Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 06.12.2012 - 4 StR 369/12 - Zur Annahme einer vorsätzlichen Trunkenheitsfahrt nach alkoholbedingter Unfallverursachung

BGH v. 06.12.2012: Zur Annahme einer vorsätzlichen Trunkenheitsfahrt nach alkoholbedingter Unfallverursachung


Der BGH (Urteil vom 06.12.2012 - 4 StR 369/12) hat entschieden:
Kommt es bei einer fahrlässig begangenen alkoholbedingten Trunkenheitsfahrt zu einem Unfall und entfernt sich der Kfz-Führer unerlaubt und in Kenntnis der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit vom Unfallort, so ist die Fahrt nach dem Unfall als selbständige Handlung und als vorsätzliche Trunkenheitsfahrt zu ahnden.


Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr und wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort und mit unterlassener Hilfeleistung unter Einbeziehung einer anderen Jugendstrafe zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt sowie Maßregeln nach §§ 69, 69a StGB angeordnet. Die Revision des Angeklagten gegen dieses Urteil ist mit der allgemeinen Sachrüge begründet. Die Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger erstreben mit ihren ebenfalls auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen in erster Linie Verurteilungen wegen fahrlässiger Körperverletzung und eines versuchten Tötungsdelikts. Die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers haben in vollem Umfang Erfolg, während dasjenige des Angeklagten unbegründet ist.


I.

Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils befuhr der stark angetrunkene Angeklagte, der sich seiner Alkoholisierung und der damit zusammenhängenden Beeinträchtigung seiner Fahrtüchtigkeit bewusst war, am 25. September 2010 gegen 2.40 Uhr mit einer Geschwindigkeit von 40 bis 50 km/h die Hauptstraße in W. in Richtung R. . Die aus Fahrtrichtung des Angeklagten linke Fahrspur war durch eine Baustelle versperrt, der Verkehr wurde mittels einer Lichtzeichenanlage geregelt. Auf dieser Fahrspur standen ein Pkw und der Nachtbus an der roten Ampel. Der dunkel gekleidete Nebenkläger R. C. nutzte den Halt, um „auf Zuruf“ aus dem Bus aus-zusteigen. Er betrat schnellen Schrittes hinter dem Bus die dunkle Fahrbahn, ohne sich zu vergewissern, dass die Straße frei war. Der Angeklagte erfasste ihn ungebremst, so dass der Nebenkläger mit dem Becken auf die Motorhaube aufschlug und mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe prallte. Sodann wurde er über das Fahrzeugdach von rechts vorne nach links hinten abgeworfen. Der Nebenkläger war erst eine Sekunde vor dem Anstoß zu sehen; der Angeklagte hatte ihn gar nicht wahrgenommen, weil er sich nach einem herunter gefallenen Feuerzeug gebückt hatte. Der Angeklagte setzte seine Fahrt fort, wobei er billigend in Kauf nahm, einen Menschen angefahren zu haben, der seine Hilfe benötigte. Der Nebenkläger wurde schwer verletzt. Er erlitt u. a. ein geschlossenes Schädelhirntrauma Grad I und eine epidurale Blutung sowie ein Kompartmentsyndrom am rechten Oberschenkel.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen der Autofahrt bis zum Unfall der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr für schuldig befunden. Aufgrund jugendlicher Selbstüberschätzung und durch den Alkoholkonsum bedingter Fehleinschätzung habe er sich irrig für fahrtüchtig gehalten, obwohl ihm hätte bewusst sein müssen, dass er dies nicht ist. Den Tatbestand der Straßenverkehrsgefährdung hat das Landgericht verneint, weil die Alkoholisierung des Angeklagten für den Unfall nicht ursächlich gewesen sei.

Durch die Fortsetzung der Fahrt habe der Angeklagte den Tatbestand der vorsätzlichen Trunkenheit im Straßenverkehr erfüllt, weil er aus dem Unfallgeschehen habe schließen müssen, dass er nicht fahrtüchtig sei. Die Tatbestände des versuchten Mordes und der Aussetzung lägen nicht vor, weil er keine Garantenstellung gegenüber dem Geschädigten gehabt habe. Die pflichtwidrige Teilnahme am Straßenverkehr sei für den Unfall nicht ursächlich geworden. Der Angeklagte habe sich aber wegen unterlassener Hilfeleistung und unerlaubten Entfernens vom Unfallort strafbar gemacht.


II.

Die Nachprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben.


III.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung.

1. Die Jugendkammer hat für den ersten Tatkomplex rechtsfehlerhaft nur fahrlässige Trunkenheit im Verkehr, § 316 Abs. 2 StGB, bejaht. Aus den Feststellungen ergibt sich, dass sich der Angeklagte von Anfang an seiner Fahruntüchtigkeit bewusst war. Die Annahme der Jugendkammer, der Angeklagte habe sich aufgrund jugendlicher Selbstüberschätzung und auch durch den Alkoholkonsum bedingter Fehleinschätzung irrig für fahrtüchtig gehalten, wird von den Feststellungen nicht getragen. Der Angeklagte hat sich in seiner Einlassung nicht einmal selbst darauf berufen.

Darüber hinaus hat es die Jugendkammer rechtsfehlerhaft unterlassen zu prüfen, ob sich der Angeklagte der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht hat.

Bei der Prüfung der Frage, ob ein Verkehrsunfall für einen alkoholbedingt fahruntüchtigen Kraftfahrer auf ein pflichtwidriges Verhalten zurückzuführen und vermeidbar war, ist nicht darauf abzustellen, ob der Fahrer in nüchternem Zustand den Unfall und die dabei eingetretenen Folgen bei Einhaltung derselben Geschwindigkeit hätte vermeiden können; vielmehr ist zu prüfen, bei welcher geringeren Geschwindigkeit er – abgesehen davon, dass er als Fahruntüchtiger überhaupt nicht am Verkehr teilnehmen durfte – noch seiner durch den Alkoholeinfluss herabgesetzten Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit bei Eintritt der kritischen Verkehrslage hätte Rechnung tragen können, und ob es auch bei dieser Geschwindigkeit zu dem Unfall und den dabei eingetretenen Folgen gekommen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 26. November 1970 – 4 StR 26/70, BGHSt 24, 31; Urteil vom 2. Oktober 1964 – 4 StR 297/64, VM 1965 Nr. 41; BayObLG, NStZ 1997, 388 m. Anm. Puppe; OLG Celle, VRS 36, 276; OLG Hamm, BA 1978, 294; OLG Koblenz, DAR 1974, 25; VRS 71, 281; OLG Zweibrücken, VRS 41, 113, 114). Es liegt nahe, dass der Angeklagte bei einer seiner alkoholbedingt herabgesetzten Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit angepassten geringeren Geschwindigkeit selbst im Falle eines auch dann unvermeidbaren Anstoßes zumindest geringere Verletzungen des Nebenklägers bewirkt hätte.

2. Im zweiten Tatkomplex beanstanden die Revisionsführer zu Recht, dass die Jugendkammer eine Garantenstellung des Angeklagten verneint hat.

Die Strafkammer hat auch in diesem Tatkomplex für die Frage, ob die Pflichtwidrigkeit des Angeklagten für den Unfall ursächlich geworden ist, allein auf den Vergleich mit einem vorschriftsgemäß am Straßenverkehr teilnehmenden Autofahrer abgestellt. Dieser Ausgangspunkt trifft nicht zu, wie oben dargestellt. Es liegt nahe, dass der Angeklagte angesichts seines alkoholisierten Zustands zu schnell gefahren ist und dadurch pflichtwidrig den Unfall oder jedenfalls schwerere Verletzungen des Nebenklägers verursacht hat. In diesem Fall wäre ohne weiteres eine Garantenstellung des Angeklagten gegeben (vgl. für den schuldlosen Kraftfahrer BGH, Urteil vom 6. Mai 1986 – 4 StR 150/86, BGHSt 34, 82 m. Anm. Rudolphi, JR 1987, 162, und Herzberg, JZ 1986, 986; vgl. auch MünchKommStGB/Freund, 2. Aufl., § 13 Rn. 126).

Zur Frage möglicher Verdeckungsabsicht verweist der Senat auf seinen Beschluss vom 30. Juni 2011 – 4 StR 241/11, NStZ-RR 2011, 334.