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OLG Saarbrücken Urteil vom 24.04.2012 - 4 U 131/11 - Zur Haftung bei einem Unfall eines Pkws mit einem aus einer Nebenstraße einbiegenden minderjährigen Radfahrer

OLG Saarbrücken v. 24.04.2012: Zur Haftung bei einem Unfall eines Pkws mit einem aus einer Nebenstraße einbiegenden minderjährigen Radfahrer


Das OLG Saarbrücken (Urteil vom 24.04.2012 - 4 U 131/11) hat entschieden:
  1. Stehen sich in der Abwägung der Mitverschuldensanteile die einfache Betriebsgefahr des unfallverursachenden PKWs und das einfach fahrlässige Verschulden eines erst 12 Jahre alten Radfahrers gegenüber, besteht im Regelfall kein Anlass, die Haftung des Halters auf eine Quote von weniger als 50% zu beschränken.

  2. Hat die Straßenverkehrsbehörde die zulässige Geschwindigkeit auf 70 km/h beschränkt und den Verkehr zugleich durch Aufstellen eines Zusatzschildes vor "gefährlichen Einmündungen" gewarnt, so verhält sich der Verkehr schon dann verkehrsgerecht, wenn er dem Straßenverlauf und den erkennbaren Einmündungen eine größere Aufmerksamkeit widmet. Ohne konkrete Anhaltspunkte auf eine sich abzeichnende Gefahrensituation ist der Fahrer nicht gehalten, seine Geschwindigkeit alleine mit Blick auf das Zusatzschild deutlich unter die vorgeschriebene, beschränkte Geschwindigkeit herabzusetzen.

Gründe:

I.

Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt der am … 1996 geborene Kläger die Beklagten im Wege der Feststellungsklage aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, welcher sich am 17.7.2008 gegen 16.45 Uhr auf der ereignete.

Bei der handelt es sich um eine an der Unfallörtlichkeit circa 5,3 m breite Landstraße ohne Mittelmarkierung. Aus der Fahrtrichtung des Beklagten zu 1) gesehen von rechts mündet in die ein Zufahrtsweg zum K. Hof ein, nach links geht ein Feldweg von der ab. Aus dem Zufahrtsweg zum bog der Kläger mit seinem Fahrrad nach rechts in die ein und wurde wenige Meter später von dem vom Beklagten zu 1) gesteuerten Fahrzeug erfasst, der mit der rechten Vorderfront des Fahrzeugs auf den Hinterreifen des Fahrrades auffuhr, wodurch der Kläger über den rechten Bereich der Motorhaube und die rechte A-Säule sowie den rechten Dachbereich vom Fahrzeug aufgeladen wurde und schließlich 23 m hinter dem Einmündungsbereich im rechten Bereich der Fahrbahn zu liegen kam.

Der Kläger wurde hierbei schwer verletzt. Er erlitt ein geschlossenes Schädelhirntrauma dritten Grades mit multiplen diffusen atonalen Verletzungen sowie multiplen Kontusionsherden vor allem im Bereich des hinteren Balkens, des Thalamus, der Stammganglien sowie des Mesenzephalon. Hinzu traten eine spastische, armbetonte Tetraparese sowie eine traumatische subarachnoidale Blutung mit entsprechenden Begleiterscheinungen in Form einer hochgradigen Aphasie, einer Dysarthrie sowie einer Sprechaparxie.

Im Berufungsrechtszug steht außer Streit, dass die Höchstgeschwindigkeit auf der L 103 im fraglichen Bereich auf 70 km/h begrenzt war. Circa 1 km vor dem Unfallbereich war ein Warnschild, Zeichen 101, mit dem Zusatzschild „gefährliche Einmündungen“ aufgestellt. Zwischen dem Warnschild und der späteren Unfallstelle befindet sich eine weitere Einmündung zum. Für den Beklagten zu 1) war die Sicht nach rechts in den Zufahrtsweg zum K. Hof dadurch beeinträchtigt, dass sich vor der Einmündung ein Maisfeld befand, dessen Pflanzen eine Höhe von 1,60 m erreichten. Hierdurch war die Sicht des Beklagten zu 1) in die einmündende Zufahrt aus einer Entfernung von 50 m auf nur 4 m begrenzt.

Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken leitete unter dem Aktenzeichen 14 GS 66 Js 2129/08 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung gegen den Beklagten zu 1) ein. In diesem Verfahren wurde das Sachverständigenbüro mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Auf der Grundlage des Ergebnisses dieser sachverständigen Beurteilung wurde das Ermittlungsverfahren gegen den Beklagten zu 1) eingestellt. Der Senat hat das Ermittlungsverfahren beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.

Der Kläger hat behauptet, er selber habe im Einmündungsbereich angehalten, bevor er auf die L 103 aufgefahren sei. Erst dann sei er aus dem Stand losgefahren. Der Beklagte zu 1) habe sich der Einmündung mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von mindestens 80 km/h genähert. Dies sei – so die Auffassung des Klägers – den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen nicht angemessen gewesen. Der Beklagte zu 1) hätte seine Geschwindigkeit auf mindestens 50 km/h reduzieren müssen, um auf jeglichen Verkehr aus dem Zufahrtsweg noch rechtzeitig reagieren zu können. Selbst bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h hätte er das Auffahren auf das Fahrrad vermeiden können.

Der Kläger hat für seine Behauptungen durch Vernehmung der im Ermittlungsverfahren angehörten Zeugin sowie durch eine Ergänzung des Sachverständigengutachtens Beweis angetreten. Er hat hierzu die Auffassung vertreten, dass das im Ermittlungsverfahren eingeholte Sachverständigengutachten nur hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen, nicht jedoch hinsichtlich der unter strafrechtlichen Gesichtspunkten erfolgten Vermeidbarkeitsbetrachtungen für den vorliegenden Rechtsstreit verwertbar sei.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass die Beklagten als Gesamtschuldner zumindest in Höhe einer Haftungsquote von 50% zur Erstattung der dem Kläger entstandenen Schäden verpflichtet seien.

Der Kläger hat beantragt,
  1. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den ihm anlässlich des Verkehrsunfallgeschehens vom 17.7.2008 auf der entstandenen und künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schaden in Höhe einer Haftungsquote von 50% zu erstatten, soweit dieser nicht auf einen Sozialleistungsträger übergegangen sei;

  2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 2.118,44 EUR außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren zu zahlen.
Dem sind die Beklagten entgegengetreten. Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, eine Haftung scheide aus, da der Kläger die Vorfahrt des Beklagten zu 1) verletzt habe und der Unfall nach dem Gutachten des Sachverständigenbüros bei sämtlichen Bewegungsgeschwindigkeiten unvermeidbar gewesen sei.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung wird hinsichtlich der darin enthaltenen Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.

Mit seiner hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Klagebegehren in vollem Umfang weiter.

Die Berufung des Klägers wendet sich zunächst gegen die Tatsachenfeststellung des Landgerichts. Nach Auffassung des Klägers hätte das Landgericht von einer Vernehmung der Zeugin nicht Abstand nehmen dürfen. Diese Zeugin sei kurz vor der Einfahrt zum circa 20 bis 30 m hinter dem Beklagten zu 1) hergefahren. Sie sei etwa 80 km/h gefahren. Der Abstand habe sich nicht sonderlich verringert, woraus zu schließen sei, dass der Fahrer mit ähnlicher Geschwindigkeit unterwegs gewesen sei. Abgesehen davon, dass diese Aussage noch Fragen offen lasse und eventuell die Möglichkeit gegeben sei, dass die Zeugin weitere sachdienliche Hinweise geben könne, dürfe die Ungeeignetheit eines Beweismittels nur ausnahmsweise bejaht werden. Keinesfalls dürfe das Gericht die Beweiswürdigung vorwegnehmen.

Weiterhin sei das erstinstanzliche Urteil fehlerhaft, weil es das Gericht abgelehnt habe, ein weiteres Sachverständigengutachten insbesondere zur Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens einzuholen. Der Sachverständige sei in seinem Gutachten fehlerhaft von einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h ausgegangen und habe deshalb im Rahmen seiner Vermeidbarkeitsbetrachtungen den Anhalteweg aus einer entsprechend hohen Ausgangsgeschwindigkeit berechnet. Einer Ergänzung des Gutachtens hätte es auch deshalb bedurft, weil der Sachverständige von einem sehr späten Reaktionsaufforderungszeitpunkt des Beklagten zu 1) ausgegangen sei. Zivilrechtlich sei es unter dem Gesichtspunkt des Sichtfahrgebots von Relevanz, dass an der Unfallörtlichkeit eine Kreuzungssituation mit rechts und links befindlichen Feldwegen sowie einer Bushaltestelle gegeben sei. Die Sicht nach rechts in den Zufahrtsweg sei stark beeinträchtigt gewesen. Auch habe das Gefahrenzeichen den Vorfahrtsberechtigten nicht nur gewarnt, sondern ausdrücklich eine Verringerung der Geschwindigkeit im Hinblick auf die Gefahrensituation angeordnet. Aus diesem Grunde hätte der Beklagte zu 1) bei der entsprechenden Sorgfalt wesentlich früher auf den Kläger reagieren müssen, so dass die Berechnungen des Sachverständigen zu dem späten Reaktionszeitpunkt einer Ergänzung bedurft hätten.

Schließlich habe das Landgericht nicht berücksichtigt, dass ein unfallursächliches Verschulden des Fahrzeugführers auch dann anzunehmen sei, wenn der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zwar nicht räumlich, wohl aber zeitlich vermeidbar gewesen wäre. Dies sei dann der Fall, wenn es dem Fahrer zwar nicht gelungen wäre, das Fahrzeug noch vor der späteren Unfallstelle zum Stehen zu bringen, wenn der Beklagte zu 1) aber so stark hätte abbremsen können, dass dem Verletzten Zeit geblieben wäre, den Gefahrenbereich noch rechtzeitig zu verlassen. Entsprechendes gelte auch dann, wenn es dabei zumindest zu einer deutlichen Abänderung des Unfallverlaufs und der erlittenen Verletzungen gekommen wäre. Insoweit habe der Kläger unstreitig vorgetragen, dass bei entsprechend sorgfältiger Fahrweise des Beklagten zu 1) und entsprechend verminderter Ausgangsgeschwindigkeit die Verletzungen des Klägers deutlich geringer ausgefallen wären.

Schließlich komme eine völlige Haftungsfreistellung aufgrund überwiegenden Mitverschuldens eines jugendlichen Geschädigten im Lebensalter des Klägers nur dann in Betracht, wenn ein unabwendbares Ereignis vorliege. Dies sei nachweislich nicht der Fall.

Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des am 29.3.2011 verkündeten Urteils des Landgerichts Saarbrücken – 14 O 296/10 – nach Maßgabe der erstinstanzlichen Anträge zu erkennen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung. Es sei nicht zu beanstanden, dass das Landgericht von einer Vernehmung der Zeugin Bieringer Abstand genommen habe. Soweit die Berufung damit argumentiere, dass die Aussage der Zeugin bei der Polizei Nachfragen offen gelassen habe und eventuell die Möglichkeit bestanden habe, dass von der Zeugin weitere sachdienliche Hinweise zu erlangen gewesen seien, werde nicht dargelegt, welche Nachfragen konkret offen geblieben seien. Der Beweisantrag laufe auf die Erhebung eines unzulässigen Ausforschungsbeweises hinaus.

Ebensowenig sei es zu beanstanden, dass das Landgericht kein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt habe:

Es sei irrelevant, dass der Sachverständige seinen Vermeidbarkeitsbetrachtungen eine Ausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h zu Grunde gelegt habe. Die Zahl sei irrelevant, nachdem feststehe, dass die Ausgangsgeschwindigkeit des Beklagten zu 1) nicht ermittelt werden könne. Im Übrigen ergebe sich auch auf der Grundlage der Berechnungen der Klägervertreter, dass der Unfall auch aus einer Geschwindigkeit von 70 km/h nicht vermeidbar gewesen wäre. Auch sei es dem Beklagten zu 1) nicht vorzuwerfen, 70 km/h gefahren zu sein, da das Gefahrzeichen 101 die angeordnete zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht außer Kraft gesetzt habe. Der Schutzzweck des Sichtfahrgebots erfasse nicht Hindernisse, die von der Seite her in die Fahrbahn gelangten, wie es bei dem Radfahrer der Fall sei, der aus dem Feldweg in die Landstraße einbiege. Soweit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine völlige Freistellung des Vorfahrtsberechtigten von der Gefährdungshaftung wegen eines grob verkehrswidrigen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen einen altersspezifisch auch subjektiv vorwerfbaren Sorgfaltsverstoß voraussetze, liege dieser hier vor. Nichts anderes folge aus der Vorschrift des § 3 Abs. 2a StVO: Die gesteigerte Sorgfaltspflicht setze voraus, dass der vom Gebot betroffene Fahrzeugführer erkennen könne, es mit einem Schutzbedürftigen im Sinne der Vorschrift zu tun zu haben. Dies sei weder bei einem Zwölfjährigen per se der Fall, noch habe der Beklagte zu 1) die entsprechende Erkenntnis innerhalb der nur aus Sekunden bestehenden Zeitspanne gewinnen können, die ihm von der Reaktionsaufforderung bis zur Kollision zur Verfügung gestanden habe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Berufungsbegründung vom 7.6.2011 (Bl. 108 ff. d.A.), der Berufungserwiderung vom 4.8.2011 (Bl. 116 d.A.) sowie auf den Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 10.4.2012 (Bl. 135 ff. d.A.) verwiesen. Hinsichtlich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll vom 13.3.2012 (Bl. 126 ff. d.A.) Bezug genommen.


II.

A.

Die zulässige Berufung hat Erfolg. Soweit das Landgericht die straßenverkehrsrechtliche Haftung hinter das Mitverschulden des Klägers vollständig zurücktreten ließ, hält die angefochtene Entscheidung einer Rechtskontrolle nicht stand. Vielmehr sind die Beklagten auf der Grundlage einer hälftigen Haftungsquote zur Erstattung der unfallursächlichen Schäden verpflichtet.

1. Die Feststellungsklage ist zulässig: Mit Blick auf die gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers und den noch nicht abgeschlossenen Heilungsverlauf ist das gem. § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse nachgewiesen.

2. Die Beklagte zu 2) ist dem Grunde nach gem. § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG zur Erstattung der Schäden verpflichtet. Demgegenüber folgt die Haftung des Beklagten zu 1) aus § 18 Abs. 1 i.V.m. § 7 Abs. 1 StVG, nachdem die Berufung die Tatsachenfeststellung des Landgerichts zum fehlenden Nachweis der Haltereigenschaft des Beklagten zu 1) nicht angegriffen hat.

3. Zur Haftung der Beklagten zu 2)

a) Die Verwirklichung des haftungsbegründenden Tatbestandes (§ 7 Abs. 1 StVG) steht außer Streit: Das Verkehrsunfallereignis wurde jedenfalls nicht im Sinn des § 7 Abs. 2 StVO durch höhere Gewalt verursacht. Die Frage, ob das Unfallereignis für den Beklagten zu 1) unabwendbar war, ist nach dem Wortlaut des reformierten Haftungstatbestandes ohne Relevanz.

b) Mithin hängt der Erfolg der Berufung alleine davon ab, in welchem Umfang die Gefährdungshaftung durch ein Mitverschulden des Klägers ausgeschlossen ist.

aa) Gemäß § 9 StVG findet die Vorschrift des § 254 BGB Anwendung, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat. Hierbei folgt die Haftungsabwägung den zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätzen: Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursacherbeiträge sind nur solche Umstände einzubeziehen, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind (BGH, Urt. v. 21.11.2006 – VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urt. v. 24.6.1975 – VI ZR 159/74, VersR 1975, 1121; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 9 StVG Rdnr. 7). Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben. Hierbei kann die Abwägung zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruchs führen, wenn das Verschulden des Geschädigten derart überwiegt, dass die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt (Hentschel/König/Dauer, aaO, Rdnr. 9; Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl., § 22 Rdnr. 239; Jagow/Burmann/Heß, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 9 StVG Rdnr. 18 f.; OLG Koblenz, Urt. v. 11.12.2006 – 12 U 1184/04).

bb) Unter Beachtung dieser Rechtsgrundsätze ist dem Kläger ein unfallursächlicher Verkehrsverstoß gegen § 8 Abs. 2 S. 2 StVO anzulasten:

aaa) Der Kläger wollte von einem Feldweg auf die Landstraße einbiegen und musste – so die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts – dem Beklagten zu 1) gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 2 StVO die Vorfahrt gewähren. In Erfüllung dieses Gebots durfte der Kläger erst dann weiterfahren, wenn er übersehen konnte, den bevorrechtigten Verkehr nicht zu gefährden oder wesentlich zu behindern (§ 8 Abs. 2 S. 2 StVO). Diese Sorgfaltsanforderungen hielt der Kläger nicht ein: Selbst wenn er – so seine unwiderlegte Einlassung – an der Einmündung angehalten haben sollte, konnte er den herannahenden Beklagten zu 1) nicht übersehen. Ihm ist folglich zumindest vorzuwerfen, den Straßenverlauf in der Annäherungsrichtung des Beklagten zu 1) nicht sorgfältig beobachtet zu haben.

bbb) Dazu im Einzelnen:

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 13.3.2012 durch Vernehmung der Zeugin und durch Anhörung des Beklagten zu 1) sowie des Klägers über den Unfallhergang Beweis erhoben. Sodann sind die Ergebnisse der im Ermittlungsverfahren erstatteten Sachverständigengutachten in die Beweiswürdigung eingeflossen. Letztlich ist der genaue Unfallverlauf auch auf der Grundlage der ergänzten Beweisaufnahme nicht zweifelsfrei aufzuklären:

Die Vernehmung der Zeugin hat zum einen keine Klarheit darüber gebracht, wie schnell der Beklagte zu 1) in der Annäherung an die Unfallstelle exakt fuhr: Ihre Aussage, sie befahre die Strecke – so auch am Unfalltag – regelmäßig mit 80 – 90 km/h, wisse aber nicht mehr, ob sie in einem bestimmten Abstand hinter dem Beklagten zu 1) hergefahren sei oder auf ihn aufgeschlossen habe, erlaubt nicht den sicheren Schluss, dass der Beklagte zu 1) zum Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung schneller als 70 km/h fuhr. Zum andern war die Aussage der Zeugin zum vorkollisionären Verhalten des Klägers unergiebig, da die Zeugin den Kläger vor dem Unfallereignis nicht wahrgenommen hatte.

Auch der Beklagte zu 1) hatte keine hinreichend genaue Erinnerung an das Unfallgeschehen. Er hat auf Nachfrage glaubhaft bekundet, sich nicht mehr daran erinnern zu können, ob er den Kläger vor dem Kollisionsgeräusch wahrgenommen habe. Ihm sei lediglich das Bild vor Augen, dass der Kläger hinter dem Wagen gelegen habe.

Demgegenüber hat der Kläger bekundet, er könne sich an den Unfall noch gut erinnern. Er habe, als er im Einmündungsbereich der Landstraße angekommen sei, zuerst nach links, dann nach rechts und wieder nach links geschaut. Als er hierbei kein Auto gesehen habe, sei er losgefahren. Nach zwei Pedalumdrehungen habe er einen starken Aufprall gespürt. Danach könne er sich an nichts mehr erinnern.

Obwohl der Senat keinen Zweifel daran hegt, dass der Kläger das Unfallgeschehen so geschildert hat, wie es ihm in der Erinnerung haften geblieben ist, bestehen unter einem objektiven Blickwinkel nicht hintanzustellende Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Schilderung: Nach den Feststellungen des Sachverständigen (Beiakte Bl. 123) betrug die Sichtweite des Beklagten zu 1) auf den rechten Fahrbahnrand in Höhe der Straßeneinmündung zum mindestens 100 m. Entsprechend gilt, dass auch für den an der Einmündung haltenden Kläger die Fahrbahn in der Annäherungsrichtung des Beklagten zu 1) in einer Tiefe von mindestens 100 m überschaubar war. Nach dem weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme ist nachgewiesen, dass der Beklagte zu 1) nicht schneller als 80 km/h fuhr (so die Feststellungen des Sachverständigen im Sachverständigengutachten vom 28.8.2008, S. 69, Bl. 125 der Beiakte).

Demnach hätte der Beklagte zu 1) zum Durchfahren der Sichtstrecke ca. 4,5 Sekunden gebraucht, weshalb der Kläger das herannahende Fahrzeug bei sorgfältiger Umschau hätte sehen müssen. Dennoch belegt diese Weg/Zeitbetrachtung nicht zugleich, dass der Kläger ohne anzuhalten gewissermaßen blindlings in die Landesstraße einbog. Aufgrund der glaubhaften Einlassung des Klägers ist nicht ausgeschlossen, dass er zwar an der Sichtkante wie von ihm geschildert Umschau hielt, er aber dennoch aufgrund einer Unaufmerksamkeit das herannahende Fahrzeug übersah. Auch liegt es nicht fern, dass er den Abstand des herannahenden Fahrzeugs falsch einschätzte und irrig annahm, noch gefahrlos vor dem Fahrzeug einbiegen zu können. Nur diese Sachverhaltsvarianten sind nach den eingangs dargestellten Grundsätzen zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast bei der Haftungsabwägung zu berücksichtigen.

ccc) Dieses Beweisergebnis ist für die Gewichtung des Mitverschuldens von Relevanz: Unter Berücksichtigung des jugendlichen Alters ist der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht gerechtfertigt. Dem Kläger ist lediglich ein (einfach) fahrlässiges Verschulden vorzuwerfen:

aaaa) Während der Maßstab der Fahrlässigkeit nach § 276 Abs. 2 BGB ausschließlich nach objektiven Kriterien der von allen Verkehrsteilnehmern zu beachtenden Sorgfalt zu bestimmen ist, setzt die grobe Fahrlässigkeit auch in subjektiver Hinsicht ein gegen die Person des Handelnden gerichtetes Unwerturteil voraus. Demnach können subjektive Besonderheiten den schweren Vorwurf der groben Fahrlässigkeit entkräften (BGHZ 119, 147, 149; Urt. v. 11.7.2007 – XII ZR 197/05, MDR 2007, 1367; Löwisch/Caspers in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2009, § 276 Rdnr. 100 ff.; MünchKomm(BGB)/Grundmann, 6. Aufl., § 276 Rdnr. 95, 104 ff.; Erman/Westermann, BGB, 13. Aufl., § 276 Rdnr. 16; Palandt/Grüneberg, BGB, 71. Aufl., § 277 Rdnr. 5). Geht es um die Verantwortlichkeit von Kindern und Jugendlichen, sind die gesetzlichen Vorgaben der §§ 828 Abs. 2 und 3 BGB zu beachten: Während ein Kind bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres für einen Schaden, der auf einer unzureichenden Einschätzung der Verkehrssituation beruht, nur bei vorsätzlicher Tatbegehung verantwortlich ist, scheidet eine Verantwortlichkeit bei älteren Kindern aus, wenn dem Kind oder Jugendlichen die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht fehlt (§ 828 Abs. 3 BGB). Hierbei ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die kindlichen Eigenheiten, insbesondere die jungen Menschen wesenseigene Impulsivität, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und gruppendynamisches Verhalten, welche bei der typisierenden Betrachtungsweise des § 828 Abs. 2 BGB Kinder unter zehn Jahren an der hinreichenden Einschätzung der aus dem Straßenverkehr resultierenden Gefahren hindert, nicht gewissermaßen punktuell mit dem Erreichen des zehnten Lebensjahres abgestellt werden. In Anbetracht dessen wird der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit selbst bei elementaren Verkehrsverstößen auch im Anwendungsbereich des § 828 Abs. 3 BGB die altersbedingte Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen einzubeziehen haben.

bbbb) Für den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt bedeutet dies: Die Vorfahrtsregelungen gehören zu den elementaren Verkehrsvorschriften, die ein zwölfjähriges Kind, welches mit seinem Fahrrad am öffentlichen Straßenverkehr teilnimmt, beherrschen muss. Dies gilt insbesondere, wenn die Vorfahrtssituation – wie im vorliegenden Fall – deutlich erkennbar ist: Der Kläger bog von einem klar als Nebenstraße ausgebauten Zufahrtsweg auf eine vielbefahrene Landstraße ein. Die Verkehrslage und die gebotene Handlungsanweisung war dem Kläger nach seiner eigenen Einlassung auch durchaus bewusst: Die von ihm im Rahmen der Anhörung geschilderte Verhaltensweise entspricht dem „schulmäßigen“ Vorgehen. Überdies sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, weshalb die Einsichtsfähigkeit des Klägers, der zum Zeitpunkt des Unfalls mit guten Leistungen ein Gymnasium besuchte, zu relativieren sei.

Demnach wäre der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ohne weiteres gerechtfertigt, wenn der Kläger gewissermaßen blindlings und ohne Halt auf die Landstraße eingebogen wäre. Allerdings ist ein solches Verhalten nicht bewiesen. Vielmehr ist unter Berücksichtigung der Grundsätze zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zugunsten des Klägers davon auszugehen, dass der Kläger zwar angehalten hatte, beim Beobachten der Verkehrslage allerdings nicht die gebotene Umsicht walten ließ. Ein solcher Sorgfaltsverstoß wiegt weniger schwer: Die Verkennung der wahren Verkehrslage, insbesondere die fehlerhafte Einschätzung von Geschwindigkeiten und Abständen, ist geradezu ein Merkmal der noch in ihrer Entwicklung befindlichen eingeschränkten jugendlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Bei zusammenfassender Würdigung ist dem zum Zeitpunkt des Unfalls erst 12 Jahre alten Kläger lediglich ein einfach fahrlässiger Verkehrsverstoß vorzuwerfen.

cc) Demgegenüber ist ein unfallursächlicher Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1) nicht bewiesen. aaa) Ein Geschwindigkeitsverstoß läge vor, wenn der Beklagte zu 1) schneller als 70 km/h gefahren wäre. Indessen ist eine Überschreitung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit nicht nachgewiesen:

Auf der Landstraße war die Geschwindigkeit in Abweichung von § 3 Abs. 3 Nr. 2 c StVO durch Aufstellen des Zeichens Nr. 274 auf 70 km/h beschränkt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist jedenfalls nicht zu klären, ob der Beklagte zu 1) schneller als 70 km/h fuhr. Der im Ermittlungsverfahren mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragte Sachverständige hat die Ausgangsgeschwindigkeit des Pkws mangels Spuren nicht präzise ermittelt, sondern ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kollisionsgeschwindigkeit zwischen 50 und 80 km/h gelegen haben kann (Bl. 125 der Beiakte). Unter Berücksichtigung der im Ermittlungsverfahren wiedergegebenen Unfallschilderung des Beklagten zu 1) (Beiakte Bl. 12) kann diese Geschwindigkeit im Wesentlichen der Bremsausgangsgeschwindigkeit entsprochen haben. Auch die Aussage der Zeugin ist – wie bereits dargelegt – zum Nachweis einer Geschwindigkeitsüberschreitung nicht hinreichend exakt.

bbb) Auch ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot steht nicht fest: Aus den zutreffenden Erwägungen des Landgerichts war der Beklagte zu 1) nicht gehalten, in Erfüllung des Gebots, seine Geschwindigkeit den Straßen-, Verkehrs-, Sicht-, und Wetterverhältnissen anzupassen (§ 3 Abs. 1 S. 2 StVO), die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 70 km/h zu unterschreiten. Der Auffassung der Berufung, wonach ein solches Verhalten aufgrund des aufgestellten Warnzeichens geboten gewesen sei, vermag der Senat nicht zu folgen:

aaaa) Seit der – freilich auf den vorliegenden Fall nicht anwendbaren – Neufassung des § 40 Abs. 1 StVO mit Wirkung zum 1.9.2009 stellt der Wortlaut der Vorschrift klar, dass ein Gefahrenzeichen die Verkehrsteilnehmer insbesondere zur Verringerung der Geschwindigkeit im Hinblick auf eine Gefahrensituation (§ 3 Abs. 1 StVO) mahnt. Allerdings ist dieses Gebot nicht so zu verstehen, dass das Gefahrenzeichen eine generelle Herabsetzung der Geschwindigkeit vorschreibt. Ein so weitgehender Regelungsinhalt ist dem Zusatzschild jedenfalls dann nicht beizumessen, wenn die Straßenverkehrsbehörde zugleich die nach § 3 Abs. 3 StVO gesetzlich vorgeschriebene Geschwindigkeit herabsetzt. Denn in einem solchen Fall darf der Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen, dass die Straßenverkehrsbehörde der generellen Gefährdungslage, wie sie sich den Verkehrsteilnehmern insbesondere aufgrund der örtlichen Gegebenheiten des Straßenverlaufs unabhängig von der konkreten Verkehrslage stets darbietet, bereits bei ihrer Entscheidung zur Herabsetzung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit Rechnung getragen hat.

bbbb) Weist die Straßenverkehrsbehörde zusätzlich zur Herabsetzung der Geschwindigkeit durch Aufstellen von Zusatzschildern auf Gefahrenstellen hin, so verhält sich der Verkehrsteilnehmer verkehrsgerecht, wenn er dem Straßenverlauf und erkennbaren Einmündungen eine größere Aufmerksamkeit widmet. Dies kann im Einzelfall bedeuten, dass er seine Geschwindigkeit in der Annäherung an eine Einmündung herabsetzen muss, wenn dies die in § 3 Abs. 1 S. 2 StVO genannten Parameter gebieten. Diese Handlungsanweisung hätte der Beklagte zu 1) sicher dann befolgen müssen, wenn die Verkehrs- und Sichtverhältnisse erschwert gewesen wären. Auch dann, wenn der Beklagte zu 1) in der Annäherung an die Einmündung Verkehrsteilnehmer wahrgenommen hätte, mag Anlass für eine Herabsetzung der Geschwindigkeit bestanden haben. Indessen lag ein solcher Sachverhalt in der konkreten Unfallsituation nicht vor, weshalb – dies impliziert das Beweisergebnis – der Beklagte auch dem Gebot des § 3 Abs. 2a StVG nicht zuwider handelte.

cccc) Soweit die Berufung das Gebot zur Geschwindigkeitsreduzierung alleine aus der schlechten Einsehbarkeit der Einmündung herleitet, vermag auch dies nicht zu überzeugen: Die Einmündung war für einen die Zufahrt befahrenden Verkehrsteilnehmer nicht unübersichtlich. Wäre ein Verkehrsteilnehmer in der Situation des Klägers, wie dies die StVO vorschreibt, langsam an die Einmündung herangefahren, so hätte er die Landstraße in einer hinreichenden Tiefe klar überblickt. Aus denselben Überlegungen stellte die Einmündung auch für Verkehrsteilnehmer in der Annäherungsrichtung des Beklagten zu 1) ohne Hinzutreten besonderer Umstände keine gefährliche Straßensituation dar. Unter Geltung des Vertrauensgrundsatzes musste der Beklagte zu 1) mit einem groben Verkehrsverstoß noch nicht erkennbarer Verkehrsteilnehmer nicht rechnen, weshalb für den Beklagten zu 1) in der Annäherung an die Einmündung kein konkreter Anlass bestand, die Geschwindigkeit stärker zu reduzieren.

Der letztgenannte Aspekt unterscheidet den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt vom Sachverhalt der Entscheidung des OLG Hamm (NJW-RR 2009, 1185): In dieser Entscheidung ist das OLG Hamm zu der Einsicht gelangt, dass ein Motorradfahrer aufgrund des Gefahrenzeichens „Radfahrer kreuzen“ gehalten sei, seine Geschwindigkeit weiter als vorgeschrieben herabzusetzen, ohne dass die konkrete Gefahr durch kreuzende Radfahrer schon sichtbar sei. Nach den Feststellungen des OLG Hamm waren im dort zu beurteilenden Sachverhalt die Sichtverhältnisse auch für querende Radfahrer erschwert.

dddd) Letztlich kann die Frage nach dem Gebotsgehalt des Zeichens Nr. 101 dahinstehen: Nach § 40 Abs. 2 StVO sollen Gefahrenzeichen außerhalb geschlossener Ortschaften im Allgemeinen 150 bis 250 m vor der Gefahrenstelle aufgestellt sein. Ist die Länge der Gefahrenstelle erheblich größer, kann ein Zusatzschild nach § 40 Abs. 4 StVO die Länge der Gefahrenstelle angeben. Dies ist im vorliegenden Sachverhalt nicht geschehen: Das Zusatzzeichen wurde in einer Entfernung von einem Kilometer vor der Einmündung aufgestellt. Folglich war der Gefahrenhinweis der Beschilderung an der Einmündung zum K. Hof nicht mehr hinreichend präsent.

ccc) Kann dem Beklagten zu 1) demnach nicht vorgeworfen werden, nicht langsamer als 70 km/h gefahren zu sein, bedarf die Berufungsrüge zur Verwertbarkeit des Sachverständigengutachtens keiner Entscheidung: Überlegungen dazu, ob der Unfall aus einer geringeren Geschwindigkeit von nur 50 km/h räumlich oder zeitlich vermeidbar war oder geringere Verletzungen hervorgerufen hätte, sind für den Ausgang des Rechtsstreits ohne Relevanz.

dd) In der Gewichtung des Mitverschuldens erachtet der Senat eine hälftige Haftungsquote für sachgerecht:

Das Landgericht hat die straßenverkehrsrechtliche Haftung deshalb hinter das Verschulden des Klägers vollständig zurücktreten lassen, weil der Unfall aus Sicht des Beklagten zu 1) unabwendbar gewesen sei und den Kläger ein schwerwiegendes Verschulden treffe (LG-U S. 7, 4. Abs.). Dem begegnen sowohl auf der rechtlichen als auch auf der tatsächlichen Ebene durchgreifende Bedenken:

aaa) Das Landgericht hat dem Kriterium der Unabwendbarkeit auf der rechtlichen Ebene ein zu starkes Gewicht verliehen: Wie bereits dargelegt, lässt die Unabwendbarkeit des Ereignisses die Gefährdungshaftung nach § 7 StVG nicht entfallen. Auch auf der Ebene der Haftungsabwägung gibt es keinen rechtskonstruktiven Weg, um den Rechtsgedanken des § 17 Abs. 3 StVG auf die Haftungsabwägung nach § 254 BGB zu übertragen. Dass die Unabwendbarkeit des Verkehrsunfalls kein hinreichender Grund für eine vollständige Haftungsbefreiung ist, lässt sich mit Klarheit aus den Gesetzesmaterialien zur Reform des § 7 StVG belegen: Der Gesetzgeber empfand es auf der Grundlage des vorreformierten Rechts für unbefriedigend, dass Fahrer namentlich bei der Schädigung von hilfsbedürftigen Verkehrsteilnehmern – selbst wenn sich diese objektiv verkehrswidrig verhalten haben – jeglicher Haftung allein durch den Nachweis eines unabwendbaren Ereignisses entgehen konnten. Demnach sollte künftig nach dem erklärten Willen des Reformgesetzgebers ein vollständiger Haftungsausschluss nur noch in besonderen Einzelfällen möglich sein, so insbesondere dann, wenn der einfachen Betriebsgefahr des Kraftfahrzeughalters ein gravierendes Mitverschulden gegenübersteht (BT-Drucks. 14/7752, S. 30; vgl. auch BGH, Urt. v. 18.11.2003 – VI ZR 31/02, MDR 2004, 444; Urt. v. 13.2.1990 – VI ZR 128/89, VersR 1990, 535, 536).

bbb) Darüber hinaus ist die Unabwendbarkeit des Ereignisses entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht positiv bewiesen. Das im beigezogenen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren erstattete Sachverständigengutachten kommt lediglich zu dem Ergebnis, dass die Vermeidbarkeit des Unfalls nicht positiv nachgewiesen werden kann:

Im Einzelnen hat der Sachverständige in seinem Gutachten vom 28.8.2008 (S. 67 ff.; Bl. 123 ff. d. Beiakte) Weg-Zeit-Berechnungen vorgenommen und dargestellt, dass der Unfall selbst aus einer Geschwindigkeit von 100 km/h vermeidbar gewesen wäre, wenn sich der Kläger zum Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung bis zum Kollisionszeitpunkt langsam fortbewegt hätte und er die Fahrbahn in der Mitte der Straße zum überschritten hätte. In diesem Fall wäre der Beklagte zu 1) noch 173,60 m von der späteren Kollisionsstelle entfernt gewesen, während der Anhalteweg lediglich 70,4 m betragen hätte. Sodann hat der Sachverständige zahlreiche Alternativen aufgezeigt, unter denen der Unfall räumlich und zeitlich nicht vermeidbar gewesen wäre. Weiterhin ist das Ergebnis des Sachverständigenbeweises deshalb mit Unsicherheiten behaftet, weil auch der Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung keineswegs feststeht. Es ist – wie bereits dargelegt – nicht bewiesen, dass der Kläger dem Beklagten zu 1) ohne jegliches Anhalten die Vorfahrt nahm. Stellt man in Rechnung, dass der Kläger zumindest eine Zeitlang im Bereich der Einmündung verharrte, ist durchaus ein früherer Zeitpunkt für eine Reaktionsaufforderung in Betracht zu ziehen. Schließlich ist nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens offen, bei welcher der vom Sachverständigen aufgezeigten Alternativen die Verletzungsfolgen für den Kläger weniger gravierend ausgefallen wären, wenn sich der Beklagte zu 1) wie ein Idealfahrer verhalten hätte.

Diese Unschärfe auf der tatsächlichen Ebene erlaubt den Schluss, dass der Unfall nicht nachgewiesen vermeidbar war (so auch das Landgericht auf LG-U S. 10, 2. Abs., letzter Satz). Damit ist freilich nicht im Umkehrschluss bewiesen, dass die Unabwendbarkeit positiv feststeht.

ccc) In der Zusammenschau stehen sich die allgemeine Betriebsgefahr des vom Beklagten gesteuerten PKW und das fahrlässige Verhalten des Klägers gegenüber. Mit Blick auf das jugendliche Alter des Klägers, der zum Zeitpunkt des Unfalls erst 12 Jahre alt war, und unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Intention, mit der Reform des § 7 StVG insbesondere die Rechtsstellung hilfsbedürftiger Verkehrsteilnehmer zu verbessern, war die Haftung der Beklagten aufgrund des Mitverschuldens des Klägers auf eine Quote von 50% zu beschränken.

4. Die Haftung des Beklagten zu 1) verlangt keine abweichende Beurteilung: Wegen der nicht weiter aufzuklärenden Umstände des Unfallgeschehens kann der Beklagte zu 1) den ihm gem. § 18 Abs. 1 S. 2 StVG obliegenden Nachweis für ein fehlendes Verschulden mit dem erforderlichen sicheren Beweismaß des § 286 ZPO nicht führen. Im Rahmen des § 18 Abs. 1 StVG trägt der Fahrer den prozessualen Nachteil aus der Nichterweislichkeit möglicher Verkehrsverstöße.

5. Der Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltskosten folgt aus § 249 Abs. 2 S. 1 BGB: Mit Blick auf die gravierenden Folgen des Unfallgeschehens stellt die Beauftragung eines Rechtsanwalts eine zweckentsprechende und vernünftige Maßnahme der Rechtsverfolgung dar, weshalb die entstandenen Aufwendungen als Teil des materiellen Schadensersatzes zu erstatten sind; auch die Anwaltskosten werden vom Schutzbereich der Haftungsnorm (§§ 7, 18 StVG; § 823 BGB) umfasst (vgl. BGH, Urt. v. 10.1.2006 – VI ZR 43/05, NJW 2006, 1065; Palandt/Grüneberg, aaO, § 249 Rdnr. 56 f.).


B.

Die Kostenfolge beruht auf § 91 Abs. 1, § 100 Abs. 4 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).