Das Verkehrslexikon
OLG Jena Beschluss vom 17.02.2012 - 1 Ss 121/11 - Zu den Anforderungen an eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung
OLG Jena v. 17.02.2012: Zu den Anforderungen an eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung und zum Sichtfahrgebot
Das OLG Jena (Beschluss vom 17.02.2012 - 1 Ss 121/11) hat entschieden:
- Zu den Anforderungen an die Urteilsgründe bei Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung auf-grund Verstoßes gegen das sog. Sichtfahrgebot.
- Die Entfernung, aus der ein Hindernis bei Nacht für den Fahrzeugführer erkennbar ist, ist nicht stets mit der Ausleuchtungsweite der jeweils in Betrieb befindlichen Fahrzeugscheinwerfer identisch. Sie hängt vielmehr maßgeblich von Größe, Form und Farbe des Hindernisses ab. Die im konkreten Fall gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO höchstzulässige Geschwindigkeit bestimmt sich deshalb danach, ob der Fahrzeugführer mit einem derartigen Hindernis rechnen musste und bejahendenfalls, wie lang sein Anhalteweg höchstens sein darf, um nach Erkennen des Hindernisses noch vor ihm zum Stehen zu kommen.
- Nach der Lebenserfahrung muss stets mit (auch besonders grober) Unachtsamkeit von Fußgängern gerechnet werden. Ein in höchstem Maße selbstgefährdendes, sich durch nichts ankündigendes Verhalten eines Fußgängers (hier: Ein am linken Fahrbahnrand entgegen der Fahrtrichtung des Angeklagten laufender Fußgänger rennt plötzlich im Winkel von 45° mit einer Geschwindigkeit von ca. 16 km/h auf das vom Angeklagten gesteuerte Fahrzeug zu) ist hingegen so ungewöhnlich, dass damit niemand zu rechnen braucht, wenn nicht ausnahmsweise im Einzelfall besondere Umstände Anlass dazu geben. Die Erfahrungstatsache, dass Personen, die nachts zu Fuß auf öffentlichen Straßen unterwegs sind, nicht selten alkoholisiert sind, genügt dafür jedenfalls nicht. Ebenso wenig lässt im Regelfall die relative Nähe zu einer Diskothek (hier 800-900 m) oder sonstigen Gaststätte befürchten, Personen könnten vorsätzlich vor zügig herannahende Kraftfahrzeuge springen.
Siehe auch Fahrlässige Tötung im Straßenverkehr und Verkehrsstrafsachen
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Rudolstadt verurteilte den Angeklagten am 15.9.2011 wegen einer am 10.5.2009 begangenen fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30,00 €.
Am 22.9.2011 legte der Angeklagte gegen dieses Urteil Rechtsmittel ein. Das schriftlich abgefasste, mit Gründen versehene Urteil wurde dem Angeklagten am 13.10.2011 und seinem Verteidiger am 17.10.2011 zugestellt.
Am 15.11.2011 bezeichnete der Angeklagte das Rechtsmittel als Revision und begründete es zugleich mit der näher ausgeführten Rüge der Verletzung materiellen Rechts.
Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft beantragt in ihrer Stellungnahme vom 13.1.2012, das Urteil des Amtsgerichts Rudolstadt vom 15.9.2011 mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Rudolstadt zurückzuverweisen.
Auch die Nebenkläger beantragen die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Rudolstadt.
II.
Die zulässige Revision hat in der Sache (zumindest vorläufig) Erfolg. Denn die getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nicht.
Die für eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung erforderliche Sorgfaltspflichtverletzung des Angeklagten begründet das Amtsgericht mit einem angeblichen Verstoß gegen das sogenannte Sichtfahrgebot des § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO. Nach dieser Vorschrift darf ein Fahrzeugführer nur so schnell fahren, dass er innerhalb der überschaubaren Strecke halten kann.
Nach den Urteilsfeststellungen betrug die Geschwindigkeit des vom Angeklagten geführten Pkw ca. 65 km/h auf einem geraden nassen Straßenabschnitt. Aus der Tatzeit, 10.5.2009, 03.48 Uhr, ist zu schließen, dass es im Tatzeitpunkt noch dunkel war. Welche Beleuchtung der Angeklagte an dem von ihm geführten Fahrzeug eingeschaltet hatte, wird nicht mitgeteilt. Wie lange die „übersehbare Strecke“ (§ 3 Abs. 1 Satz 4 StVO) unter den konkreten Bedingungen war, wird ebenfalls nicht mitgeteilt. Vielmehr beschränkt sich das Gericht auf die Angabe, dass nach den eingeholten Sachverständigengutachten der Unfall mit Sicherheit hätte vermieden werden können, wenn der Angeklagte nicht schneller als 44 km/h gefahren wäre.
Dies trägt weder die Annahme eines Verstoßes gegen das Sichtfahrverbot, noch den Vorwurf einer sonstigen Sorgfaltspflichtverletzung. Eine solche kann nicht aus der bloßen Tatsache hergeleitet werden, dass ein Unfall bei einer geringeren Geschwindigkeit vermieden worden wäre. Ein allgemeines Gebot, so langsam zu fahren, dass ein Unfall in jedem Fall vermieden wird, kennt weder das bundesdeutsche Strafrecht noch das bundesdeutsche Straßenverkehrsrecht. Es würde in letzter Konsequenz das Verbot der Bewegung von und insbesondere der Fortbewegung mit Fahrzeugen schlechthin bedeuten.
Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Sollte das Amtsgericht in der neuen Verhandlung zu Tatsachenfeststellungen gelangen, wie sie unter Zugrundelegung der bisher vorliegenden schriftlichen Sachverständigengutachten zu erwarten sind, dürfte eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung kaum möglich sein.
Die Sachverständigen haben ermittelt, dass bei den zum Tatzeitpunkt bestehenden Witterungs- und Fahrbahnverhältnissen für den Angeklagten in seinem Fahrkanal eine Ausleuchtungsweite in der Fahrbahnmitte von ca. 55 m und am rechten Fahrbahnrand von ca. 70 m ohne Blendung bestand. Der Anhalteweg aus der errechneten Geschwindigkeit des Angeklagten von 65 km/h bei einer Reaktionsdauer bei Nacht von 1 s, einer Blickzuwendungszeit von 0,2 s und einer Verzögerung auf nasser Fahrbahn von 6 m/s habe 47 m betragen. Demnach ist der Angeklagte grundsätzlich auf Sicht und mithin nicht zu schnell gefahren.
Damit scheidet eine Verletzung des Sichtfahrgebots nach § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO jedoch noch nicht ohne Weiteres aus. Denn die Entfernung, aus der ein Hindernis bei Nacht für den Fahrzeugführer erkennbar ist, ist nicht stets mit der Ausleuchtungsweite der jeweils in Betrieb befindlichen Fahrzeugscheinwerfer identisch. Sie hängt vielmehr maßgeblich von Größe, Form und Farbe des Hindernisses ab. Die im konkreten Fall gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO höchst zulässige Geschwindigkeit bestimmt sich deshalb danach, ob der Fahrzeugführer mit einem derartigen Hindernis rechnen musste und bejahendenfalls wie lang sein Anhalteweg höchstens sein darf, um nach Erkennen des Hindernisses noch vor ihm zum Stehen zu kommen.
Vorliegend war der Getötete A nach den Feststellungen der Sachverständigen für den Angeklagten erst aus einer Entfernung von 21,7 m zum Kollisionsbereich sicher zu erkennen. Innerhalb dieser Strecke war auch bei schnellstmöglicher Reaktion ein Anhalten aus einer Geschwindigkeit von 65 km/h nicht möglich. Entscheidend für die Annahme einer Sorgfaltspflichtverletzung des Angeklagten und damit für seine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung ist somit, ob der Angeklagte damit rechnen musste, dass ein am linken Fahrbahnrand entgegen der Fahrtrichtung des Angeklagten laufender Fußgänger plötzlich im Winkel von 45° mit einer Geschwindigkeit von ca. 16 km/h auf das vom Angeklagten gesteuerte Fahrzeug zu rennt.
Zwar ist in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt und entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Senats (siehe etwa Senatsbeschluss vom 21.9.2011, 1 Ss 69/11), dass ein Fahrzeugführer stets mit Fahrbahnhindernissen rechnen muss. Er muss daher auch vor unvermuteten Hindernissen auf der Fahrbahn anhalten können. Durch den Vertrauensgrundsatz begrenzt wird das Sichtfahrgebot nur für solche Hindernisse, mit denen der Kraftfahrer unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt rechnen muss (Senatsbeschluss a. a. O.). Letzteres ist beispielsweise angenommen worden bei einem unvermittelt von der Seite zwischen parkenden Fahrzeugen hervortretenden Fußgänger. Ferner braucht der Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit nicht auf solche Hindernisse einzurichten, die wegen ihrer Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind. Bei einem völlig unmotiviert und plötzlich auf ein entgegenkommendes Kraftfahrzeug zu rennenden Fußgänger dürfte es sich aber um ein „Hindernis“ handeln, das ein Fahrzeugführer grundsätzlich nicht einkalkulieren muss. Nach der Lebenserfahrung muss sicherlich stets mit (auch besonders grober) Unachtsamkeit von Fußgängern gerechnet werden. Ein in höchstem Maße selbstgefährdendes, sich durch nichts ankündigendes Verhalten eines Fußgängers, wie es hier der später Getötete an den Tag gelegt hat, ist hingegen so ungewöhnlich und so selten, dass damit niemand zu rechnen braucht, wenn nicht ausnahmsweise im Einzelfall besondere Umstände Anlass dazu geben. Die Erfahrungstatsache, dass Personen, die nachts zu Fuß auf öffentlichen Straßen unterwegs sind, nicht selten alkoholisiert sind (wie der Getötete), genügt dafür jedenfalls nicht. Ebenso wenig lässt im Regelfall die relative Nähe zu einer Diskothek (hier 800-900 m) oder sonstigen Gaststätte befürchten, Personen könnten vorsätzlich vor zügig herannahende Kraftfahrzeuge springen.