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Kammergericht Berlin Urteil vom 30.05.2005 -12 U 82/04 - Keine unbedingte Anwendung der Parkplatz- oder Parkhausgrundsätze auf Betriebsgelände

KG Berlin v. 30.05.2005: Keine unbedingte Anwendung der Parkplatz- oder Parkhausgrundsätze auf Betriebsgelände


Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 30.05.2005 -12 U 82/04) hat für die Kollision zweier Lkw auf einem Betriebsgelände folgendes entschieden:

  1.  Die für Parkplätze und Parkhäuser aufgestellten Grundsätze, wonach jederzeit mit rangierenden und aus Parktaschen herausfahrenden Fahrzeugen zu rechnen ist, weshalb eine Geschwindigkeit von nicht mehr als 10 km/h angemessen sei, ist auf das von LKW befahrenen Betriebsgelände mit einer Laderampe nicht ohne weiteres anzuwenden.

  2.  Entscheidend für das Vorhandensein mehrerer Fahrstreifen i. S. d. § 7 Abs. 2 StVO ist die tatsächliche Fahrbahnbreite, nicht das Vorhandensein von Fahrbahnmarkierungen.

  3.  Im Falle eines Fahrstreifenwechsels (§ 7 Abs. 5 StVO) oder eines Anfahrens von der Laderampe eines Betriebsgeländes (§ 1 StVO i. V. m. § 10 StVO) kommt eine Mithaftung des Unfallgegners nur dann in Betracht, wenn der Fahrstreifenwechsler / Anfahrende Umstände nachweist, die ein Mitverschulden des Unfallgegners belegen.


Siehe auch
Unfälle auf Betriebs- und Werksgelände
und
Stichwörter zum Thema Halten und Parken

Gründe:


Die zulässige Berufung der Beklagten hat auch in der Sache Erfolg.

A.

Der Kläger ist allerdings entgegen der Annahme der Berufung aktiv legitimiert, weshalb das Rubrum auf entsprechenden Antrag zu berichtigen war.

Der Kläger ist ausweislich des Beschlusses des Bezirksgerichts Z. vom 20. Oktober 2003 zum Verlassenschaftskurator der Verlassenschaft nach dem verstorbenen ursprünglichen Kläger J. F. bestellt worden und seit Aufhebung des Konkurses über das Vermögen der Verlassenschaft auch wieder befugt, diese zu vertreten. Dies haben die Beklagten auch nicht bestritten.

Soweit sich ihr Bestreiten darauf bezieht, dass fraglich sei, ob die Bestellung des Klägers vom 20. Oktober 2003 noch andauere, ist dieses Bestreiten nicht erheblich. Allein die Tatsache, dass die Bestellung des Klägers am 20. Oktober 2003 erfolgte, ist nicht geeignet, ihr weiteres Vorliegen in Zweifel zu ziehen, zumal die Bestellung ausweislich des vorgelegten Beschlusses nicht für einen bestimmten Zeitraum erfolgte und der bisher verstrichene Zeitraum nicht einmal zwei Jahre beträgt. Ohne weiteres Vorbringen der Beklagten zu Tatsachen, die geeignet wären, eine zwischenzeitliche Aufhebung der Kuratorenbestellung zu vermuten, war dem Kläger deshalb auch nicht aufzugeben, seine weiter andauernde Bestellung durch Vorlage bspw. einer Bestätigung des Bezirksgerichts Z. erneut nachzuweisen.




B.

Die Berufung hat in der Sache Erfolg, weil das Amtsgericht Mitte in dem angefochtenen Urteil zu Unrecht davon ausgegangen ist, dass die Beklagten gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 StVG a.F. eine Mithaftung von 30 % hinsichtlich des Unfalls vom 30. Januar 2001 auf dem Speditionsgelände der Fa. ...trifft.

1. Richtig ist das Amtsgericht allerdings davon ausgegangen, dass sich der Unfall für keinen der beiden Fahrer als unabwendbares Ereignis im Sinne des § 7 StVG a.F. darstellte.

Ein unabwendbares Ereignis liegt nur dann vor, wenn der Unfall auch bei äußerst möglicher Sorgfalt nicht hätte abgewendet werden können (vgl. BGH, Urteil vom 10.10.2000, NJW 2001, 152). Der Beklagte zu 1) hätte mit einem Maß an Sorgfalt handeln müssen, das weit über das eines durchschnittlichen Fahrers hinausgeht und dem Bild eines Idealfahrers entspricht. Hierfür ist das Vorbringen der Beklagten zum Fahrverhalten des Beklagten zu 1) nicht ausreichend.

2. Nicht gefolgt werden kann dem Amtsgericht jedoch, soweit es unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr der beiden Fahrzeuge zu einer Mithaftung der Beklagten von 30 % kommt.

Dabei kann es dahinstehen, ob der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs zum Zeitpunkt des Unfalls parallel zur Verladerampe, also in gleicher Richtung wie der Beklagte zu 1) fuhr - wovon das Amtsgericht offenbar ausgegangen ist - oder ob er, wie die Beklagten behaupten, quer zur Fahrtrichtung des Beklagten zu 1), also fast im 90 ° Winkel zur Rampe stand, worauf die polizeilichen Unfallskizzen hindeuten. Sowohl auf der Verkehrsunfallanzeige, als auch auf der angefertigten Unfallskizze Bl. 4 der Beiakten 126 PLs 723/01 ist der klägerische Lkw als zum Zeitpunkt des Unfalls nahezu im rechten Winkel zur an den Verladerampen vorbeiführenden Zufahrt stehend eingezeichnet. Eine derartige Stellung zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes weist eher darauf hin, dass der Lkw bereits zuvor schräg stand und sich nicht in paralleler Fahrt zu den Verladerampen befand.

a. Selbst wenn der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs parallel zu der Verladerampe geradeaus gefahren und aus der Geradeausfahrt nach rechts ausgeschert wäre, ohne dies unstreitig durch Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers anzukündigen und ohne den nachfolgenden Verkehr, hier den Beklagten zu 1), ausreichend zu beachten, haftet er nach den anwendbaren Grundsätzen des sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsels allein.




Entscheidend für das Vorhandensein mehrerer Fahrstreifen im Sinne von § 7 StVO ist die tatsächliche Fahrbahnbreite, nicht das Vorhandensein von Fahrbahnmarkierungen (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 7 StVO, Rn 5), so dass die Zufahrt zu den Rampen, die ausweislich der polizeilichen Unfallskizze 15 m breit war und damit von jedenfalls zwei Lkw nebeneinander befahren werden konnte, zwei Fahrstreifen aufwies und jedenfalls der Rechtsgedanke der Regeln über den Fahrstreifenwechsel zur Anwendung kommt.

Bei Fahrstreifenwechsel nach § 7 Abs. 5 StVO spricht bei einem Verkehrsunfall der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des vorausfahrenden Fahrstreifenwechslers, der grundsätzlich keinen Schadensersatz erhält (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., StVG § 17 RN 16).

Jeder Fahrstreifenwechsel verlangt die Einhaltung äußerster Sorgfalt, so dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Er setzt ausreichende Rückschau voraus und ist rechtzeitig und deutlich durch Fahrtrichtungsanzeiger anzukündigen. Ereignet sich die Kollision zweier Fahrzeuge in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass dieser den Unfall unter Verstoß gegen die vorgenannten Pflichten verursacht und verschuldet hat. In der Regel haftet der Vorausfahrende bei einem sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel für die Unfallschäden allein (Senat, Urteil vom 2. Oktober 2003 - 12 U 53/02 - VRS 106, 23 = KGR 2004, 106 = VM 2004, 29 Nr. 26).

Eine Mithaftung des anderen Unfallbeteiligten kommt nur dann in Betracht, wenn der Fahrstreifenwechsler Umstände nachweist, die ein Mitverschulden des anderen belegen. Allein die Betriebsgefahr des unfallbeteiligten Pkw rechtfertigt keine Mithaftung des anderen Verkehrsteilnehmers (Senat, Urteil vom 12. Juni 2003 - 22 U 134/02 - KGR 2003, 272).

Solche Umstände sind hier durch den Kläger nicht nachgewiesen. Insbesondere hat der Kläger nicht ausreichend konkret dargelegt, dass der Beklagte zu 1) mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei. Das Amtsgericht hat in seinem Urteil zutreffend darauf hingewiesen, dass das Vorbringen des Klägers nicht konkret gewesen ist, da er nicht angibt, mit welcher Geschwindigkeit der Beklagte zu 1) gefahren sein soll.




Nicht gefolgt werden kann dem Amtsgericht insofern, als es davon ausgeht, dass der Beklagte zu 1) jedenfalls - ohne, dass eine bestimmte Geschwindigkeit hier konkret festgestellt werden könnte - zu schnell gefahren sei, da er nach seinem eigenen Vorbringen nicht in der Lage war, innerhalb von 5-7 m anzuhalten. Soweit das Amtsgericht zugleich ausführt, dass nur eine solche Geschwindigkeit angemessen gewesen wäre, die es dem Beklagten erlaubt hätte, innerhalb weniger Meter anzuhalten fehlt die Angabe, innerhalb welchen Abstandes der Beklagte zu 1) nach Auffassung des Amtsgerichts hätte anhalten müssen können.

Das Amtsgericht setzt sich, wie die Berufung zu Recht bemängelt, auch nicht mit den einschlägigen Anhaltewegtabellen auseinander. Aus diesen (hier entnommen Kuckuk, Straßenverkehrsrecht, 1996) ergibt sich, dass selbst bei einer angenommenen geringen Verzögerung von 5,5 m/s² bei nasser Fahrbahn der Anhalteweg im Falle einer Notbremsung bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 20 km/h 8,4 m beträgt, wobei für Reaktion und Bremsansprechen bei der Berechnung 1 Sekunde berücksichtigt ist. Unter gleichen Verhältnissen bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 15 km/h ergibt sich ein Anhalteweg von 5,7 m. Beides sind wenige Meter, so dass schon nicht ersichtlich ist, dass der Beklagte zu 1) durch das Fahren mit einer Geschwindigkeit von 15 oder 20 km/h die durch das Amtsgericht aufgestellten Bedingungen nicht erfüllt hätte.

Grundsätzlich richtig hat das Amtsgericht darauf hingewiesen, dass sich der Unfall auf einem Betriebsgelände ereignete und auf einem solchen erhöhte Vorsicht und Obacht erforderlich ist, was vor allem dann gilt, wenn, wie hier, reger Verkehr herrscht und eine Vielzahl von Fahrzeugen dieses Gelände befahren. Nicht gefolgert werden kann daraus allerdings, dass beim Befahren eines solchen Betriebsgeländes ein Anhalten grundsätzlich in weniger als 6 m gegeben sein muss. Dies würde dazu führen, dass, unter Berücksichtigung der einschlägigen oben aufgeführten Anhaltewegtabellen, unabhängig von den zulässigen 20 km/h tatsächlich nur eine Geschwindigkeit von unter 15 km/h den Sorgfaltspflichten gerecht würde. Eine solche grundsätzliche Beschränkung für das Befahren eines Betriebsgeländes ohne Berücksichtigung der geltenden Höchstgeschwindigkeiten und der tatsächlichen Verkehrssituation besteht nach Auffassung des Senats nicht. Die für Parkplätze und Parkhäuser aufgestellten Grundsätze (vgl. hierzu Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 8 StVO Rn 31), wonach jederzeit mit rangierenden und aus Parktaschen herausfahrenden Fahrzeugen zu rechnen ist, weshalb lediglich Schrittgeschwindigkeit, im allgemeinen nicht schneller als 10 km/h angemessen ist, sind auf ein Betriebsgelände der vorliegenden Art, nicht ohne Weiteres anzuwenden.

Soweit der Beklagte zu 1) mithin nicht nachweislich schneller als die unstreitig zugelassenen 20 km/h gefahren ist, kann die von ihm gefahrene Geschwindigkeit nicht als Umstand herangezogen werden, der der Alleinhaftung des den Unfall verursachenden Fahrers des klägerischen Fahrzeug entgegensteht.

Soweit der Kläger in der Berufungserwiderung vom 7. Juli 2004 vorträgt, es müsse unter Berücksichtigung der Reaktionszeit und der Bremsverzögerung eine Geschwindigkeit von mindestens 30 bis 40 km/h gefahren worden sein, ist dies weder im Einzelnen begründet, noch stellt es die Behauptung einer tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit dar, zumal nicht angegeben ist, woraus sich diese offensichtliche Schätzung ergäben sollte. Im Übrigen wäre dieses neue Vorbringen nicht zuzulassen, da nicht dargelegt ist, warum es nicht bereits in erster Instanz hätte vorgebracht werden können, § 531 Abs. 2 ZPO.

b. Ein Zugrundelegen der von den Beklagten vortragen Situation, wonach der Fahrer des klägerischen Lkw bereits nahezu im rechten Winkel an der Verladerampe gestanden habe und mit rechts eingeschlagenen Rädern in Richtung des Beklagten zu 1) losgefahren sei, führt ebenfalls nicht zu einer Mithaftung der Beklagten.

In diesem Fall hätte sich der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs, der mit seinem Lkw an der Verladerampe stand und die Zufahrt mithin nicht befuhr, nach dem Rechtsgedanken von § 10 StVO gemäß § 1 StVO so verhalten müssen, dass eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war und sich erforderlichenfalls einweisen lassen müssen. Seine Absicht, die Zufahrt nach dem Halten erneut, und sei es auch nur für ein Rangiermanöver zu befahren, hätte der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs rechtzeitig und deutlich anzeigen müssen. Gegebenenfalls hätte er sich durch Aufnahme von Blickkontakt und Handzeichen darüber versichern müssen, dass der Beklagte zu 1) seine Absicht erkennt und darauf reagieren kann. Dies ist nach dem unstreitigen Vorbringen nicht erfolgt.



Soweit der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs, wie klägerseits in der mündlichen Verhandlung dargelegt, auf Grund der Besonderheiten seines Fahrzeugs, den rechts von ihm befindlichen Verkehrsraum nicht ausreichend übersehen konnte, wäre es zwingend erforderlich gewesen, sich einweisen zu lassen (vgl. hierzu Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 10 StVO, Rn 13). Dies stellt keinesfalls einen Umstand dar, der dem Beklagten zu 1) zum Verschulden gereicht. Vielmehr erhöht sich in einem solchen Fall noch die erforderliche Sorgfalt des Rangierenden.

Auch in diesem Fall verbleibt es bei der Alleinhaftung des klägerischen Fahrers, da auch hier nicht nachgewiesen ist, dass der Beklagte zu 1) mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen zu B. 2.a. verwiesen werden.

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den § 708 Nr. 10, 713 ZPO.

D.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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