Das Verkehrslexikon
Landgericht Gießen Vorlagebeschluss vom 21.09.2010 - 1 Ns 603 Js 36155/08 - Vorlage im Vorabentscheidungsverfahren zum Führerscheintourismus
LG Gießen v. 21.09.2010: Vorlagefragen an den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren zum Führerscheintourismus
Das Landgericht Gießen (Vorlagebeschluss vom 21.09.2010 - 1 Ns 603 Js 36155/08) hat entschieden:
Sind
a) Artikel 1 Abs. 2 i.V.m. Art. 8 Abs. 4, 2 der Richtlinie des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (91/439/EWG)
b) Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (Neufassung)
dahin auszulegen,
- dass sie es einem Mitgliedsstaat (Aufnahmestaat) verwehren, es abzulehnen, die von einem anderen Mitgliedsstaat (Ausstellerstaat) erteilte Fahrerlaubnis in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen, wenn dem Erwerb der Fahrerlaubnis im Ausstellerstaat eine Versagung einer Fahrerlaubnis im Aufnahmestaat vorausgegangen ist, weil die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges nicht erfüllt worden seien;
- bejahendenfalls: dass sie es einem Mitgliedsstaat (Aufnahmestaat) verwehren, es abzulehnen, die von einem anderen Mitgliedsstaat (Ausstellerstaat) erteilte Fahrerlaubnis in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen, wenn dem Erwerb der Fahrerlaubnis im Ausstellerstaat eine Versagung einer Fahrerlaubnis im Aufnahmestaat vorausgegangen ist, weil die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges nicht erfüllt worden seien und aufgrund von Angaben auf dem Führerschein, sonstigen vom Ausstellerstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen oder aufgrund sonstiger unzweifelhafter Erkenntnisse, insbesondere etwaiger Angaben des Führerscheininhabers selbst oder weiterer sicherer Erkenntnisse des Aufnahmestaates, feststeht, dass ein Verstoß gegen die Wohnsitzregel des Art. 7 Abs. 1 lit. b der RL 91/439/EWG bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. e der RL 2006/126/EG vorliegt
– soweit sonstige unzweifelhafte Erkenntnisse, insbesondere etwaige Angaben des Führerscheininhabers selbst oder weitere sichere Erkenntnisse des Aufnahmestaates nicht ausreichen: Rühren Informationen auch dann im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes vom Ausstellerstaat her, wenn sie nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar in Form einer auf solche Informationen gestützten Mitteilung Dritter, insbesondere der Botschaft des Aufnahmestaates im Ausstellerstaat, übermittelt wurden –;
- dass sie es einem Mitgliedsstaat (Aufnahmestaat) verwehren, es abzulehnen, die von einem anderen Mitgliedsstaat (Ausstellerstaat) erteilte Fahrerlaubnis in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen, wenn zwar die formalen Voraussetzungen für den Erwerb eines Führerscheins im Ausstellerstaat gewahrt wurden, jedoch feststeht, dass der Aufenthalt allein dem Führerscheinerwerb und keinen weiteren vom Unionsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten des AEUV und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, geschützten Zwecken dient (Führerscheintourismus)?
Gründe:
I.
1. Der Angeklagte des vorliegenden Jugendstrafverfahrens, Herr ..., geb. am ..., ist bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. In einem Verfahren wegen Körperverletzung wurde er mit Beschluss des Amtsgerichts ... vom 31.03.2004, ... ermahnt, das Verfahren wurde sodann eingestellt. In einem Verfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (...) wurde gemäß Verfügung der Staatsanwaltschaft ... vom 26.01.2007 von der Verfolgung abgesehen. Mit Urteil des Amtsgerichts ... (...) vom 25.09.2006 wurde der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung verwarnt und mit einem Freizeitarrest belegt. Mit weiterem Urteil des Amtsgerichts ... (...) vom 15.02.2007, ..., wurde der Angeklagte wegen gemeinschaftlicher schwerer räuberischer Erpressung zu einer Jugendstrafe von 9 Monaten verurteilt, die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
2. Mit Urteil des Amtsgerichts ... (...) vom 06.12.2007, ..., wurde der Angeklagte wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen sowie wegen Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren verurteilt. Die vorangegangene Verurteilung vom 15.02.2007 wurde hierin einbezogen, die Entscheidung über eine Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung wurde zurückgestellt. Der Verurteilung lagen neben der Bedrohung und Beleidigung vom 09.06.2006 Autofahrten des Angeklagten vom 08.03.2007 und vom 12.11.2007 zu Grunde. Mit weiterem Urteil des Amtsgerichts ... (...) vom 27.11.2008 (...) wurde der Angeklagte unter Einbeziehung des vorgenannten Urteils vom 06.12.2007 des Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 4 Fällen schuldig gesprochen. Es blieb jedoch bei der Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren; die Entscheidung über eine Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung wurde für die Dauer von 9 Monaten zurückgestellt und bislang vom Amtsgericht nicht getroffen. Der Verurteilung liegen Autofahrten Mitte April 2008, Ende April/Anfang Mai 2008, am 18.10.2008 und am 20.10.2008 zu Grunde.
3. Am 04.03.2008 beantragte der Angeklagte beim Landrat des Wetteraukreises die Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B (Bl. 104 der Fahrerlaubnis-Beiakte). Der Landrat machte die Erteilung der Fahrerlaubnis mit Schreiben vom 12.06.2008, Bl. 71 der Fahrerlaubnis-Beiakte, von der Vorlage eines für den Angeklagten positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens abhängig. Der Angeklagte unterzog sich der verlangten Begutachtung. Der Gutachter kam in seinem Gutachten vom 08.09.2008, Bl. 92-77 der Fahrerlaubnis-Beiakte, zu dem Ergebnis, dass nicht zu erwarten sei, dass der Angeklagte die körperlichen und geistigen Voraussetzungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges der Gruppe 1 (Klassen B, L, M, S) im Straßenverkehr erfülle; es gebe Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotential.
4. Mit Bescheid vom 10.09.2008 (Bl. 95-93 der Fahrerlaubnis-Beiakte) lehnte der Landrat des Wetteraukreises den Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis ab (Versagung der Fahrerlaubnis), weil der Angeklagte die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges nicht erfülle. Der Angeklagte verzichtete mit Erklärung vom 15.09.2008, Bl. 107 der Fahrerlaubnis-Beiakte, auf Rechtsmittel gegen den Bescheid, der damit bestandskräftig wurde.
5. Am 24.11.2008 erwarb der Angeklagte in der Stadt ... in der Tschechischen Republik einen Führerschein für Kraftfahrzeuge der Klasse B. Nach Mitteilung der Deutschen Botschaft in ... (Bl. 85 d.A.) ist bei der Ausländerbehörde und der Polizei in ... nicht feststellbar, ob sich der Angeklagte um den 24.11.2008 in der Tschechischen Republik aufhielt. Bei der Ausländerbehörde liegt nach der E-Mail-Mitteilung der Botschaft vom 06.10.2009, Bl. 220 der Fahrerlaubnis-Beiakte, lediglich eine Meldung für die Zeit vom 01.06.2009-01.12.2009 vor. Dort sei der Führerschein ... am 08.06.2009 ausgestellt worden. Ausweislich der Ablichtung des Führerscheins Bl. 284 der Fahrerlaubnis-Beiakte erfolgte die erstmalige Erteilung jedoch bereits am 24.11.2008.
6. Am 05.12.2008 befuhr der Angeklagte mit dem PKW BMW, amtliches Kennzeichen ..., die Bahnhofsallee in ....
7. Am 01.03.2009 befuhr der Angeklagte mit dem PKW Mercedes Benz, amtliches Kennzeichen ..., die ...-Straße in ....
8. Das Amtsgericht ... (...) – Jugendschöffengericht – hat den Angeklagten wegen dieser beiden Fahrten mit Urteil vom 17.12.2009, ..., des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§§ 2 Abs. 1, 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) in zwei Fällen schuldig gesprochen. Gegen dieses Urteil, in dessen Feststellungen die Fahrt vom 01.03.2009 versehentlich nicht erwähnt wurde, hat der Angeklagte Berufung zur vorlegenden Jugendkammer des Landgerichts eingelegt.
9. Das Jugendschöffengericht hat gemeint, die tschechische Fahrerlaubnis berechtige den Angeklagte jedenfalls deshalb nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen in der Bundesrepublik Deutschland, weil ihm vor ihrem Erwerb eine Fahrerlaubnis in Deutschland versagt worden sei, § 28 Abs. 4 Nr. 3 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV).
II.
Die §§ 2 Abs. 1 und 21 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 des deutschen (Bundes-) Straßenverkehrsgesetzes (StVG) lauten:
§ 2 Fahrerlaubnis und Führerschein
(1) Wer auf öffentlichen Straßen ein Kraftfahrzeug führt, bedarf der Erlaubnis (Fahrerlaubnis) der zuständigen Behörde (Fahrerlaubnisbehörde). Die Fahrerlaubnis wird in bestimmten Klassen erteilt. Sie ist durch eine amtliche Bescheinigung (Führerschein) nachzuweisen.
(2) ...
§ 21 Fahren ohne Fahrerlaubnis
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
- ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat oder ihm das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dieses Gesetzes verboten ist, oder
- (...)
(2) Mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen wird bestraft, wer
- eine Tat nach Absatz 1 fahrlässig begeht,
- (...)
§ 28 Absätze 1, 4 und 5 der deutschen (Bundes-) Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) lauten in der vom 01.02.2005-15.01.2009 gültigen Fassung:
§ 28 Anerkennung von Fahrerlaubnissen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum
(1) Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 in der Bundesrepublik Deutschland haben, dürfen - vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 - im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Auflagen zur ausländischen Fahrerlaubnis sind auch im Inland zu beachten. Auf die Fahrerlaubnisse finden die Vorschriften dieser Verordnung Anwendung, soweit nichts anderes bestimmt ist.
(2) – (3) (...)
(4) Die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis,
- die lediglich im Besitz eines Lernführerscheins oder eines anderen vorläufig ausgestellten Führerscheins sind,
- die zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten, es sei denn, daß sie als Student oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 die Fahrerlaubnis während eines mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben haben,
- denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist, denen die Fahrerlaubnis bestandskräftig versagt worden ist oder denen die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil sie zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet haben,
- denen auf Grund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung keine Fahrerlaubnis erteilt werden darf oder
- solange sie im Inland, in dem Staat, der die Fahrerlaubnis erteilt hatte, oder in dem Staat, in dem sie ihren ordentlichen Wohnsitz haben, einem Fahrverbot unterliegen oder der Führerschein nach § 94 der Strafprozeßordnung beschlagnahmt, sichergestellt oder in Verwahrung genommen worden ist.
(5) Das Recht, von einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis nach einer der in Absatz 4 Nr. 3 und 4 genannten Entscheidungen im Inland Gebrauch zu machen, wird auf Antrag erteilt, wenn die Gründe für die Entziehung oder die Sperre nicht mehr bestehen. § 20 Abs. 1 und 3 gilt entsprechend.
§ 28 Absätze 1, 4 und 5 der deutschen (Bundes-) Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) lauten in der ab 19.01.2009 gültigen Fassung (Änderungen sind hervorgehoben):
§ 28 Anerkennung von Fahrerlaubnissen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum
(1) Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 in der Bundesrepublik Deutschland haben, dürfen - vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 - im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Auflagen zur ausländischen Fahrerlaubnis sind auch im Inland zu beachten. Auf die Fahrerlaubnisse finden die Vorschriften dieser Verordnung Anwendung, soweit nichts anderes bestimmt ist.
(2) –(3) (...)
(4) Die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis,
- die lediglich im Besitz eines Lernführerscheins oder eines anderen vorläufig ausgestellten Führerscheins sind,
- die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten, es sei denn, dass daß sie als Studierende, Student oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 die Fahrerlaubnis während eines mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben haben,
- denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist, denen die Fahrerlaubnis bestandskräftig versagt worden ist oder denen die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil sie zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet haben,
- denen auf Grund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung keine Fahrerlaubnis erteilt werden darf oder
- solange sie im Inland, in dem Staat, der die Fahrerlaubnis erteilt hatte, oder in dem Staat, in dem sie ihren ordentlichen Wohnsitz haben, einem Fahrverbot unterliegen oder der Führerschein nach § 94 der Strafprozeßordnung beschlagnahmt, sichergestellt oder in Verwahrung genommen worden ist.
In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 kann die Behörde einen feststellenden Verwaltungsakt über die fehlende Berechtigung erlassen. Satz 1 Nr. 3 und 4 ist nur anzuwenden, wenn die dort genannten Maßnahmen im Verkehrszentralregister eingetragen und nicht nach § 29 des Straßenverkehrsgesetzes getilgt sind.
(5) Das Recht, von einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis nach einer der in Absatz 4 Nr. 3 und 4 genannten Entscheidungen im Inland Gebrauch zu machen, wird auf Antrag erteilt, wenn die Gründe für die Entziehung oder die Sperre nicht mehr bestehen. Absatz 4 Satz 3 sowie § 20 Abs. 1 und 5 gelten entsprechend.
III.
Nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/EWG (anwendbar für beide Fahrten des Angeklagten) bzw. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG (anwendbar für die Fahrt vom 01.03.2009) werden die von den Mitgliedsstaaten ausgestellten Führerscheine gegenseitig anerkannt. Art. 8 Abs. 4 der RL 91/439/EWG sieht vor, dass ein Mitgliedsstaat es ablehnen kann, die Gültigkeit eines Führerscheins anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedsstaat einer Person ausgestellt wurde, auf die in seinem Hoheitsgebiet eine der in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie genannten Maßnahmen (Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis) angewendet wurde. Entsprechende Regelungen finden sich auch in Art. 11 Abs. 4 der RL 2006/126/EG (gültig ab 19.01.2009), die hinsichtlich Einschränkung, Aussetzung und Entzug dahingehend verschärft sind, dass die Nichtanerkennung nun zwingend vorgeschrieben ist.
Vor diesem Hintergrund fragt sich zunächst, ob die vom Jugendschöffengericht angewandte Regelung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV in den Fällen den unionsrechtlichen Vorgaben genügt, in denen nicht eine bereits einmal erteilte Fahrerlaubnis wieder entzogen, sondern bereits die erste Erteilung verweigert (versagt) wird. So verhält es sich hier. Die tschechische Fahrerlaubnis war die erste, die dem Angeklagten erteilt wurde, sein früherer Antrag in Deutschland wurde zurückgewiesen. Nach Einschätzung der vorlegenden Kammer dürfte die Regelung mit den unionsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar sein. Der Gerichtshof hat bereits in der Rechtssache Kapper (C-476/01) im Urteil vom 29.04.2004 ausgesprochen, dass einer Person nicht auf unbestimmte Zeit die Anerkennung eines Führerscheins versagt werden dürfe, der ihr möglicherweise später von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellt wird (Rn. 76). Dies hat der Gerichtshof im Beschluss vom 28.9.2006, C-340/05, Rs. Kremer, Rn. 29, 34, nochmals bestätigt.
Wenn die frühere Versagung einer Fahrerlaubnis allein die Nichtanerkennung der später in einem anderen Mitgliedsstaat erworbenen Fahrerlaubnis nicht rechtfertigt, fragt sich für die Anwendung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 sowie Nr. 2 FeV, ob dies doch der Fall ist, wenn die Fahrerlaubnis früher versagt wurde und feststeht, dass ein Verstoß gegen die Wohnsitzregel des Art. 7 Abs. 1 lit. b der RL 91/439/EWG bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. e der RL 2006/126/EG vorliegt. Der Gerichtshof hat diese Frage, soweit ersichtlich, bislang lediglich für den Fall entschieden, dass dem Führerscheinerwerb ein Entzug einer früheren Fahrerlaubnis vorangegangen ist (Urt. v. 26.06.2008, C-329/06 und C-343/06, Rs. Wiedemann und Funk; auch in dem Beschluss v. 28.09.2006, C-340/05, Rs. Kremer, wurde maßgeblich auf den Entzug, nicht auf eine ebenfalls vorliegende Versagung abgestellt). Es fragt sich daher, ob die in den Richtlinien nicht ausdrücklich erwähnte Versagung dem Entzug gleichsteht.
Dabei fragt sich weiter, ob der Verstoß allein aufgrund von Angaben auf dem Führerschein und sonstigen vom Ausstellerstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen feststellbar sein muss, worauf das genannte Urteil des Gerichtshofes vom 26.06.2008 hindeutet, oder auch sonstige unzweifelhafte Erkenntnisse Berücksichtigung finden können, insbesondere etwaige Angaben des Führerscheininhabers selbst oder weitere sichere Erkenntnisse des Aufnahmestaates. Sofern letzteres zu verneinen sein sollte, fragt sich, ob Informationen auch dann im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofes vom Ausstellerstaat herrühren, wenn sie nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar in Form einer auf solche Informationen gestützten Mitteilung Dritter, insbesondere der Botschaft des Aufnahmestaates im Ausstellerstaat, übermittelt wurden. Die nationale Regelung des § 28 Abs. 4 Nr. 2 FeV n. F. würde bei unionsrechtlicher Zulässigkeit von der Kammer in diesem Sinne ausgelegt.
Schließlich fragt sich für die Anwendung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV, ob die Berufung auf die Regelungen der Richtlinien missbräuchlich und damit unbeachtlich ist, wenn zwar die formalen Voraussetzungen für den Erwerb eines Führerscheins im Ausstellerstaat gewahrt wurden, jedoch feststeht, dass der Aufenthalt allein dem Führerscheinerwerb und keinen weiteren vom Unionsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten des AEUV und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, geschützten Zwecken dient (Führerscheintourismus), die Richtlinien der Anwendung nationaler die Anerkennung versagender Bestimmungen in diesen Fällen also nicht entgegenstehen.
Es ist der vorlegenden Kammer aufgrund der deutschen Strafprozessordnung nicht möglich, die tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung vor Vorlage an den Gerichtshof abschließend zu klären, da die Hauptverhandlung nach einer Entscheidung des Gerichtshofes ohne Bindung an frühere Feststellungen zu wiederholen sein wird.