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OLG Karlsruhe Urteil vom 20.06.2012 - 13 U 42/12 - Zum Mitverschulden des Kindes und zur Betriebsgefahr des Kfz bei einem Kinderunfall

OLG Karlsruhe v. 20.06.2012: Zum Mitverschulden des Kindes und zur Betriebsgefahr des Kfz bei einem Kinderunfall


Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 20.06.2012 - 13 U 42/12) hat entschieden:
Im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 StVG müssen bei der Bewertung des Verschuldens eines Kindes "altersgemäße Maßstäbe" berücksichtigt werden, so dass das Verschulden eines Kindes dem eines Erwachsenen grundsätzlich nicht gleichgesetzt werden kann, sondern geringer zu bewerten ist. Bei der Unfallbeteiligung eines Kindes tritt deshalb die Betriebsgefahr entsprechend ihrem Haftungszweck nur ausnahmsweise hinter dem Verschulden des Kindes zurück, wenn ein "auch altersspezifisch subjektiv besonders vorwerfbarer" Sorgfaltsverstoß des Kindes vorliegt.


Gründe:

I.

Die Klägerin, eine Unfallversicherung, verlangt aus übergegangenem Recht gemäß § 116 SGB X Schadenersatz aus einem Verkehrsunfall sowie Feststellung der weiteren Eintrittspflicht der Beklagten, jeweils mit einer Quote von 50 %.

Wegen des Sachverhalts wird auf die tatsächlichen Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihren erstinstanzlichen Antrag in vollem Umfang weiter. Die Beklagten haben Zurückweisung der Berufung beantragt.

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die beigezogenen Ermittlungsakten und die Protokolle der mündlichen Verhandlungen Bezug genommen.


II.

Die zulässige Berufung ist teilweise begründet.

Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die an sich gegebene Haftung der Beklagten aus Betriebsgefahr trete hinter das Verschulden der Versicherungsnehmerin der Klägerin zurück, weil diese sich grob fahrlässig verhalten habe. Dies hält einer Überprüfung nicht stand. Die Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile führt zu einer Haftung der Beklagten mit einer Quote von 1/3. In diesem Umfang sind die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche begründet.

1. Dem Landgericht ist darin zu folgen, dass eine Haftung der Beklagten aus Betriebsgefahr gemäß § 7 Abs. 1 StVG nicht wegen höherer Gewalt nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen ist, und dass die Beweisaufnahme nicht ergeben hat, dass den Beklagten zu 2 an dem Unfall ein Verschulden trifft. Dies greift die Klägerin mit der Berufung auch nicht an.

Ferner ist das Landgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Geschädigte gegen § 25 Abs. 3 StVO verstoßen hat. Danach haben Fußgänger eine Straße „unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs […] zu überschreiten“. Die Geschädigte war im Zeitpunkt des Unfalls 10 Jahre und 9 Monate, so dass sie die Altersgrenze des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB bereits überschritten hatte. Fehlende Einsichtsfähigkeit i. S. v. § 828 Abs. 3 BGB behauptet die Klägerin nicht. Soweit sie den vorangegangenen Theaterbesuch der Geschädigten anführt, beruft sie sich lediglich auf eine aufgrund dessen vorübergehend verringerte Fähigkeit der Geschädigten, Gefahren wahrzunehmen.

2. Nicht zuzustimmen ist hingegen der Ansicht des Landgerichts, die Haftung der Beklagten aus Betriebsgefahr trete im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB hinter das Verschulden des verletzten Kindes zurück.

a. Im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 StVG müssen bei der Bewertung des Verschuldens eines Kindes „altersgemäße Maßstäbe“ berücksichtigt werden, so dass das Verschulden eines Kindes dem eines Erwachsenen grundsätzlich nicht gleich gesetzt werden kann, sondern geringer zu bewerten ist.

Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass es ausnahmsweise bei der Unfallbeteiligung eines Minderjährigen dann zu einem völligen Zurücktreten der Betriebsgefahr hinter das Verschulden kommen kann, wenn ein „altersspezifisch auch subjektiv besonders vorwerfbarer“ Sorgfaltsverstoß des Kindes bzw. Jugendlichen vorliegt, ihm objektiv und subjektiv ein so erhebliches Verschulden zur Last fällt, dass die Betriebsgefahr des Kfz als völlig untergeordnet erscheint (BGH Urt. v. 13.2.1990 - VI ZR 128/89 -, NJW 1990, 1483, noch zur bis zum 31.07.2002 geltenden Altersgrenze von 7 Jahren). Die Sorgfaltsanforderungen an Verkehrsteilnehmer ab 10 Jahre haben sich durch die Heraufsetzung der Altersgrenze seit 01.08.2002 nicht geändert (BGH Beschl. v. 30.5.2006 - VI ZR 184/05 - zit. n. juris).

Grundsätzlich ist aber im Rahmen der Abwägung der Zweck der Gefährdungshaftung zu berücksichtigen. Sinn der Haftung aus Betriebsgefahr ist es, die besonderen Gefahren des Straßenverkehrs auszugleichen. So weist der BGH in seiner Entscheidung vom 13.2.1990 (a. a. O.) darauf hin: "Kinder sind durch den Betrieb von Kraftfahrzeugen wegen der fehlenden Eingewöhnung und Erfahrung im Straßenverkehr erheblich stärker gefährdet als Erwachsene. Entsprechend dem Haftungszweck der Gefährdungshaftung muss daher die Haftung für die Betriebsgefahr auch dieses bei Kindern erhöhte Risiko auffangen. In diesem Sinn ist der Umstand, dass ein Kind durch sein verkehrswidriges Verhalten mit zu dem Unfall beigetragen hat, haftungsrechtlich der Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs zuzuordnen, wenn und soweit sich darin altersgemäß der Lern- und Eingewöhnungsprozess in die Gefahren des Straßenverkehrs niederschlägt […].“

Auch wenn die Geschädigte vorliegend die Altersgrenze des § 828 Abs. 2 BGB bereits überschritten hatte, ist, wie das Oberlandesgericht Saarbrücken (Urt. v. 24.04.2012 - 4 U 131/11 -, Rn. 44, zit. n. juris) zutreffend ausgeführt hat, zu berücksichtigen, dass die kindlichen Eigenheiten - Impulsivität, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und gruppendynamisches Verhalten -, die ein Kind an der hinreichenden Einschätzung der Gefahren des Straßenverkehrs hindern, „nicht gewissermaßen punktuell mit dem Erreichen des zehnten Lebensjahres abgestellt werden“. Daher ist bei der Bewertung von Verkehrsverstößen die altersbedingte Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen in die Bewertung einzubeziehen und vorliegend insbesondere zu berücksichtigen, dass das verletzte Kind im Zeitpunkt des Unfalls die Altersgrenze des § 828 Abs. 2 BGB erst um 9 Monate überschritten hatte und der konkrete Sachverhalt ein alterstypisches Fehlverhalten erkennen lässt.

b. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze stellt sich das Verschulden der Geschädigten E.K. im Rahmen der Abwägung nicht als subjektiv so vorwerfbar dar, dass es die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten zu 2 vollständig zurücktreten lässt.

Das Landgericht führt (unter 2. b) cc), S. 8 des Urteils) aus, dass es einem Kind im Alter von über 10 Jahren bewusst sein müsse, dass das Überqueren einer Straße an Stellen, die nur erreichbar seien, wenn eine die Fahrbahn vom Gehweg trennende Bepflanzung überwunden werde, besondere Gefahren berge. Jedes Kind im Alter der Geschädigten wisse, dass vor der Überquerung von Fahrbahnen zu prüfen sei, ob diese in beide Richtungen frei sind, und man nicht sorglos von der einen auf die andere Straßenseite rennen dürfe.

Diese Ausführungen sind zwar geeignet, einen Fahrlässigkeitsvorwurf gegenüber der Geschädigten zu begründen. Hieraus folgt jedoch nicht automatisch ein nach altersspezifischen Maßstäben so schwerwiegender Verstoß, dass die Betriebsgefahr des PKW dahinter zurücktritt. Die Berücksichtigung der vorliegenden Umstände führt dazu, dass ein Verschulden des verletzten Kindes nicht so zu bewerten ist, dass es die Betriebsgefahr zurücktreten lässt.

Die Fahrzeuge standen auf der der Geschädigten näherliegenden Spur. Hierdurch konnte für sie der Eindruck entstehen, dass das Überqueren der Fahrbahn zwischen den stehenden Autos gefahrlos möglich ist. Um die besondere Gefahr der Situation zu erkennen, musste die Geschädigte also bedenken, dass hinter der stehenden Autoschlange eine weitere Spur liegt, auf der Fahrzeuge fahren können. Außerdem war die Gegenfahrbahn zunächst frei. Der Beklagte zu 2 hatte mit seinem Fahrzeug an der einige Meter von der Unfallstelle entfernten Ampel gestanden und näherte sich der Unfallstelle, als die Geschädigte und ein weiteres Mädchen über die Straße liefen. Dies ergibt sich aus der Aussage des Zeuge K. bei seiner polizeilichen Vernehmung (StA Lörrach 94 Js 2695/09, S. 21). Der Zeuge stand mit seinem Motorroller auf der näher zu den Kindern liegenden Spur, kurz vor der Einmündung des Adlergässchens, aus dem die Kinder kamen. Er hat angegeben, dass die beiden Mädchen „einen ersten Schritt nach vorne [gemacht haben], dann schauten sie nach rechts, die Gegenfahrbahn war leer. Sie haben die ganze Zeit miteinander geredet. Sie haben dann schon nicht mehr nach rechts geschaut, sondern sich eher nach links gedreht gehabt.“ Dies beschreibt ein kindertypisches Verhalten. Wegen der noch fehlender Erfahrung und Eingewöhnung in den Straßenverkehr wird die Gefahrenlage nicht richtig eingeschätzt und nicht fortlaufend im Blick behalten; das Verhalten wird nicht ausreichend der Situation angepasst. Dies ist einem Kind, das, wie die Geschädigte, die im Gesetz festgelegte Altersgrenze von 10 Jahren erst um 9 Monate überschritten hat, zwar schon dem Grunde nach möglich, kann aber von ihm nicht mit einer solchen Bestimmtheit erwartet werden, dass bei einem Verstoß ein subjektiv besonders vorwerfbares Verhalten vorliegt. Auch das Landgericht geht in seinem Urteil (S. 8 unten) im Übrigen davon aus, dass „es nachvollziehbar und zu berücksichtigen [ist], dass die Fähigkeit der E., sich in allen Situationen ausreichend auf den Verkehr zu konzentrieren, vermindert war.“

Das Landgericht begründet seine Abwägung ferner damit, die Geschädigte habe bedenken müssen, dass die Sicht der Autofahrer auf sie durch stehende Autos verdeckt ist. Dies ist jedoch ebenfalls nicht geeignet, eine subjektiv besondere Vorwerfbarkeit zu begründen, denn diese Einsicht setzt Erfahrung mit den Verhältnissen im Straßenverkehr und die Einbeziehung der Sichtweise eines Autofahrers voraus, die zwar in Grundzügen auch schon von einem Kind im Alter von 10 Jahren und 9 Monaten erwartet werden können. Die Beachtung dieser Erkenntnisse und Verhaltensregeln stellt sich jedoch nicht als so absolute Selbstverständlichkeit dar, dass ein Verstoß hiergegen durch ein Kind im Alter der Geschädigten als subjektiv in besonderem Maße vorwerfbar erscheint. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass, wie der Sachverständige festgestellt hat, der Beklagte zu 2 die Geschädigte kurz vor dem Unfall nicht sehen konnte. Dasselbe galt dann umgekehrt auch. Auch dieser „fehlende Überblick“ der Geschädigten im wahrsten Sinne des Wortes muss bei der Bewertung ihres Verschuldensanteils gemessen an ihrem Alter berücksichtigt werden und lässt das unbedachte Handeln nicht als am Alter gemessen besonders vorwerfbar erscheinen.

Das Durchqueren des Pflanzstreifens begründet ebenfalls nicht eine besondere subjektive Vorwerfbarkeit, die die Betriebsgefahr zurücktreten lässt, denn auch hierbei zeigt sich ein für Kinder nicht gänzlich untypisches Verhalten, sondern die ihnen eigene Impulsivität.

Eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens über die besondere Situation der Geschädigten nach dem Theaterbesuch bedarf es nicht. Den möglichen Auswirkungen dieses Vorgeschehens kommt im Rahmen der Bewertung des Verschuldens der Geschädigten keine selbständige Bedeutung zu.

c. Der vom Landgericht angeführte, vom OLG Celle (Beschluss v. 8.6.2011 - 14 W 13/11 -, NJW-Spezial 2011, 459) entschiedene Fall ist nicht mit dem streitgegenständlichen vergleichbar. Dort rannte ein Junge im Alter von 11 Jahren und 7 Monaten außerhalb geschlossener Ortschaft bei freier Sicht über eine Landstraße, nachdem er aus dem Auto seiner Mutter ausgestiegen war. Besonderheiten wie im vorliegenden Fall - Stadtverkehr, stehende Autos, keine Sicht - lagen dort nicht vor. Nicht vergleichbar ist auch der Fall des Kammergerichts (Urt. v. 24.06.2010 - 12 U 178/09, MDR 2011, 27), in dem es um die Mithaftung eines 16jährigen ging, der ein Absperrgitter überstiegen hatte, um die Straße zu überqueren, und der mit einem rückwärts einparkenden Fahrzeug kollidiert war, das er vorher bemerkt hatte. Soweit sich aus der Entscheidung des OLG Hamm (Urt. v. 13.7.2009 - 13 U 179/08 -, zit. n. juris), die das Landgericht ebenfalls anführt, in dem dort entschiedenen Sachverhalt ein strengerer Maßstab für die Bewertung des Verstoßes eines Geschädigten, der die Altersgrenze des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB erst seit Kurzem überschritten hat, ergeben sollte, vermag der Senat dem für den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt nicht zu folgen.

d. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile gemäß § 9 StVG ist damit auf Seiten der Geschädigten das Verschulden zu berücksichtigen, das über eine nur leichte Fahrlässigkeit hinausgeht. Auf Seiten der Beklagten ist lediglich die (einfache) Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Dies führt zu einer Haftungsverteilung von 1/3 auf Beklagtenseite und 2/3 auf Seiten der Geschädigten und damit auf Klägerseite.

3. Der auf die Klägerin übergegangen Schaden beträgt insgesamt 44.204,53 €.

Die Beklagten hat lediglich die Positionen 7 (645,24 €) und 14 (242,36 €) der Schadensaufstellung der Klägerin (Anlage K2) mit der Begründung bestritten, der zugrunde gelegte Kilometersatz von 0,36 € bzw. 0,40 € pro Kilometer sei zu hoch. Aus den von der Klägerin daraufhin vorgelegten Unterlagen (Schriftsätze vom 15.05.2012 und vom 22.05.2012) ergibt sich allerdings, dass sich die von der Klägerin gezahlten Kilometerpauschalen auf die Hin- und Rückfahrt beziehen, so dass für die einfache Fahrt ein Kilometersatz von 0,18 bzw. 0,20 € angesetzt wurde. Dies ist nicht zu beanstanden.

Ausgehend von der Haftungsquote von 1/3 ergibt sich ein von der Beklagten an die Klägerin zu erstattender Betrag von 14.734,84 €.

4. Ferner ist die von der Klägerin beantragte Feststellung der Eintrittspflicht der Beklagten, begrenzt auf die Haftungsquote von 1/3, auszusprechen. Das Feststellungsinteresse der Klägerin besteht, da gemäß Abschlussbericht der Universitätsklinik Freiburg vom 02.12.2009 (Anlage K 3) sich aus den knöchernen Verletzungen eine vorzeitige Arthrose entwickeln kann, so dass eine künftige Inanspruchnahme der Klägerin aus der Unfallversicherung jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen erscheint.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92, 100 Abs. 4 ZPO, die über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10. Eine Abwendungsbefugnis gemäß § 711 ZPO war nicht auszusprechen, weil für beide Parteien der Streitwert, bei dem eine Nichtzulassungsbeschwerde statthaft wäre, nicht erreicht wird.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.