Das Verkehrslexikon

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BGH Beschluss vom 04.12.2012 - 4 StR 435/12 - Zu den Anforderungen an die konkrete Gefährdung eines anderen Menschen oder einer fremden Sache

BGH v. 04.12.2012: Zu den Anforderungen an die konkrete Gefährdung eines anderen Menschen oder einer fremden Sache


Der BGH (Beschluss vom 04.12.2012 - 4 StR 435/12) hat entschieden:
Nach gefestigter Rechtsprechung muss die Tathandlung für die Annahme einer konkreten Gefahr über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt haben, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Für die Annahme einer Gefährdung von Mitfahrer sind Angaben zu den Geschwindigkeiten der Fahrzeuge im Zeitpunkt der Kollisionen und der Intensität des Aufpralls auf die einzelnen Gefährdungsobjekte erforderlich.


Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen räuberischer Erpressung, Wohnungseinbruchsdiebstahls, Diebstahls in sechs Fällen, Unterschlagung, versuchten Diebstahls, vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung in zwei Fällen, Körperverletzung, Nötigung sowie Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Ferner hat es bestimmt, dass die Verwaltungsbehörde ihm vor Ablauf von zwei Jahren keine (neue) Fahrerlaubnis erteilen darf. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung in den Fällen II.2 und II.5 der Urteilsgründe begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen fuhr der Angeklagte in beiden Fällen mit fremden, mit zwei weiteren Personen besetzten Pkws im öffentlichen Straßenverkehr, obwohl er infolge Alkoholgenusses absolut fahruntüchtig war. Infolge der Fahruntüchtigkeit fuhr er mit dem Pkw gegen eine Hausmauer und verursachte an dieser einen Schaden von 368,90 € (Fall II.2) bzw. in eine Baustellenabsicherung sowie an eine Stützmauer und streifte im weiteren Verlauf der Fahrt Leitplankenfelder (Fall II.5). Während der Fahrten gefährdete er Leib und Leben der beiden Mitfahrer.

b) Die Feststellungen der Strafkammer belegen die für die Annahme einer Tat nach § 315c Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 3 Nr. 2 StGB vorausgesetzte Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert nicht. Nach gefestigter Rechtsprechung muss die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt haben, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (BGH, Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131 f., zu § 315c StGB, Beschluss vom 4. September 1995 - 4 StR 471/95, NJW 1996, 329 f., zu § 315b StGB; vgl. weiter SSW-StGB/ Ernemann, § 315c Rn. 22 ff.).

Da für den Eintritt des danach erforderlichen konkreten Gefahrerfolgs die vom Angeklagten geführten fremden Fahrzeuge nicht in Betracht kommen (vgl. BGH, Urteil vom 28. Oktober 1976 - 4 StR 465/76, BGHSt 27, 40; Beschluss vom 19. Januar 1999 - 4 StR 663/98, NStZ 1999, 350, 351) und auch nicht erkennbar ist, ob der Gefährdungsschaden an Hauswand bzw. Baustellenabsicherung, Stützmauer und Leitplankenfeldern die tatbestandsspezifische Wertgrenze von 750 Euro erreicht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2010 - 4 StR 245/10, NStZ 2011, 215; SSW-StGB/Ernemann, § 315c Rn. 25), kommt es auf die Gefährdung der Mitfahrer an. Nach den in der Rechtsprechung des Senats entwickelten Maßstäben genügen die hierauf bezogenen knappen Bemerkungen der Strafkammer - „Außerdem gefährdete er Leib und Leben seiner beiden Mitfahrer.“ (UA 5) bzw. „In beiden Fällen bestand konkrete Gefahr für Leib und Leben seiner Mitfahrer.“ (UA 6) - nicht den Anforderungen zur Darlegung einer konkreten Gefahr. Einen Vorgang, bei dem es beinahe zu einer Verletzung der Mitfahrer gekommen wäre, also ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“ (BGH, Urteil vom 30. März 1995 und Beschluss vom 4. September 1995 - jew. aaO; Beschluss vom 26. Juli 2011 - 4 StR 340/11, StV 2012, 217), hat die Strafkammer auch nach dem Gesamtzusammenhang ihrer auf das Unfallgeschehen bezogenen Feststellungen nicht hinreichend mit Tatsachen belegt. Insbesondere fehlen Angaben zu den Geschwindigkeiten der Fahrzeuge im Zeitpunkt der Kollisionen und der Intensität des Aufpralls auf die einzelnen Gefährdungsobjekte (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2009 - 4 StR 408/09, NZV 2010, 261, 262). Auch ergeben die bisher getroffenen Feststellungen nicht, dass es dem Angeklagten - etwa nur aufgrund überdurchschnittlich guter Reaktion - sozusagen im allerletzten Moment gelungen ist, einen intensiveren Aufprall zu verhindern.

c) Nach den bisherigen Feststellungen bleibt zudem offen, ob die Mitfahrer des Angeklagten vom Schutzbereich des § 315c StGB überhaupt erfasst sind. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dies für an einer solchen Straftat beteiligte Insassen des Fahrzeugs zu verneinen (BGH, Urteile vom 23. Februar 1954 - 1 StR 671/53, BGHSt 6, 100, 102, vom 28. Oktober 1976 - 4 StR 465/76, BGHSt 27, 40, 43, und vom 20. November 2008 - 4 StR 328/08, NJW 2009, 1155, 1157; vgl. SSW-StGB/Ernemann, § 315c Rn. 24 mwN). Die Mitfahrer könnten sich - jedenfalls zum Teil - durch Übergabe des Pkw-Schlüssels (UA 5) oder durch Überlassen des eigenen Pkws (UA 6) der Beihilfe gemäß § 27 StGB schuldig gemacht haben, sofern zumindest die Voraussetzungen der Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination nach § 315c Abs. 3 Nr. 1 StGB gegeben sind.

2. Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs umfasst auch die an sich rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen tateinheitlich begangenen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in den Fällen II.2 und II.5 der Urteilsgründe (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96, BGHR StPO § 353 Aufhebung 1) und entzieht den hierwegen verhängten Einzelstrafen, der Gesamtstrafe und der Maßregel nach §§ 69, 69a StGB die Grundlage.

3. Die Strafkammer hat in den Fällen II.8 und II.10 die Höhe des Tagessatzes auf fünf Euro festgesetzt, die Höhe jedoch ausweislich der Urteilsgründe (UA 15) angesichts des geringen Einkommens des Angeklagten auf das Mindestmaß beschränken wollen. Der Senat setzt daher die Tagessatzhöhe in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO auf den gemäß § 40 Abs. 2 Satz 3 StGB niedrigsten in Betracht kommenden Betrag von einem Euro fest.