existenzverlust, nicht ungeprüft übernommen werden dürfen. Vielmehr ist ein derartiger Vortrag vom Tatrichter kritisch zu hinterfragen, um das missbräuchliche Behaupten eines solchen Ausnahmefalles auszuschließen. Zugleich wird das Rechtsbeschwerdegericht nur so in die Lage versetzt, die Rechtsanwendung nachzuprüfen.

2. Dies ist hier zumindest nicht mit der gebotenen Sorgfalt geschehen. Insbesondere vermag der Senat anhand der Urteilsgründe schon im Ansatz nicht zu übersehen, ob die durchgängig unbestimmten Feststellungen und Wertungen des Amtsgerichts zur konkreten Ausgestaltung der beruflichen Tätigkeit des Betroffenen einschließlich der Frage der Möglichkeiten der Urlaubsgewährung und weiterer Kompensationsmöglichkeiten auf einer hinreichenden Grundlage beruhen. Feststellungen zur konkreten Einkommens- und Vermögenslage des Betroffenen fehlen vollständig, so dass beispielsweise offen bleibt, ob und gegebenenfalls warum der Betroffene unter Berücksichtigung seiner finanziellen Gesamtsituation gerade aufgrund des Fahrverbots etwa den Verlust seines Arbeitsplatzes oder aber die Gefährdung eines existenzgewährleistenden Einkommens zu vergegenwärtigen hätte. Vielmehr erscheint eine konkret existenzbedrohende Wirkung eines (lediglich) einmonatigen Fahrverbots eher fernliegend. Wird wegen der drohenden Verhängung eines Fahrverbots eine existenzielle Betroffenheit geltend gemacht, ist bei Selbständigen, Handwerkern oder Freiberuflern die Vorlage hinreichend aussagekräftiger Unterlagen wie Bilanzen, Kontounterlagen, Steuerbescheide oder Gewinnermittlungen grundsätzlich unabdingbar. Ob das Amtsgericht insoweit, etwa durch zeugenschaftliche Einvernahme des betrieblichen Steuerberaters bzw. eines Mitarbeiters oder Sachbearbeiters des genannten Schraubenherstellers Beweis erhoben hat, ist nicht zu ersehen.

Hinzu kommt, dass sich das Amtsgericht unzureichend damit auseinander gesetzt hat, weshalb es dem Betroffenen auch wegen des nach Sachlage zu gewährenden Vollstreckungsaufschubs nach § 25 Abs. 2a Satz 1 StVG tatsächlich nicht möglich und zumutbar sein sollte, den Beginn des Fahrverbots innerhalb des zeitlichen Rahmens von vier Monaten zumindest teilweise auf einen ihm günstigeren Zeitpunkt zu legen und dadurch sowie durch weitere und dann durchaus zumutbare Ausgleichs- und innerbetriebliche Reorganisationsmaßnahmen, etwa der vorübergehenden Einstellung eines Mitarbeiters als Fahrer, die Folgen des Fahrverbotes so weit abzumildern, dass die Gefahr einer Existenzvernichtung sicher abzuwenden wäre. Allein mit dem Hinweis, dass der verheiratete Betroffene aufgrund eines Rückenleidens seiner Ehefrau nicht auf deren Fahrdienste zurückgreifen kann, durften all diese Fragen keinesfalls unbeantwortet bleiben.

3. Die in der Bußgeldkatalogverordnung vorgesehenen Regelahndungen gehen von fahrlässiger Begehung, gewöhnlichen Tatumständen und fehlenden Vorahndungen des Betroffenen aus (vgl. § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 1 BKatV). Dass der zur (selbständigen oder unselbständigen) Berufsausübung - nicht anders wie jeder Berufskraftfahrer -auf höchstmögliche Mobilität angewiesene und bislang trotz erheblicher jährlicher Fahrleistungen zwischen 50.000 und 60.000 Kilometern straßenverkehrsrechtlich unauffällige Betroffene angab, zur regelmäßigen Betreuung seiner Kunden auf die Fahrzeugnutzung angewiesen zu sein, kann ein Abweichen von der Regelahndung deshalb auch dann nicht rechtfertigen, wenn dem Betroffenen aufgrund eines uneingeschränkten und Schuldeinsicht belegenden Tatgeständnisses oder seines konkreten Verteidigungsverhaltens oder eines in der Hauptverhandlung hinterlassenen positiven persönlichen Eindrucks eine günstige Prognose hinsichtlich seines künftigen Verkehrsverhaltens mit guten Gründen zugebilligt werden mag.

Nach alledem kann der Senat nicht ausschließen, dass das Amtsgericht seinen Feststellungen letztlich einseitig die Angaben des Betroffenen zu Grunde gelegt und diese im Ergebnis ohne hinreichende Ausschöpfung sonstiger Beweismittel nur einer an der Oberfläche verbleibenden Plausibilitätsprüfung unterzogen hat. Dies genügt den aus § 267 Abs. 3 StPO in Verbindung mit § 71 Abs. 1 OWiG resultierenden sachlich-rechtlichen Anforderungen an die Abfassung der Urteilsgründe regelmäßig nicht.

4. Entsprechendes gilt, soweit das Amtsgericht daraus, dass sich die Messstelle zwar „formal" innerorts, tatsächlich jedoch „nur knapp 200 Meter" bzw. „sogar um einiges unter der Regelentfernung von 200 Metern" vor dem das Ende der innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit markierenden Ortstafel (Zeichen 311) bei nur noch einseitiger und lockerer Bebauung befand, eine Privilegierung des Betroffenen herleitet. Denn insoweit fehlen bereits nahe liegende Angaben und Feststellungen dazu, ob die Messstelle bzw. die Überwachungsstrecke nicht aufgrund der örtlichen Gegebenheiten z.B. als Unfallbrennpunkt bzw. Unfallgefahrenpunkt oder aufgrund sonstiger besonderer Verkehrsverhältnisse (z.B. Kreuzung, Einmündung, Fußgängerüberweg, Bushaltestelle, anliegende öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten etc.) oder anderer gefahrerhöhender Umstände (vgl. hierzu die einschlägige 'Ergänzende Weisung Nr. 1 [Geschwindigkeit allgemein - Stand: 12.01.2011]' zur Richtlinie für die polizeiliche Verkehrsüberwachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 12.05.2006 [VÜ-Richtlinie-VÜR; AIIMBl 2006, 155]) sachlich gerechtfertigt und damit ermessensfehlerfrei ausgewählt wurde (vgl. neben OLG Bamberg DAR 2006, 464 f. zuletzt auch OLG Stuttgart DAR 2011, 220 und OLG Dresden DAR 2010, 29 f. sowie schon BayObLG NZV 1995, 496 f. = DAR 1995, 495 f. und BayObLG NZV 2002, 576 f. = zfs 2003, 42; eingehend hierzu Burhoff/Deutscher, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 3. Aufl. [2011], Rn. 1089 ff. m. zahlr. weit. Nachw.).

5. Ein im Einzelfall eine Ausnahme von dem an sich verwirkten Regelfahrverbot rechtfertigender besonderer Tatumstand oder gar ein privilegierendes sog. Augenblicksversagen im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 43, 241/250 ff.; zu den insoweit gesteigerten Darlegungsanforderungen vgl. BayObLGSt 1999, 4/5 ff.; 2000, 106/107 f. und BayObLG DAR 2000, 577; ferner u.a. auch OLG Bamberg VerkMitt. 2007 Nr. 57 = DAR 2007, 94 [Ls] = NStZ-RR 2007, 123 [Ls] sowie bereits OLG Bamberg, Beschluss vom 08.05.2005 - 2 Ss OWi 192/05) folgt schließlich auch nicht daraus, dass sich die erhebliche innerörtliche Geschwindigkeitsüberschreitung während einer Probefahrt des kaufinteressierten Betroffenen, also mit einem für ihn unbekannten und ungewohnten Fahrzeug ereignete. Im Gegenteil: Ein hier allein in Betracht zu ziehender Wahrnehmungsfehler und die hierauf gegebenenfalls beruhende Fehleinschätzung könnten den Betroffenen nur dann entlasten, wenn diese ihrerseits nicht als pflichtwidrig anzusehen wären. Auf nur einfache Fahrlässigkeit kann sich nämlich derjenige nicht berufen, welcher die an sich gebotene Aufmerksamkeit in grob pflichtwidriger Weise unterlassen hat (BGHSt 43, 241 ff.). Wer etwa während der Fahrt sein Autotelefon benutzt, intensiv auf Wegweiser achtet, sich durch ein am Straßenrand liegen gebliebenes Fahrzeug ablenken lässt oder in einen Kreuzungsbereich zu schnell einfährt, kann nicht geltend machen, er habe nur versehentlich ein Verkehrszeichen nicht wahrgenommen. Denn durch sein vorheriges sorgfaltswidriges Verhalten hat er selbst in grob nachlässiger Weise zu seiner eigenen Unaufmerksamkeit beigetragen (vgl. OLG Karlsruhe DAR 2007, 529 f. = VRS 113, Nr. 46 m. zahlr. weit. Nachw.).

Der vorliegende Fall kann wertungsmäßig nicht anders beurteilt werden. Gerade aufgrund der Probefahrt mit einem für ihn fremden und im (technischen) Umgang völlig ungewohnten Fahrzeug hätte für den Betroffenen um so mehr Veranlassung bestanden, seine Aufmerksamkeit auf die bestehende (innerörtliche) Verkehrslage zu konzentrieren. Bei dieser indiziell mindestens auf Sorglosigkeit gegenüber bestehenden Vorschriften hindeutenden Sachlage durfte seitens des Amtsgerichts jedenfalls auf der Grundlage seiner bisherigen Feststellungen noch nicht von einem nur auf einer augenblicklichen Unaufmerksamkeit beruhenden und deshalb die Annahme eines sog. Augenblicksversagens rechtfertigenden Verkehrsverstoß des Betroffenen ausgegangen werden (vgl. auch OLG Frankfurt DAR 2002, 82 f.).


III.

Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft war daher das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch sowie in der Kostenentscheidung aufzuheben. Wegen der Wechselwirkung zwischen Fahrverbot und Geldbuße betrifft die Aufhebung nicht nur die Fahrverbotsanordnung, sondern den gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO).


IV.

Gemäß § 79 Abs. 6 OWiG verweist der Senat die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurück.


V.

Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG. Gemäß § 80 a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.