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OLG Stuttgart Beschluss vom 10.02.2011 - 1 Ss 616/10 - Zur Annahme einer fahrlässigen Rauschfahrt

OLG Stuttgart v. 10.02.2011: Zur Annahme einer fahrlässigen Rauschfahrt


Das OLG Stuttgart (Beschluss vom 10.02.2011 - 1 Ss 616/10) hat entschieden:
Da es sich nach einhelliger Meinung bei dem Umstand, dass der Betroffene ein Kraftfahrzeug „unter der Wirkung“ berauschender Mittel führt, nicht um eine objektive Bedingung der Strafbarkeit, sondern um ein Tatbestandsmerkmal handelt, muss sich der Vorwurf schuldhafter Tatbegehung auf die Wirkungen des Rauschmittels zum Tatzeitpunkt beziehen. Hinsichtlich des Fahrlässigkeitsvorwurfes bedeutet dies, dass dem Betroffenen nachzuweisen ist, dass er die fortdauernde Wirkung des berauschenden Mittels entweder erkannt hat oder hätte erkennen müssen. Dabei muss seine Vorstellung weder einen spürbaren oder messbaren Wirkstoffeffekt noch eine exakte physiologische und biochemische Einschätzung umfassen, zumal ein Kraftfahrer die Unberechenbarkeit von Rauschdrogen in Rechnung zu stellen hat. Es genügt das Bewusstsein, einer möglicherweise fortwirkenden Rauschwirkung. Dieses wird in der Regel ohne Weiteres zu bejahen sein, wenn der Betroffene das Fahrzeug in zeitlicher Nähe, etwa bei einer noch in Stunden und nicht in Tagen zu berechnenden Zeitspanne, zum vorausgegangenen Drogenkonsum führt.


Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Führens eines Kraftfahrzeuges unter der Wirkung eines berauschenden Mittels zu einer Geldbuße von 500 € und zu einem Fahrverbot von einem Monat Dauer verurteilt.

Das Amtsgericht hat zum Sachverhalt festgestellt :
„Der Betroffene befuhr am 18.2.2010 gegen 16.50 Uhr in G. als Führer des Pkw ... die D. Straße, obwohl er unter Wirkung des berauschenden Mittels Cannabis stand, was er zumindest hätte erkennen können und müssen. Eine beim Betroffenen am 18.2.2010, 17.35 Uhr, entnommene Blutprobe wurde zunächst immunologisch untersucht mit dem Ergebnis 'Cannabis positiv'. Die chemische Untersuchung ergab quantitativ die folgenden Substanzen: THC 1,1 ng/ml, THC-COOH 6,0 mg/ml, 11-OH-THC 0,3 ng/ml.“
Den Ausführungen des Amtsgerichts zur Beweiswürdigung ist Folgendes zu entnehmen: Der Betroffene habe sich zur Sache nicht eingelassen. Der als Zeuge vernommene Polizeibeamte habe bei dem fahrend in seinem Pkw angetroffenen Betroffenen zunächst - offenbar ohne konkreten Anlass - eine Führerscheinüberprüfung vornehmen wollen. Bei dieser Überprüfung habe er bei dem Betroffenen Betäubungsmittelbeeinflussung festgestellt, u.a. erweiterte Pupillen und gerötete Bindehäute. Betäubungsmittel seien bei dem Betroffenen nicht gefunden worden. Auf der Fahrt zur Blutentnahme, mit der der Betroffene einverstanden gewesen sei, habe dieser nach mündlicher Belehrung eingeräumt, einen Joint geraucht zu haben. Ob der Betroffene dabei gesagt habe, einen Tag vorher oder eine Woche vorher, vermochte der Zeugen nicht mehr anzugeben. Neben dem bereits im Sachverhalt festgestellten Ergebnis der chemischen Untersuchung der Blutprobe führt das Amtsgericht zum Inhalt des verlesenen Blutentnahmeprotokolls aus, dass beim Romberg-Test geringes Schwanken und bei der Finger-Finger-Probe Unsicherheiten festgestellt werden konnten. Dagegen seien die Nasen-Finger-Probe wie auch die plötzliche Kehrtwendung sicher gewesen. Desweiteren sei festgestellt worden, gerötete Bindehäute, stark erweiterte Pupillen und Händezittern, ansonsten normales Befinden, ruhige Stimmung, geordneter Denkablauf, klares Bewusstsein und deutliche Sprache, mit dem Ergebnis, dass der Untersuchte äußerlich leicht unter Drogeneinfluss zu stehen schien.

Zum subjektiven Tatbestand führt das Amtsgericht über die formelhafte Wendung im Sachverhalt hinaus im Rahmen der rechtlichen Würdigung aus :
„Der Betroffene stand somit zum Tatzeitpunkt unter Wirkung eines Rauschmittels, was er auch hätte erkennen können und müssen, da die Blutwirkstoffkonzentration über 1 ng/ml lag. Auch für den Polizeibeamten war sofort ersichtlich, dass der Betroffene Betäubungsmittel konsumiert hat ...Denn er konnte sofort die geröteten Bindehäute und die erweiterten Pupillen feststellen. Auch ergeben sich aus dem ärztlichen Untersuchungsbericht gewisse Ausfallerscheinungen“.
Gegen das Urteil hat der Betroffene unter Erhebung der Sachrüge und mit dem Ziel eines Freispruchs Rechtsbeschwerde eingelegt. Er rügt insbesondere, dass das Amtsgericht ohne ausreichende Feststellungen zum subjektiven Tatbestand der Zuwiderhandlung zu seinen Ungunsten angenommen habe, dass er zum Tatzeitpunkt von der Möglichkeit der Fortdauer der Wirkung des Cannabis Kenntnis hatte oder hätte haben können und müssen, somit zu Unrecht ein fahrlässiges Handeln bejaht habe. Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Verwerfung der Rechtsbeschwerde als unbegründet beantragt.


II.

Die rechtzeitig und in zulässiger Weise eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde hat in der Sache (vorläufigen) Erfolg.

Allerdings begegnet der Schuldspruch zum objektiven Tatbestand einer Zuwiderhandlung gegen § 24 a Abs. 2 StVG keinen Bedenken. Der Betroffene führte im öffentlichen Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug unter der Wirkung des in der Anlage zu dieser Vorschrift genannten berauschenden Mittels Cannabis, und zwar mit einem rechtsfehlerfrei festgestellten THC-Nachweiswert im Blut von 1,1 ng/ml. Damit ist auch der analytische „Grenzwert“ von 1,0 ng/ml überschritten, der sich in der obergerichtliche Rechtsprechung im Anschluss an die vom Bundesverfassungsgericht geforderte verfassungskonforme Auslegung des § 24 a Abs. 2 StVG (B. v. 21.12.2004 in NJW 2005, 349) durchgesetzt hat, und der es entsprechend dem Charakter der Vorschrift als eines abstrakten Gefährdungsdeliktes als möglich erscheinen lässt, dass der Täter beim Führen des Kraftfahrzeuges in seiner Fahrtüchtigkeit eingeschränkt war, ohne dass es auf Zeitpunkt und Menge des Drogenkonsums oder auf eine tatsächliche Beeinträchtigung ankäme.

Dagegen tragen die Feststellungen und Erwägungen des Amtsgerichts den Schuldspruch in subjektiver Hinsicht nicht.

In der neueren - soweit ersichtlich zumindest überwiegenden - Rechtsprechung der Oberlandesgerichte werden besonders dann, wenn eine längere Zeitspanne zwischen dem Konsum des Rauschmittels und der Fahrt unter dessen Wirkung liegt, strenge Anforderungen an die den Fahrlässigkeitsvorwurf tragenden Feststellungen und deren Darlegung in den Urteilsgründen gestellt (vgl. OLG Hamm in NJW 2005, 3298; OLG Saarbrücken in NJW 2007, 309; OLG Frankfurt in NStZ-RR 2007, 249 sowie in NZV 2010, 530; OLG Celle in NZV 2009, 89; KG in NZV 2009, 572 sowie in VRS 118, 205; OLG Braunschweig, B. v. 27.1.2010 - Ss(OWi) 219/09 -, zit. nach juris; kritisch zu dieser - schon als ständige obergerichtliche Rechtsprechung bezeichneten - Rechtsprechung etwa König in NStZ 2009, 425). Da es sich nach einhelliger Meinung bei dem Umstand, dass der Betroffene ein Kraftfahrzeug „unter der Wirkung“ berauschender Mittel führt, nicht um eine objektive Bedingung der Strafbarkeit, sondern um ein Tatbestandsmerkmal handelt, muss sich der Vorwurf schuldhafter Tatbegehung auf die Wirkungen des Rauschmittels zum Tatzeitpunkt beziehen. Hinsichtlich des Fahrlässigkeitsvorwurfes bedeutet dies, dass dem Betroffenen nachzuweisen ist, dass er die fortdauernde Wirkung des berauschenden Mittels entweder erkannt hat oder hätte erkennen müssen. Dabei muss seine Vorstellung weder einen spürbaren oder messbaren Wirkstoffeffekt noch eine exakte physiologische und biochemische Einschätzung umfassen, zumal ein Kraftfahrer die Unberechenbarkeit von Rauschdrogen in Rechnung zu stellen hat. Es genügt das Bewusstsein, einer möglicherweise fortwirkenden Rauschwirkung. Dieses wird in der Regel ohne Weiteres zu bejahen sein, wenn der Betroffene das Fahrzeug in zeitlicher Nähe, etwa bei einer noch in Stunden und nicht in Tagen zu berechnenden Zeitspanne, zum vorausgegangenen Drogenkonsum führt. Dagegen kann die Erkennbarkeit der Wirkung des Rauschmittels fehlen, wenn zwischen Konsum und Fahrt längere Zeit vergeht, weil mit zunehmendem Zeitablauf das Bewusstsein dafür schwindet, dass der zurückliegende Drogenkonsum noch Auswirkungen zur Tatzeit haben könnte (vgl. die oben zitierte neuere obergerichtliche Rechtsprechung, etwa KG in VRS und in NZV, OLG Saarbrücken, OLG Celle und OLG Frankfurt, jeweils a.a.O., wobei diesen Entscheidungen teilweise Zeitspannen von nur 23, 24 oder 28 Stunden zugrunde lagen). In diesen Fällen muss das Tatgericht die Vorstellung des Betroffenen unter Würdigung sämtlicher zur Verfügung stehenden Beweismittel feststellen.

Gemessen an den Anforderungen dieser obergerichtlichen Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, tragen die vom Amtsgericht dargelegten Umstände und Erwägungen den Schuldvorwurf der (unbewussten) Fahrlässigkeit nicht.

Das Amtsgericht hat zur Zeitspanne zwischen dem Cannabiskonsum und der Fahrt keine Feststellungen getroffen. Der zu früheren Äußerungen des Betroffenen vernommene Polizeibeamte vermochte nicht mehr zu sagen, ob der Betroffene am Tattag gesagt habe, einen Tag vorher oder eine Woche vorher einen Joint geraucht zu haben (UA S.4). Auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist nicht zu entnehmen, dass das Amtsgericht - bei sich nicht zur Sache einlassendem Betroffenen - aus anderen Beweisanzeichen sich hierzu überhaupt eine Überzeugung gebildet hat. Vielmehr lässt die - an die rechtliche Würdigung des objektiven Tatbestandes angeschlossene - Folgerung des Amtsgerichts, „Der Betroffene stand somit zum Tatzeitpunkt unter Wirkung eines Rauschmittels, was er auch hätte erkennen können und müssen, da die Blutwirkstoffkonzentration über 1 ng/ml lag“ (UA S.5), besorgen, dass das Amtsgericht die subjektive Erkennbarkeit der möglichen Fortwirkung als schon durch das Erreichen des für den objektiven Tatbestand erforderlichen THC-Nachweiswertes gegeben sieht. Gerade bei dem hier festgestellten, den „Grenzwert“ mit 1,1 ng/ml nur sehr geringfügig überschreitenden Nachweiswert ist dies nicht möglich. Dem steht nicht entgegen, dass ein um ein Vielfaches über dem „Grenzwert“ liegender THC-Wert grundsätzlich ein deutliches Beweisanzeichen für die Erkennbarkeit der möglichen Fortwirkung sein kann.

Eine besondere Sensibilisierung des Betroffenen im Hinblick auf eine länger anhaltende Wirkung des Rauschmittelgenusses, etwa durch regelmäßigen Konsum oder einschlägige Voreintragungen, hat das Amtsgericht nicht feststellen können. Voreintragungen sind nach den Feststellungen nicht vorhanden. Auch erfolgte die Verkehrskontrolle ersichtlich nicht aufgrund des Fahrverhaltens des Betroffenen.

Als Indizien für die Erkennbarkeit der fortwirkenden Rauschmittelwirkung kommen somit nur die von dem kontrollierenden Polizeibeamten bekundeten und auch im Blutentnahmeprotokoll festgehaltenen Beobachtungen, erweiterte Pupillen und gerötete Bindehäute, sowie die in den Urteilsgründen als „gewisse Ausfallserscheinungen“ (UA S.5) bezeichneten teilweisen Unsicherheiten des Betroffenen bei den im Zusammenhang mit der Blutentnahme durchgeführten Tests in Betracht. Unter Einbeziehung der weiteren im verlesenen Protokoll über die Blutentnahme niedergelegten, in den Urteilsgründen wiedergegebenen Beobachtungen und Testergebnisse, erscheinen diese indes nicht so eindeutig, dass sie - ohne sachverständige Beratung - hinreichend sicher einen zeitnahen Rauschmittelkonsum oder allein aus sich heraus die Erkennbarkeit der Fortwirkung für den Betroffenen belegen könnten. Auch diese Umstände machten demnach die nähere Klärung und Überzeugungsbildung des Amtsgerichts zur Frage eines zeitnahen Konsums nicht entbehrlich.

Das Urteil kann somit keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurück zu verweisen, weil ergänzende tatsächliche Feststellungen, insbesondere nach Hinzuziehung eines Sachverständigen, nicht ausgeschlossen erscheinen.

Dabei ist sich der Senat bewusst, dass es - soweit ersichtlich - derzeit keine zuverlässige Methode zur exakten Rückrechnung aus den im Blut nachgewiesenen Werten auf die genaue Zeit des Konsums gibt. Das schließt jedoch nicht aus, dass der Sachverständige aus den nachgewiesenen Werten, der früheren Einlassung des Betroffenen zum Genuß eines Joints und den durch die Beobachtung und die durchgeführten Tests erlangten Anknüpfungstatsachen die fragliche Zeitspanne entscheidend eingrenzen kann. Schon bei einem feststellbaren Cannabiskonsum am Abend oder in der Nacht vor dem Tag der unternommenen Fahrt wird von einer zeitlichen Nähe zu dieser zu sprechen sein, mit der Folge, dass der Betroffene ohne Weiteres von einer möglicherweise fortdauernden Wirkung des Konsums ausgehen musste. Schließlich ist auch nicht auszuschließen, dass nach sachverständiger Beurteilung die beobachteten körperlichen Auffälligkeiten und Unsicherheiten, soweit sie auf den Cannabiskonsum zurückzuführen sind, als Beeinträchtigungen für den Betroffenen bemerkbar, spürbar waren. Dies wird zwar vom Tatbestand nicht gefordert, kann indes im Rahmen der Gesamtschau ein deutliches Anzeichen für die Erkennbarkeit der Fortwirkung sein.

Die Zurückweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts ist nicht veranlasst.