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Landgericht Berlin (Urteil vom 04.06.2012 - 44 S 156/11 - Zur Haftung beim Überholen trotz unklarer Verkehrslage

LG Berlin v. 04.06.2012: Zur Haftung beim Überholen trotz unklarer Verkehrslage


Das Landgericht Berlin (Urteil vom 04.06.2012 - 44 S 156/11) hat entschieden:
Eine Verkehrslage ist unklar, wenn der Überholende nicht verlässlich beurteilen kann, was der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer sogleich tun werde. Unklar kann die Verkehrslage sein, wenn der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer die Fahrt verlangsamt. Sie muss nicht unklar sein, wenn er die Fahrt nur verzögert oder der Linksabbieger seine Absicht nicht durch Betätigung der Fahrtrichtungsanzeiger anzeigt und sich nicht zur Mitte hin einordnet. Die genannte Vorschrift betrifft allerdings nicht nur das unzulässige Überholen eines Linksabbiegers, sondern jeden Überholvorgang in unklarer Verkehrslage für den Überholenden.


Gründe:

Von der Darstellung eines Tatbestandes hat das Gericht gemäß § 540 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.

I.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden. In der Sache hat sie auch zum Teil Erfolg.

1. Der Klägerin steht gegenüber den Beklagten aus Anlass des Verkehrsunfalles vom 20. Januar 2010 ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 904,66 € gemäß den §§ 823 Abs. 1, 249 ff. BGB, 7, 17 StVG, 115 VVG zu; ein weitergehender Ersatzanspruch der Klägerin ist hingegen unbegründet.

a) Dem Grunde nach kann die Klägerin Ersatz ihres Unfallschadens nach einer Quote von1/3 verlangen.

aa) Weder für den Fahrer des klägerischen Lkw noch für die Beklagte zu 1) stellt sich der Unfall als ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG dar. Auf ein solches Ereignis kann sich die Klägerin ohnehin nicht berufen, zumal ihr Fahrer nicht alle erforderlichen Vorkehrungen zur Vermeidung eines Unfalles getroffen hatte und ihn ein Mitverschulden trifft, wie noch auszuführen ist. Die Beklagten wiederum haben nicht dartun können, dass sich die Beklagte zu 1) auf ein mögliches Fehlverhalten des klägerischen Fahrers eingestellt hätte. Somit kommt es nach § 17 Abs. 1 StVG auf eine Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile des klägerischen Fahrers und der Beklagten zu 1) unter Berücksichtigung der von den Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr an. Bei dieser Abwägung sind neben unstreitigen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises Anwendung finden (vergl. auch KG, Urteil vom 24.2.2000 - 12 U 6884/98 -).

bb) Unstreitig ist es zu der Kollision mit dem rechts fahrenden Beklagtenfahrzeug gekommen, als der Zeuge L. mit dem von ihm geführten Lkw der Klägerin nach einem Rangiervorgang wieder anfuhr.

(1) Entgegen der Annahme des Amtsgerichts greifen aber zu Lasten des Klägerfahrers nicht bereits die in § 10 StVO geregelten besonderen Sorgfaltspflichten ein. Nach den genannten Vorschriften hat derjenige, der vom Fahrbahnrand anfahren will, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen (vergl. BGH DAR 1991, 92). Da die dem § 10 StVO zu Grunde liegenden Sorgfaltsanforderungen eine Kombination eines Teils der Regeln der §§ 9 und 8 StVO darstellen, spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen den vom Fahrbahnrand anfahrenden Kraftfahrer, wenn es im Zusammenhang hiermit zu einem Unfall kommt (BGH NZV 1991, 187; KG, Urteil vom 24. 2. 2000 a.a.O.).

Die Sorgfaltspflichten des Fahrers des wieder anfahrenden Lkw's der Klägerin richten sich jedoch vorliegend nicht nach § 10 StVO, sondern allen nach § 1 Abs. 2 StVO, weil das wieder Anfahren des Zeugen L. als Führer des Klägerfahrzeuges nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Parteianhörung und der Beweisaufnahme nach dessen verkehrsbedingtem Rangieren erfolgt ist.

Denn nach den getroffenen Feststellungen im Rahmen der erstinstanzlich geführten Parteianhörung und der Beweisaufnahme gehörte der Lkw der Klägerin im Unfallzeitpunkt weiterhin zum fließenden Verkehr, weil er verkehrsbedingt hielt. Der Zeuge L. als Führer des klägerischen Lkw parkte nicht, er stellte den Lkw auch nicht am Straßenrand ab, sondern hielt verkehrsbedingt an, weil er unmittelbar nach dem Rangiervorgang und Zurücksetzen des Lkw in die Emmentaler Straße seine Fahrt vorwärts fahrend wieder fortsetzen wollte.

(2) Zu Recht hat jedoch das Amtsgericht nach dem Ergebnis der durchgeführten Parteianhörung und der Beweisaufnahme angenommen, dass der Zeuge L. als Führer des klägerischen Lkw ohne hinreichende Beachtung des rechts neben ihm vorhandenen Verkehrsraums wieder angefahren war.

So hat der Zeuge L. im Rahmen seiner Vernehmung vor dem Amtsgericht seinerseits eingeräumt, dass er das gegnerische Fahrzeug vor dem Unfall nicht wahrgenommen habe. Auch seine weiteren Bekundungen, wonach er nach dem wieder Einsteigen des Zeugen O. in den klägerischen Lkw und dem Ausschalten der Warnblinkanlage losgefahren sei, lassen nur den Schluss dahingehend zu, dass dieser ohne hinreichende Vergewisserung über den nachfolgenden bzw. rechts neben ihm befindlichen Verkehr seine Fahrt fortzusetzen beabsichtigte.

Wenngleich sich seine Sorgfaltsanforderungen - nach den vorstehenden Ausführungen - nicht nach § 10 StVO richten, hat er jedoch aufgrund des hier anzunehmenden unachtsamen wieder Anfahrens gegen die aus § 1 Abs. 2 StVO folgenden Sorgfaltspflichten verstoßen.

(3) Allerdings hat auch die Beklagte zu 1) - entgegen der Annahme des Amtsgerichts - durch ihr Fahrverhalten schuldhaft zur Unfallentstehung beigetragen, indem sie in der sich ihr bietenden Verkehrssituation begonnen hat, mit ihrem Pkw an den im fließenden Verkehr befindlichen, von dem Zeugen L. geführten Lkw vorbeizuziehen. Dies stellt für sich genommen kein Vorbeifahren im Sinne des § 6 StVO dar, vielmehr handelt es sich um ein unzulässiges Überholen bei unklarer Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO (vergl. KG, Urteil vom 14.3.2002, 12 U 163/01).

Bei der unklaren Verkehrslage im Sinne von § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der von der Rechtsprechung schon vor dem Inkrafttreten der Straßenverkehrsordnung 1970 entwickelt worden ist. Eine Verkehrslage ist unklar, wenn der Überholende nicht verlässlich beurteilen kann, was der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer sogleich tun werde. Unklar kann die Verkehrslage sein, wenn der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer die Fahrt verlangsamt. Sie muss nicht unklar sein, wenn er die Fahrt nur verzögert oder der Linksabbieger seine Absicht nicht durch Betätigung der Fahrtrichtungsanzeiger anzeigt und sich nicht zur Mitte hin einordnet (vergl. KG, VRS 85, 90, 92; Verkehrsrechtliche Mitteilungen 1993, 59 Nr. 78). Die genannte Vorschrift betrifft allerdings nicht nur das unzulässige Überholen eines Linksabbiegers, sondern jeden Überholvorgang in unklarer Verkehrslage für den Überholenden (vergl. KG, Urteil vom 14.3.2002 a.a.O.).

Im vorliegenden Streitfall gehörte der Fahrer des klägerischen Lkw, der sich nach den Angaben der persönlich angehörten Beklagten zu 1) entweder auf der anderen Straßenseite der Emmentaler Str. oder - den Bekundungen des Zeugen L. zufolge - mittig auf der Fahrbahn befunden hatte, zum fließenden Geradeausverkehr.

Wenn die Beklagte zu 1) im Rahmen ihrer Anhörung zum Ausdruck bringen will, dass sich der von dem Zeugen L. geführte Lkw unmittelbar vor dem Unfallereignis wieder im Stillstand befunden, mithin geparkt habe, trifft dies nicht zu; dieses Fahrzeug war nicht "am Fahrbahnrand praktisch zum Stillstand gekommen", weshalb sich die Beklagten auch - wie bereits ausgeführt - nicht auf die aus § 10 StVO folgenden besonderen Sorgfaltspflichten mit Erfolg berufen können.

cc) Bei der nach § 17 Abs. 1 StVG erforderlichen Abwägung fällt zu Lasten des Zeugen L. als Fahrer des klägerischen Lkw ins Gewicht, dass er sich vor dem Start nicht nach hinten rechts umgeschaut hatte und im alleinigen Vertrauen darauf, dass der rückwärtige Verkehr weiterhin warten und ihm die Fortsetzung seiner Fahrt ermöglichen werde, angefahren war. Allerdings war der Beklagten zu 1) ihrerseits vorzuwerfen, dass sie trotz der sich ihr bietenden unklaren Verkehrssituation versucht hat, den zunächst haltenden Lkw der Klägerin rechts zu überholen. Indem der Beifahrer des Zeugen L. unmittelbar nach dem Einweisungsvorgang - nach den weiteren Angaben der Beklagten zu 1) - wieder in den Lkw eingestiegen war, hätte sich ihr geradezu aufdrängen müssen, dass der Fahrer des Lkw unmittelbar im Anschluss hieran seine Fahrt fortsetzen werde. Soweit die Beklagten in diesem Zusammenhang behaupten, dass das Fahrzeug der Beklagten zu 1) den klägerischen Lkw schon zum Teil passiert habe, als dieser anfuhr und gegen das Beklagtenfahrzeug stieß, lässt sich hieraus nur der Schluss ziehen, dass der Zeuge L. das Fahrzeug der Beklagten zu 1) im Unfallzeitpunkt hätte wahrnehmen können und müssen. Es ändert jedoch aber nichts daran, dass die Beklagte zu 1) durch ihr Fahrverhalten schuldhaft zur Unfallentstehung beigetragen hat. Demgemäß bedurfte es insoweit auch nicht der Einholung des seitens der Beklagten beantragten Unfallrekonstruktionsgutachtens.

Bei Abwägung aller Umstände und unter Berücksichtigung der von dem klägerischen Lkw ausgehenden, durch den Anfahrvorgang erhöhten, Betriebsgefahr hielt das erkennende Gericht eine Haftungsverteilung von 2/3 zu Lasten der Klägerin und 1/3 zu Lasten der Beklagten für geboten.

b) Der Höhe nach kann die Klägerin unter Berücksichtigung der Haftungsverteilung 1/3 der im Berufungsverfahren geltend gemachten Reparaturkosten von 2.713,97 €, mithin 904,66 €, von den Beklagten erstattet verlangen.

2. Ferner haben die Beklagten der Klägerin aus abgetretenem Recht (§ 398 BGB) gemäß der in erster Instanz bereits eingereichten Erklärung ihrer Rechtsschutzversicherung vom 30. September 2010 (Bl. 55 d.A.) die Rechtsanwaltsgebühren als Verzugsschaden zu ersetzen, die ihr durch die außergerichtliche Geltendmachung des begründeten Schadensersatzanspruches von 904,66 € entstanden sind.

Der Anspruch bemisst sich auf der Grundlage des von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit einer 1,3-Geschäftsgebühr bemessenen Gebührenansatzes wie folgt:

1,3-Geschäftsgebühr nach einem Geschäftswert bis zu 1.200,00 €: 110,50 €
Post- und Telekommunikationsgebühren: 20,00 €
Aktenversendungspauschale: 12,00 €
Summe: 142,50 €


II.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO; § 26 Nr. 8 EGZPO.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären waren und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (vergl. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).