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OLG Koblenz Urteil vom 08.09.1997 - 12 U 1355/96 - Zum Vorrang des Kreuzungsräumers und zum Ersatz von fiktiven Verbringungskosten
OLG Koblenz v. 08.09.1997: Zum Vorrang des Kreuzungsräumers und zum Ersatz von fiktiven Verbringungskosten
Das OLG Koblenz (Urteil vom 08.09.1997 - 12 U 1355/96) hat entschieden:
- An Kreuzungen mit lichtzeichengeregelter Vorfahrt wird derjenige wartepflichtig, der zwar die für ihn geltende Ampel noch bei grün passiert hat, aber nach einer Verkehrsstockung die Kreuzungsfläche erst erreicht, wenn der Querverkehr bereits grün hat und auf die Vorfahrt vertrauen darf (hier volle Haftung des "unechten Nachzüglers").
- Zu den erstattungsfähigen Reparaturkosten nach Gutachten gehören auch die fiktiven Kosten einer Verbringung des Fahrzeugs in eine Lackiererei.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger begehrt von den Beklagten Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 22.11.1994.
An diesem Tag kollidierten gegen 11.45 Uhr auf der Kreuzung der P. (Fahrbahn Richtung A /B Straße) mit der B. in M. der PKW Saab 900 des Klägers und ein Linienbus (Gelenkbus) der Beklagten zu 2), gefahren von dem Beklagten zu 1). Der Verkehr auf der Kreuzung wird durch eine Lichtzeichenanlage geregelt, die zur Zeit des Unfalls in Betrieb war. Der Kläger hatte auf der linken Fahrspur der zweispurigen Richtungsfahrbahn der P. in Richtung A. als erstes Fahrzeug vor der Rotlicht zeigenden Ampel angehalten. Nach deren Umschalten fuhr er an, um geradeaus die Kreuzung zu überqueren. Auf der Kreuzung kam es zur Kollision mit dem für den Kläger von rechts kommenden Linienbus.
Der Kläger ist der Auffassung, den Unfall habe allein der Beklagte zu 1) verschuldet, für ihn, den Kläger, stelle er sich als unabwendbares Ereignis dar, und deshalb schuldeten ihm die Beklagten vollen Schadensersatz. Offensichtlich habe der Beklagte zu 1) das Rotlicht der für ihn maßgeblichen Ampel missachtet.
Die Beklagten machen geltend, der Beklagte zu 1) habe die für ihn maßgebende Ampel passiert, als diese Grün gezeigt habe. Er habe hinter einem weiteren Linienbus anhalten müssen, da dieser nach links habe abbiegen wollen. Nachdem dieser die Kreuzung verlassen habe, sei der Beklagte zu 1) angefahren, um als sogenannter Nachzügler ebenfalls die Kreuzung zu räumen. Nach h. M. habe ein Fahrzeugführer, der bei Grünlicht in einen Kreuzungsbereich einfahre, den Nachzüglern des Querverkehrs vorrangig die Räumung der Kreuzung zu ermöglichen. Bei dieser Sachlage sei es in der Regel gerechtfertigt, von einer beiderseitigen Mithaftung von 50 % auszugehen. Dementsprechend hat die Beklagte zu 2) dem Kläger vorgerichtlich 50 % seines Schadens, soweit er der Höhe nach unstreitig war, ersetzt.
Der vom Kläger noch geltend gemachte Schaden ist bis auf einen Betrag von 125,- DM unstreitig, nachdem er die Klage hinsichtlich eines nicht anerkannten Nutzungsausfalls zurückgenommen hat. Ebenso sind die Reparaturkosten des Linienbusses unstreitig; deren Hälfte hat die Beklagte zur Aufrechnung gestellt (GA Bl. 33).
Das Landgericht (Bl. 82 - 98 GA) hat der Klage unter Berücksichtigung einer Mithaftung des Klägers in Höhe von 20 % teilweise stattgegeben. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit welcher er den Ersatz seines restlichen Schadens begehrt.
Das zulässige Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.
Die Klage ist auch in Höhe der weiterhin geltend gemachten 4.780,65 DM begründet. Dem Kläger steht gemäß §§ 7, 17, 18 StVG ein Anspruch auf Ersatz seines gesamten Schadens zu.
In Übereinstimmung mit dem Urteil des Landgerichts geht der Senat davon aus, dass nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme (Bl. 56 - 66 GA) der Beklagte zu 1) den Unfall verschuldet hat, und dass dem Kläger ein schuldhaftes Verhalten nicht vorgeworfen werden kann.
Die Beklagten können sich auch nicht darauf berufen, dass der Kläger, als er bei Grün angefahren ist, einen Vorrang des Beklagten zu 1) als Nachzügler nicht beachtet hat.
Zwar ist den sogenannten Nachzüglern das Räumen der Kreuzung zu ermöglichen. Nachzügler in diesem Sinne sind Fahrzeugführer, die ihrerseits bei Grün in die Kreuzung eingefahren waren und dort aufgehalten wurden (BGH NJW 1971, 1407). Unterschieden wird dabei zwischen den sogenannten echten Nachzüglern, die sich bereits auf der eigentlichen Kreuzung befinden, wenn der Querverkehr durch die Lichtzeichenanlage freie Fahrt erhält, und die dort im Kreuzungsbereich in aller Regel den Verkehrsfluss erheblich stören würden, wenn ihnen nicht gestattet würde, den Kreuzungsbereich vorrangig zu verlassen, und den sogenannten unechten Nachzüglern, die zwar die für sie maßgebliche Ampel ebenfalls noch bei Grün passiert haben, die aber vor dem Erreichen der eigentlichen Kreuzung, d. h. der sich kreuzenden Fahrbahnen aufgehalten wurden und anhalten mussten. Letztere gehören nach herrschender Meinung nicht zu den bevorrechtigten Nachzüglern, denen von dem anfahrenden Querverkehr das Räumen der Kreuzung vorrangig zu ermöglichen ist (OLG Hamm VRS 49,455; OLG Köln VRS 72, 212; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 33. Auflage, § 37 StVO Rdn. 45, 45a). Der Senat schließt sich dem an. Die im Urteil vom 18. März 1985 (VRS 68, 419) vertretene gegenteilige Auffassung wird nicht mehr aufrecht erhalten.
Unechte Nachzügler im oben genannten Sinn sind je nach Örtlichkeit für den bei Grün anfahrenden Querverkehr vor dem Erreichen der eigentlichen Kreuzung oft gar nicht zu sehen, so dass hier die Einräumung eines Vorrangs vor dem bei Grün losfahrenden Querverkehr ein erhebliches Gefahrenpotential in sich bergen würde, weil beide Seiten annehmen würden, zum Durchfahren berechtigt zu sein. Zusätzlich gilt, dass derjenige, dem durch ein Umspringen der Ampel auf Grün angezeigt wird, dass er nun freie Fahrt für das Einfahren in die Kreuzung hat, grundsätzlich darauf vertrauen kann, dass zur gleichen Zeit der Querverkehr bei Rotlicht zu warten hat und diesem Gebot auch Folge geleistet wird. Wenn er Nachzügler nicht sieht und auch nicht sehen kann, dann nimmt er dieses Vertrauen uneingeschränkt in Anspruch.
Die erstinstanzlich durchgeführte Beweisaufnahme hat ergeben, dass es sich bei dem Beklagten zu 1) bei dem damaligen Unfallgeschehen allenfalls um einen unechten Nachzügler im Sinne der obigen Ausführungen gehandelt hat. Insoweit wird auf die Beweiswürdigung im landgerichtlichen Urteil (S. 12 - 16, Bl. 93 - 97 GA) Bezug genommen, die sich der Senat zu eigen macht.
In Übereinstimmung mit dem Landgericht (S. 16, Bl. 97 GA) kann auch der Senat nicht feststellen, dass der Unfall für den Kläger ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG war.
Die nach § 17 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachensbeiträge ergibt unter Berücksichtigung der ohnehin höheren Betriebsgefahr des Linienbusses, die durch den schuldhaften Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1) nochmals erhöht wurde, dass die Betriebsgefahr auf Seiten der Beklagten so stark überwiegt, dass die des PKW des Klägers daneben völlig zurücktritt. Damit haben die Beklagten den Schaden des Klägers in vollem Umfang zu ersetzen. Eine Aufrechnung mit einem Teil des der Beklagten zu 2) entstandenen Schaden kommt nicht mehr in Betracht.
In Übereinstimmung mit der Entscheidung des Landgerichts hält auch der Senat die fiktiven Kosten für eine Verbringung des Fahrzeuges in eine Lackiererei für erstattungsfähig. Für die Schadensabrechnung für Verkehrsunfällen ist ausdrücklich anerkannt, dass diese auch auf der Grundlage der durch ein Sachverständigengutachten festgestellten, zukünftigen (fiktiven) Reparaturkosten erfolgen kann. Ein solches Gutachten stellt eine geeignete Grundlage für die Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO dar. In diesem Rahmen kann es dem Geschädigten nicht zugemutet werden, nachzuweisen, dass die Einzelposten der gutachterlichen Beurteilung bei der in Eigenregie erfolgten Reparatur auch wirklich angefallen sind.
Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 269 Abs. 3, 708 Nr. 10, 713 ZPO.