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OLG Karlsruhe Urteil vom 20.12.2012 - 9 U 88/11 - Zur Haftung bei einem Auffahrunfall nach abruptem Bremsen

OLG Karlsruhe v. 20.12.2012: Zur Haftung bei einem Auffahrunfall nach abruptem Bremsen


Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 20.12.2012 - 9 U 88/11) hat entschieden:
  1. Bei einem Auffahrunfall wird der Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Auffahrenden (zu geringer Abstand und/oder Unaufmerksamkeit) in der Regel auch dann nicht erschüttert, wenn der Fahrer des vorderen Fahrzeugs ohne verkehrsbedingten Anlass eine abrupte Bremsung durchgeführt hat.

  2. Bei einer abrupten Bremsung ohne äußeren Anlass liegt allerdings gleichzeitig ein schuldhafter Verkehrsverstoß des vorausfahrenden Fahrzeugführers vor; bei einem Auffahrunfall kann eine Haftungsquote von 50 % in Betracht kommen.

Gründe:

I.

Der Kläger macht Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend. Am 21.02.2010 zwischen 09:00 und 10:00 Uhr kam es auf der B 33 auf der Höhe des Klosters H. zu einem Verkehrsunfall, an welchem die Ehefrau des Klägers, die Zeugin R., als Fahrerin eines PKW BMW beteiligt war und die Beklagte Ziff. 1 als Fahrerin und Halterin eines PKW Golf. Der Kläger ist der Eigentümer des von der Zeugin R. gefahrenen PKW BMW. Die Beklagte Ziff. 2 ist die für das Fahrzeug der Beklagten Ziff. 1 zuständige Haftpflichtversicherung.

Die Zeugin R. und die Beklagte Ziff. 1 befuhren die B 33 in gleicher Richtung, nämlich in Fahrtrichtung Konstanz, wobei die Beklagte Ziff. 1 dem von der Zeugin R. gefahrenen PKW BMW folgte. In Höhe des Klosters H. befand sich auf der B 33 eine Baustellenampel, die - jedenfalls für die Fahrtrichtung der Zeugin und der Beklagten Ziff. 1 - zum Unfallzeitpunkt ausgeschaltet war. Unmittelbar vor der Ampel bremste die Zeugin den PKW BMW stark ab, weil sie an der Ampel anhalten wollte. Die Beklagte Ziff. 1 fuhr mit ihrem Fahrzeug auf den PKW BMW auf, wobei nicht festgestellt ist, ob der PKW BMW sich zum Zeitpunkt der Kollision noch in Bewegung befand oder ob er bereits stand. Am Fahrzeug des Klägers entstand Sachschaden. Der Schaden des Klägers ist in Höhe von insgesamt 8.435,32 € unstreitig (Reparaturkosten, Wertminderung, Gutachterkosten, Unkostenpauschale und Nutzungsausfall entsprechend der Aufstellung in der Klageschrift, I 5).

Im Bereich der Unfallörtlichkeit galt eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/h. Wegen der Baustelle stand zum Unfallzeitpunkt eine zweite Baustellenampel auf der B 33 am anderen Ende der Baustelle für die Fahrzeuge, die die B 33 in der Gegenrichtung befuhren. Eine weitere Baustellenampel befand sich an der Einmündung einer Straße, die aus der Sicht der Zeugin und der Beklagten Ziff. 1 im Bereich der Baustelle von links auf die B 33 stieß. Zum Zeitpunkt der Kollision stand an dieser Einmündung ein Fahrzeug, dessen Fahrerin nach links in die B 33 einbiegen wollte. Außerdem standen aus der Sicht der Unfallbeteiligten an der für die Gegenrichtung bestimmten Baustellenampel Fahrzeuge. Ob die Baustellenampel für die Gegenrichtung wegen eines Ampeldefekts „rot“ zeigte, ist streitig. Weitere Umstände der in der Gegenrichtung stehenden Fahrzeuge (Anzahl dieser Fahrzeuge, Dauer des Stillstands und Ursache für das Stehen dieser Fahrzeuge) sind nicht bekannt. Unstreitig gab es zum Zeitpunkt der Kollision auf der Straße für die Zeugin kein Hindernis. Die Straße war auch im Baustellenbereich breit genug, so dass die Unfallbeteiligten einerseits und die Fahrzeuge des Gegenverkehrs andererseits unschwierig aneinander vorbeifahren konnten.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, für den Unfall sei allein die Beklagte Ziff. 1 verantwortlich, da sie keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten habe. Der Zeugin R. falle kein Verkehrsverstoß zur Last. Daher hat der Kläger erstinstanzlich seinen vollen Schaden geltend gemacht.

Das Landgericht hat die Beklagten mit Urteil vom 08.04.2011 gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger 4.217,66 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.04.2010 zu zahlen, sowie zur Zahlung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 446,13 €. Der Kläger könne von den Beklagten nur die Hälfte seines Schadens ersetzt verlangen. Zwar habe die Beklagte Ziff. 1 den Unfall dadurch verursacht, dass sie keinen ausreichenden Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug der Zeugin R. eingehalten habe. Der Beklagten Ziff. 1 sei außerdem vorzuwerfen, dass sie mit einer Verlangsamung des vorausfahrenden Fahrzeugs der Zeugin hätte rechnen müssen, da im Bereich der Baustellenampel eine „unklare Verkehrssituation“ bestanden habe. Andererseits falle jedoch auch der Zeugin R. ein schuldhafter Verkehrsverstoß zur Last. Denn diese habe erst kurz vor der ausgeschalteten Ampel abrupt abgebremst. Dafür habe es keinen Grund gegeben. Vielmehr hätte die Zeugin R. die örtliche Situation schon von weitem erkennen können mit der Folge, dass es ausgereicht hätte, langsam und vorsichtig auf die Ampelanlage zuzufahren. Der Verkehrsverstoß der Zeugin R. wiege unter diesen Umständen genauso schwer wie der Verstoß der Beklagten Ziff. 1.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers. Er hält an seiner Auffassung fest, dass die Beklagte Ziff. 1 den Unfall allein verschuldet habe. Dies ergebe sich schon aus den Regeln des Anscheinsbeweises bei einem Auffahrunfall. Der Zeugin R. falle kein Verschulden zur Last, da sie zu einer Bremsung gezwungen gewesen sei. Da der Gegenverkehr gestanden habe, sei die Zeugin R. zu Recht davon ausgegangen, dass die Ampelanlage defekt gewesen sei. Dies habe für die Zeugin zu der Schlussfolgerung geführt, dass auch die ausgeschaltete Baustellenampel für ihre Fahrtrichtung eigentlich „rot“ hätte zeigen müssen. Daher sei es notwendig gewesen, das Fahrzeug unmittelbar vor der Ampel abzubremsen, um anzuhalten.

Der Kläger beantragt,
  1. unter Abänderung des am 08.04.2011 verkündeten Urteils des Landgerichts Konstanz - 3 O 221/10 a - die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger über die bereits zugesprochenen 4.217,66 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.04.2010 weitere 4.217,66 €, insgesamt also 8.435,32 €, nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 10.04.2010 zu bezahlen, und

  2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten über die bereits zugesprochenen 446,13 € hinaus weitere 272,27 €, insgesamt also 718,40 €, zu bezahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagten verteidigen das Urteil des Landgerichts und ergänzen und vertiefen ihren erstinstanzlichen Sachvortrag. Die Zeugin R. habe den Unfall verursacht, da es für das abrupte Bremsmanöver keinen Anlass gegeben habe. Die Zeugin R. sei entweder in Gedanken versunken oder aber abgelenkt gewesen. Nur so sei erklärbar, dass die Zeugin unmittelbar bei der ausgeschalteten Baustellenampel ihr Fahrzeug voll abgebremst habe.

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.


II.

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Aus dem Verkehrsunfall vom 21.02.2010 stehen dem Kläger über die vom Landgericht bereits zuerkannten Beträge hinaus keine weiteren Ansprüche zu. Zu Recht hat das Landgericht dem Kläger lediglich 50 % seines Schadens, also 4.217,66 €, nebst Zinsen zugesprochen. Auf der Basis dieser berechtigten Schadensersatzforderung ist auch der Betrag der vom Landgericht zuerkannten Anwaltskosten in Höhe von 446,13 € nicht zu beanstanden.

1. Die Beklagten haften für den Schaden des Klägers dem Grunde nach gemäß §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 Ziff. 1 VVG, 421 BGB. Die Voraussetzungen für einen Haftungsausschluss gemäß § 7 Abs. 2 StVG liegen nicht vor.

2. Eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge gemäß § 17 Abs. 2 StVG führt zu einer Haftungsquote von 50 %. Sowohl die Zeugin R. als auch die Beklagte Ziff. 1 haben jeweils durch einen schuldhaften Verkehrsverstoß zum Unfall beigetragen. Bei der Feststellung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge können zu Lasten des jeweiligen Fahrzeugführers nur diejenigen Umstände berücksichtigt werden, die unstreitig oder nachgewiesen sind. Das heißt: Bei der Bewertung des Verursachungsbeitrags eines Unfallbeteiligten ist bei Unklarheiten jeweils die für den Unfallbeteiligten günstigere Variante zu unterstellen.

a) Die Beklagte Ziff. 1 hat entweder gegen § 1 Abs. 2 StVO oder gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO verstoßen.

aa) Der Verkehrsverstoß der Beklagten Ziff. 1 ergibt sich bereits aus den Regeln des Anscheinsbeweises. Jeder Verkehrsteilnehmer hat einen solchen Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug einzuhalten, dass er bei einer plötzlichen Bremsung des Vorausfahrenden in jedem Fall noch rechtzeitig anhalten kann (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StVO). Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob der Vordermann einen Anlass für die Bremsung hat oder nicht. Kommt es zu einem Auffahrunfall, nachdem der Vorausfahrende gebremst hat, ergibt sich daraus in der Regel im Wege des Anscheinsbeweises, dass entweder kein ausreichender Abstand eingehalten wurde (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StVO) oder, dass der Führer des auffahrenden Fahrzeugs in Folge Unaufmerksamkeit zu spät reagiert hat (§ 1 Abs. 2 StVO). Da die Bremsung der Zeugin R. nichts an der Verursachung des Unfalls durch einen Verkehrsverstoß der Beklagten Ziff. 1 ändern kann (siehe oben), gibt es vorliegend für die Frage des Verschuldens der Beklagten Ziff. 1 keine Umstände, die dem Anscheinsbeweis entgegenstehen. (Vgl. zur Ausräumung eines Anscheinsbeweises bei einem Auffahrunfall beispielsweise BGH, NJW 2012, 608.) Die weiteren Umstände des Geschehens spielen lediglich für die Frage eine Rolle, wie schwer der Verschuldensvorwurf gegenüber der Beklagten Ziff. 1 wiegt und welches Gewicht dem Verkehrsverstoß dementsprechend bei der Abwägung im Rahmen von § 17 Abs. 2 StVG zukommt (dazu siehe unten bb), cc) und dd)).

bb) Das Landgericht konnte nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht sicher feststellen, ob die Zeugin R. ihr Fahrzeug im Bereich der Baustellenampel durch eine Vollbremsung bis zum Stillstand abgebremst hat, oder ob die Zeugin nur eine abrupte starke Bremsung ausgeführt hat, durch die ihr Fahrzeug zum Zeitpunkt der Kollision noch nicht zum Stillstand gekommen war. Bei der Würdigung und Bewertung des Verkehrsverstoßes der Beklagten Ziff. 1 ist aus Beweislastgründen (siehe oben) zu Gunsten der Beklagten davon auszugehen, dass das Fahrzeug der Zeugin R. durch eine Vollbremsung zum Stillstand gekommen ist.

cc) Zu Gunsten der Beklagten ist im Übrigen davon auszugehen, dass es aus der Sicht der Beklagten Ziff. 1 keinen Anlass für die abrupte Bremsung der Zeugin R. gab. Der Verkehrsverstoß der Beklagten Ziff. 1 erscheint dadurch etwas weniger schwerwiegend, als wenn die Beklagte Ziff. 1 auf Grund bestimmter Umstände mit einer Bremsung des vorausfahrenden Fahrzeugs hätte rechnen müssen. Der abweichenden Bewertung des Landgerichts folgt der Senat nicht.

Die Baustellenampel war jedenfalls für die Fahrtrichtung der Zeugin R. und der Beklagten Ziff. 1 ausgeschaltet. Aus dem Vorhandensein der Ampel ergab sich mithin kein Anlass für die Zeugin R., das Fahrzeug abzubremsen. Auch die theoretische Möglichkeit, dass die Ampel eventuell umspringen könnte, was bei jeder Ampel zu jedem Zeitpunkt nicht anders ist, ist für einen Fahrzeugführer normalerweise kein Anlass, sein Fahrzeug abzubremsen oder zu verlangsamen. Das gilt selbst dann, wenn auf Grund bestimmter Umstände Anlass für die Annahme besteht, dass das Umspringen der Ampel demnächst erfolgen wird. Denn Verkehrsampeln sind grundsätzlich so geschaltet, dass ein Fahrzeugführer bei Einhaltung der jeweils zulässigen Höchstgeschwindigkeit sich nach dem Umspringen auf das veränderte Lichtzeichen einrichten kann. Es gab im Übrigen unstreitig auch keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass die Fahrerin des links an einer Einmündung wartenden PKW den Vorrang der auf der B 33 fahrenden Fahrzeuge nicht beachten würde.

Schließlich ergab sich auch aus dem Vorhandensein von Gegenverkehr kein Anlass für eine Bremsung der Zeugin R.. Denn die Fahrbahn war frei. Es befanden sich unstreitig keine Hindernisse auf der Fahrbahn, und die Straße war auch im Baustellenbereich unstreitig breit genug, so dass die Fahrzeuge in beiden Richtungen ohne Behinderung aneinander vorbeifahren konnten.

dd) Auch der Umstand, dass in der Gegenrichtung Fahrzeuge an der für diese aufgestellten Baustellenampel standen, bot keinen Anlass für eine besondere Vorsicht seitens der Beklagten Ziff. 1. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man aus Beweislastgründen (siehe oben) die jeweils günstigeren Sachverhaltsvarianten unterstellt, soweit Feststellungen zum Ablauf nicht getroffen werden konnten. Ein Anlass zu besonderer Vorsicht (mit der Möglichkeit einer Bremsung des Fahrzeugs der Zeugin R.) hätte für die Beklagte Ziff. 1 nur dann bestanden, wenn sie befürchten musste, dass die Baustellenampel defekt war, und dass deshalb trotz der aus der Richtung der Beklagten Ziff. 1 ausgeschalteten Ampel gleichzeitig die Baustellenampel für die Fahrzeugführerin, die von links auf die Straße einbiegen wollte, „grün“ zeigen konnte. Anhaltspunkte für eine solche unklare Situation kann der Senat aus der maßgeblichen Sicht der Beklagten Ziff. 1 jedoch nicht erkennen. Dass Fahrzeuge im Gegenverkehr standen, reicht für eine solche Annahme nicht aus. Denn es ist nicht bekannt, wieviele Fahrzeuge dort standen, es ist auch nicht bekannt, wie lange die Fahrzeuge in der Gegenrichtung standen und schließlich ist auch nicht bekannt, welche Umstände für das Stehen dieser Fahrzeuge maßgeblich waren, und inwieweit die Beklagte Ziff. 1 aus der Gegenrichtung diese Umstände deuten konnte. Das heißt: Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte Ziff. 1 annehmen musste, dass die Fahrzeuge in Gegenrichtung trotz der für die Beklagte Ziff. 1 ausgeschalteten Ampel „rot“ hatten. Also hatte die Beklagte Ziff. 1 auch keinen Anlass auf einen Defekt der Ampel zu schließen. Mithin war auch nicht zu befürchten, dass das Fahrzeug von links wegen eines Defekts „grün“ haben könnte und plötzlich auf die B 33 einfahren würde.

b) Auch der Zeugin R. fällt ein schuldhafter Verkehrsverstoß zur Last, der den Unfall mit verursacht hat. Die Zeugin hat gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO (starke Bremsung ohne zwingenden Grund) verstoßen.

aa) Bei Auffahrunfällen werden in der Rechtsprechung die Regeln des Anscheinsbeweises nicht nur herangezogen, um einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Auffahrenden festzustellen (dazu siehe oben), sondern teilweise darüber hinaus auch zu der Feststellung, dass dem auffahrenden Kraftfahrzeugführer die Allleinschuld trifft. Danach kann nach den Regeln des Anscheinsbeweises vielfach festgestellt werden, dass den vorausfahrenden Kraftfahrzeugführer kein Verschulden trifft (vgl. beispielsweise BGH, Versicherungsrecht 1969, 859).

In dieser weitergehenden Form kommt dem Kläger im vorliegenden Fall jedoch kein Anscheinsbeweis zu Gute. Denn das Landgericht hat einen atypischen Sachverhalt festgestellt, aus dem sich ein unfallursächlicher Verkehrsverstoß der Zeugin R. ergibt (siehe unten bb)). Damit kommt ein weitergehender Anscheinsbeweis (kein Verschulden der Zeugin R.) nicht mehr in Betracht.

bb) Die Zeugin R. hat (unfallursächlich) gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO verstoßen. Sie hat als vorausfahrende Kraftfahrzeugführerin ohne zwingenden Grund stark gebremst. Die Beweiswürdigung, auf Grund derer das Landgericht eine starke Bremsung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO festgestellt hat, ist nicht zu beanstanden. Die Beweiswürdigung entspricht im Übrigen auch den eigenen Angaben der Zeugin, die bei ihrer Vernehmung im Termin vom 15.03.2011 (I, 121) angegeben hat, sie habe zwar keine Vollbremsung gemacht, sie habe jedoch so abgebremst, „wie man eben bremst, wenn plötzlich etwas Unvorhergesehenes kommt“. Im Zusammenhang mit der weiteren Aussage, dass sie befürchtet habe, „dass die Ampel rot sein muss“, ergibt sich, dass die Zeugin sich plötzlich und unvermittelt entschieden hat, ihr Fahrzeug zum Stillstand abzubremsen. Da zu diesem Zeitpunkt die Beklagte Ziff. 1 mit ihrem PKW dem Fahrzeug der Zeugin R folgte, liegt ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO vor.

cc) Es gab keinen zwingenden Grund für die Bremsung der Zeugin R.. Die Baustellenampel war ausgeschaltet. Die Fahrbahn vor ihr war frei. Gegenüber dem Fahrzeug, das links an der Einmündung wartete, war die Zeugin R. auf der Bundesstraße bevorrechtigt. Dieses Fahrzeug hatte sich auch nicht etwa in Bewegung gesetzt, so dass die Zeugin keinen Anlass für die Annahme haben konnte, die Fahrerin dieses Fahrzeugs würde den Vorrang der Fahrzeuge auf der B 33 nicht beachten. Auch der Gegenverkehr bot keinen Anlass für eine Bremsung. Denn die Straße war auch im Baustellenbereich für eine ungefährdete Begegnung breit genug.

dd) Soweit das Landgericht festgestellt hat, eine Vollbremsung der Zeugin R. sei nicht nachgewiesen, ist dies nicht zu beanstanden. Für die Würdigung des Verkehrsverstoßes der Zeugin R.. ist das Landgericht daher zutreffend aus Beweislastgründen (anders als bei der Würdigung des Verkehrsverstoßes der Beklagten Ziff. 1, siehe oben) davon ausgegangen, dass die Zeugin R. keine Vollbremsung, sondern nur eine abrupte starke Bremsung vollzogen hat. Dies lässt den Verkehrsverstoß nicht entfallen, wiegt aber etwas weniger schwer als eine Vollbremsung.

ee) Im Übrigen ist das Landgericht zu Gunsten der Zeugin R. zu Recht davon ausgegangen, dass die Zeugin zwar keinen Anlass für eine starke Bremsung hatte, dass sie in der gegebenen Verkehrssituation aus ihrer Sicht jedoch möglicherweise einen Grund hatte, um schon aus einer etwas größeren Entfernung die Geschwindigkeit des Fahrzeugs zu verlangsamen, um sodann mit mäßiger Geschwindigkeit und voller Reaktionsbereitschaft an die Baustelle heran zu fahren (vgl. zu einem solchen Verhalten in bestimmten Verkehrssituationen OLG Hamm, VersR 1989, 755). Auch dies lässt den Verkehrsverstoß der Zeugin R. nicht entfallen. Das Verschulden der Zeugin erscheint jedoch etwas geringer, als wenn von einer reinen Fehlreaktion auszugehen wäre.

aaa) Die Beklagten gehen davon aus, bei dem Bremsmanöver der Zeugin R. habe es sich um eine reine Fehlreaktion unmittelbar vor der ausgeschalteten Ampel gehandelt. Diese Deutung des Verhaltens der Zeugin erscheint zwar möglich, ist jedoch nicht nachgewiesen. Da auch eine andere Sachverhaltsvariante in Betracht kommt (siehe unten bbb), ist bei der Bewertung des Verkehrsverstoßes der Zeugin R. aus Beweislastgründen von dieser anderen Variante auszugehen.

bbb) Unstreitig standen im Gegenverkehr Fahrzeuge im Bereich der für den Gegenverkehr aufgestellten Baustellenampel. Wenn man zu Gunsten der Zeugin R. davon ausgeht, dass es sich um eine längere Kolonne handelte, dass diese nicht nur kurz anhielt, sondern längere Zeit an der Ampel stand, und dass außerdem keine anderen Umstände für das Anhalten dieser Kolonne erkennbar waren, dann konnte dies aus der Sicht der Zeugin möglicherweise ein Indiz dafür sein, dass die Ampel in Gegenrichtung auf „rot“ stand. Im Zusammenhang mit der aus der Fahrtrichtung der Zeugin ausgeschalteten Baustellenampel konnte dies ein Hinweis auf einen Defekt der Ampelanlage sein mit der weiteren Konsequenz, dass die Zeugin sich dann eventuell nicht mehr ganz sicher sein konnte, wie - bei defekter Ampelanlage - die Baustellenampel für den von links einmündenden Verkehr geschaltet war. Diese - zu Gunsten der Zeugin zu unterstellenden - Umstände lassen den Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO zwar nicht entfallen. Er kann jedoch als etwas weniger gravierend bewertet werden als bei einer vollständigen Fehlreaktion.

c) Auf Grund der festgestellten Verursachungsbeiträge hält der Senat die vom Landgericht ausgeworfene Haftungsquote von 50 % für angemessen. Es trifft zwar zu, dass die Beklagte Ziff. 1 den Unfall durch nicht ausreichenden Sicherheitsabstand und/oder Unaufmerksamkeit verursacht hat. Dabei ist jedoch zu Gunsten der Beklagten Ziff. 1 für die Bewertung ihres Verhaltens eine zu unterstellende Vollbremsung der Zeugin R. zu berücksichtigen. Außerdem ist zu Gunsten der Beklagten Ziff. 1 - insoweit abweichend von der Entscheidung des Landgerichts - zu berücksichtigen, dass es aus der Sicht der Beklagten Ziff. 1 keinen verkehrsbedingten Anlass gab, mit einem Bremsmanöver oder einer deutlichen Verlangsamung des Fahrzeugs der Zeugin R. zu rechnen.

Der schuldhafte Verkehrsverstoß der Zeugin R. wiegt ähnlich schwer. Zwar konnte das Landgericht eine Vollbremsung nicht sicher feststellen, so dass zu Gunsten der Zeugin R. lediglich von einer abrupten starken Bremsung auszugehen ist. Für diese gab es keinen verkehrsbedingten Anlass. Der Umstand, dass die Zeugin R. möglicherweise Anlass hatte, sich nur mit mäßiger Geschwindigkeit und voller Reaktionsbereitschaft der Örtlichkeit zu nähern (siehe oben), lässt den Verstoß der Zeugin R. gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO nur unwesentlich geringer erscheinen.

3. Ausgehend von einer Haftungsquote von 50 % stehen dem Kläger auch nicht mehr als die vom Landgericht zuerkannten Anwaltskosten in Höhe von 446,13 € zu.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziff. 10, 713 ZPO.

6. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor.