Das Verkehrslexikon
0000
Amtsgericht Bad Segeberg Urteil vom 31.01.2013 - 17 C 196/12 - Zum Anfahren, zum Vorbeifahren an einem Hindernis und zum Überholen in unklarer Verkehrslage
AG Bad Segeberg v. 31.01.2013: Zum Anfahren, zum Vorbeifahren an einem Hindernis und zum Überholen in unklarer Verkehrslage
Das Amtsgericht Bad Segeberg (Urteil vom 31.01.2013 - 17 C 196/12) hat entschieden:
- Ein "Anfahren" im Sinne des § 10 StVO liegt nicht vor, wenn ein Pkw lediglich verkehrsbedingt hält und anschließend die Fahrt wieder fortsetzt.
- Ereignet sich ein Verkehrsunfall in einem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit einem Vorbeifahren an einem Hindernis im Sinne des § 6 StVO, spricht zu Lasten des Ausscherenden ein Anscheinsbeweis dafür, dass er diesen Pflichten nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist (Anschluss an AG Krefeld, Urt. v. 28. Januar 2010, 3 C 490/08).
- Die Bestimmung des § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO schützt den bevorrechtigten, nicht jedoch den sich in den fließenden Verkehr wieder einordnenden Verkehr.
- Eine unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO liegt nur vor, wenn der Überholende unter den gegebenen Umständen mit einem ungefährlichen Überholvorgang nicht rechnen darf, die Verkehrslage also unübersichtlich ist und sich ihre Entwicklung nach objektiven Umständen nicht beurteilen lässt. Dies ist nicht schon dann der Fall, wenn ein Fahrzeug hinter einem parkenden Fahrzeug anhält und hierbei die Bremsleuchten an sind.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von den Beklagten Zahlung von Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall in W....
Am 14.04.2012 befuhr der Kläger mit dem in seinem Eigentum stehenden Pkw der Marke Golf mit dem amtlichen Kennzeichen ... die O...straße in ... W.... Dort kam es beim Überholen eines am rechten Fahrbahnrand parkenden Pkw zur Kollision zwischen dem von ihm geführten Pkw und dem dahinter fahrenden, von der Beklagten zu 1. geführten Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen .... Die Einzelheiten über den Unfallhergang stehen zwischen den Parteien im Streit.
Der Kläger hat seinen Sachschaden zunächst auf der Grundlage eines Privatsachverständigengutachtens des Ingenieurbüros ... vom 27.04.2012 (Bl. 5-18 d.A.) auf einen Wiederbeschaffungsaufwand in Höhe von 1.400,00 € sowie eine Nutzungsausfallentschädigung für 10 Tage á 29,00 €, insgesamt also 290,00 € zuzüglich einer Unkostenpauschale in Höhe von 25,00 € errechnet.
Mit Schreiben vom 11.06.2012 teilte die Beklagte zu 2. mit, keinen Schadensersatz zu leisten.
Mit seiner Klage vom 01.08.2012 hat der Kläger seine Ersatzansprüche zunächst weiterverfolgt. Ferner hat er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Mit Beschluss des Gerichts vom 21.09.2012 hat dieses dem Kläger Prozesskostenhilfe in Höhe von 950,00 € (2/3 des Wiederbeschaffungsaufwands und der Unkostenpauschale) zzgl. außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 155,30 € bewilligt und im Übrigen den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt (Bl. 34-37 d.A.).
Mit Verfügung des Gerichts vom 21.09.2012 ist den Beklagten die Klageschrift sodann zugestellt worden, soweit Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist. Mit am 11.10.2012 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom 05.10.2012 hat der Kläger erklärt, dass Klage nur im Rahmen der bewilligten Prozesskostenhilfe erhoben wird und im Übrigen der Antrag auf Prozesskostenhilfe zurückgenommen werde. In dem Termin am 13.12.2012 hat der Klägervertreter klargestellt, dass mit dem Schriftsatz vom 05.10.2012 auch die Klage zurückgenommen werden sollte, soweit diese über die bewilligte Prozesskostenhilfe hinausgeht.
Der Kläger behauptet, er habe hinter dem rechts am Fahrbahnrand parkenden Fahrzeug gehalten, um den entgegen kommenden Pkw des Zeugen M... durchfahren zu lassen, wobei er dafür kurz den Rückwärtsgang eingelegt und seinen Pkw zurückgesetzt habe. Als der Pkw des Zeugen M... nahezu durchgefahren sei, habe er den Fahrtrichtungsanzeiger nach links gesetzt und habe sich durch doppelte Rückschau versichert, dass hinter ihm kein Fahrzeug kommt und habe zum Überholen angesetzt. Als er mit seinem Pkw etwa auf halber Höhe des parkenden Pkw gewesen sei, sei die Beklagte zu 1. plötzlich und offenbar mit überhöhter Geschwindigkeit in die vordere linke Fahrzeugseite seines Pkw gefahren. Aus den Beschädigungen an den Fahrzeugen ergebe sich, dass die Beklagte zu 1. in das Fahrzeug des Klägers hinein gefahren sei (Beweis: Sachverständigengutachten).
Er beantragt,
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 950,00 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 26.05.2012 zu zahlen;
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen außergerichtliche Kosten in Höhe von 155,30 € zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten tragen vor, die Beklagte zu 1. habe die O...straße zum Unfallzeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von ca. 30 bis 35 km/h befahren.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen M... und J.... Ferner hat das Gericht den Kläger und die Beklagten zu 1. persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme sowie der Parteianhörung wird Bezug genommen auf das Sitzungsprotokoll vom 13.12.2012 (Bl. 77-91 d.A.).
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet. Dem Kläger steht gegen die Beklagten als Gesamtschuldner kein Schadensersatzanspruch gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 Satz 1 StVG, 823 Abs. 1 BGB, 115 Abs. 1 VVG zu.
Vorliegend streitet zu Lasten des Klägers ein Anscheinsbeweis dafür, dass dieser den Unfall allein schuldhaft verursacht hat. Diesen Anscheinsbeweis hat der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zu widerlegen vermocht.
Entgegen der Auffassung der Beklagten streitet vorliegend allerdings kein Anscheinsbeweis wegen eines Verstoßes gegen § 10 StVO zu Lasten des Klägers. Denn von einem „Anfahren“ im Sinne dieser Bestimmung kann nach Auffassung des Gerichts nicht ausgegangen werden, wenn ein Pkw lediglich verkehrsbedingt hält und anschließend die Fahrt wieder fortsetzt. Jedoch hat sich der Verkehrsunfall auch nach dem Vorbringen des Klägers in einem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit einem Vorbeifahren an einem Hindernis i.S. des § 6 StVO ereignet. Da der Kläger auch nach seinem eigenen Vorbringen ausscheren musste, hatte er gemäß § 6 Satz 2 StVO auf den nachfolgenden Verkehr zu achten und das Ausscheren sowie das Wiedereinordnen - wie beim Überholen - anzukündigen, insbesondere also rechtzeitig und deutlich (vgl. § 5 Abs. 4a StVO). Kommt es im Zusammenhang mit einem solchen Ausscheren zu einem Verkehrsunfall, spricht zu Lasten des Ausscherenden ein Anscheinsbeweis dafür, dass er diesen Pflichten nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist (AG Krefeld, Urt. v. 28.01.2010 - 3 C 490/08, SP 2010, 283 f., juris Rn. 42 f.).
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht nicht gemäß § 286 ZPO zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger beim Ausscheren auf den nachfolgenden Verkehr geachtet und insbesondere sein Wiedereinordnen rechtzeitig und deutlich angekündigt hat. Aus den eigenen Angaben des Klägers im Rahmen seiner persönlichen Anhörung ergibt sich, dass dieser geblinkt hat und sogleich ausgeschert ist. Bereits aus diesen Angaben des Klägers folgt, dass der Kläger jedenfalls nicht „rechtzeitig“ i.S. des § 5 Abs. 4a StVO die Absicht, sich in den fließenden Verkehr wieder einzuordnen, angekündigt hat. Auch im Übrigen ergibt sich aus den eigenen Angaben des Klägers, dass er nicht sorgfältig den rückwärtigen Verkehr beobachtet hat. Der Kläger hat selbst angegeben, nicht über die Schulter gesehen, sondern nach links gesehen und sodann in die „Lücke“ eingefahren zu sein. Der Kläger hat selbst angegeben, sich nicht mehr daran erinnern zu können, auch während des Ausscherens nach hinten gesehen zu haben. Hierzu war der Kläger nach dem Gesagten jedoch gemäß § 6 Satz 2 StVO gehalten.
Soweit der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung angegeben hat, er habe geblinkt, steht dies im Widerspruch zu den Angaben der ebenfalls persönlich angehörten Beklagten zu 1). Letztlich kann aber nach dem oben Gesagten vorliegend dahinstehen, ob der Kläger tatsächlich geblinkt hat, da sich aus den eigenen Angaben des Klägers ergibt, dass dieser jedenfalls nicht rechtzeitig geblinkt hat.
Auch auf der Grundlage der Angaben des Zeugen M... ergibt sich keine abweichende Beurteilung. Der Zeuge konnte mangels eigener Wahrnehmungen keinerlei Angaben dazu machen, ob bzw. wann der Kläger den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt und ob er den rückwärtigen Verkehr beobachtet hat. Entsprechendes gilt für die Zeugin J....
Soweit der Kläger behauptet hat, die Beklagte zu 1) sein mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren, steht dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht gemäß § 286 ZPO zur Überzeugung des Gerichts fest. Die Angaben der Zeugin J... waren unergiebig, weil diese erst aufgrund der Kollision zu dem Unfallgeschehen geblickt hat. Soweit die Zeugin angegeben hat, sie habe zur Seite springen müssen, beruhte dies aus dem kollisionsbedingten Ausweichen bzw. Wegdrücken des von der Beklagten zu 1) gesteuerten Pkws. Hieraus kann nicht der Schluss auf eine überhöhte Geschwindigkeit durch die Beklagte zu 1) gezogen werden. Soweit der Zeuge M... angegeben hat, die Beklagte zu 1) sei „ziemlich zügig“ gefahren, hat die Beweisaufnahme jedenfalls nicht ergeben, dass die Beklagte zu 1) die im Bereich der Unfallstelle zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat. Entsprechendes folgt auch nicht aus den Angaben der Beklagten zu 1). Dass die Beklagte zu 1) im Übrigen aufgrund der örtlichen Verhältnisse zu schnell gefahren ist und daher ein Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO vorliegt, hat die Beweisaufnahme ebenfalls nicht ergeben. Soweit der Zeuge M... angegeben hat, im Bereich vor der Unfallstelle sei mehrfach die Vorfahrtsregelung „rechts vor links“, kann dahinstehen, ob die Beklagte zu 1) gegen § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO, weil selbst bei einem solchen Verstoß vorliegend keine abweichende Haftungsverteilung angezeigt wäre. Denn die vorgenannte Bestimmung schützt den bevorrechtigten, nicht jedoch den sich in den fließenden Verkehr wieder einordnenden Verkehr.
Ferner kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Beklagte zu 1) unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei unklarer Verkehrslage überholt hat. Dies folgt insbesondere nicht aus den Angaben der Beklagten zu 1), an dem Pkw des Klägers seien die Rücklichter an gewesen. Eine unklare Verkehrslage nicht nur dann vor, wenn der Überholende unter den gegebenen Umständen mit einem ungefährlichen Überholvorgang nicht rechnen darf, die Verkehrslage also unübersichtlich ist und sich ihre Entwicklung nach objektiven Umständen nicht beurteilen lässt (OLG Schleswig, Urt. v. 07.07.2005 - 7 U 3/03, MDR 2006, 202, juris Rn. 14; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2008 - 1 U 175/07, juris Rn. 4; KG, Urt. v. 15.08.2005 - 12 U 41/05, NZV 2006, 309, juris Rn. 7; KG, Urt. v. 07.10.2002 - 12 U 41/01, NZV 2003, 89, 90; KG, Urt. v. 01.02.1999 - 8772/97, juris Rn. 39; OLG Koblenz, Urt. v. 26.01.2004 - 12 U 1439/02, NZV 2005, 413, juris Rn. 22). Eine Verkehrslage ist jedoch nicht schon dann als unklar in diesem Sinne anzusehen, wenn das vorausfahrende Fahrzeug verlangsamt oder hält (OLG Schleswig, Urt. v. 07.07.2005 - 7 U 3/03, MDR 2006, 202, juris Rn. 14; KG, Urt. v. 15.08.2005 - 12 U 41/05, NZV 2006, 309, juris Rn. 8; KG, Urt. v. 01.02.1999 - 8772/97, juris Rn. 41; OLG Brandenburg, Urt. v. 26.10.2006 - 12 U 71/06, juris Rn. 4; OLG Koblenz, Urt. v. 26.01.2004 - 12 U 1439/02, NZV 2005, 413, juris Rn. 22; LG Mönchengladbach, Urt. v. 11.12.2007 - 5 S 74/07, Schaden-Praxis 2008, 247, juris Rn. 13; LG Erfurt, Urt. v. 18.07.2007 - 2 S 361/06, juris Rn. 4). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht auch nicht gemäß § 286 ZPO zur Überzeugung des Gerichts fest, dass Anzeichen für ein Ausscheren des Klägers in Form einer Einordnung zur Fahrbahnmitte hin vorgelegen haben. Alleine das Befahren des rechten Fahrbahnrands begründet noch keine unklare Verkehrslage (s. hierzu OLG Celle, Urt. v. 18.11.2004 - 14 U 108/04, MDR 2005, 569 f.). Dass sich vorliegend für die Beklagte zu 1) aus anderen Gründen hinreichende Anhaltspunkte ergeben haben, die ein Misstrauen im Hinblick auf das künftige Fahrverhalten des Klägers begründen mussten, hat die Beweisaufnahme nicht ergeben, solche Anhaltspunkte ergeben sich nach dem oben Gesagten auch nicht aus der Anhörung des Klägers. Unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers selbst ist vielmehr davon auszugehen, dass er jedenfalls nicht „rechtzeitig“ den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hat. Ob an dem von dem Kläger gesteuerten Bremsleuchten betätigt gewesen sind, ist bei dieser Sachlage ebenfalls letztlich unerheblich.
Soweit der Kläger beantragt hat, ein Sachverständigengutachten zu seiner Behauptung, die Beklagte zu 1. sei in den von ihm gesteuerten Pkw hinein gefahren, einzuholen, musste das Gericht diesem Beweisangebot nicht nachgehen. Die Behauptung des Klägers kann zu seinen Gunsten als richtig unterstellt werden, ohne dass sich hieraus eine abweichende Beurteilung der Rechts- und Haftungslage ergibt. Denn insoweit ist allein maßgeblich, ob für die Beklagte zu 1) vor der Kollision ein Ausscheren des von dem Kläger gesteuerten Pkw erkennbar gewesen ist. Aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen ein Sachverständiger hierzu Feststellungen treffen könnte, ist weder ersichtlich noch von dem Kläger dargetan worden.
Da nach dem Gesagten ein von dem Kläger nicht widerlegter Anscheinsbeweis für ein alleiniges Verschulden des Klägers an dem Unfall streitet und der Kläger ein schuldhaftes Verhalten der Beklagten zu 1) nicht zur Überzeugung des Gerichts zu beweisen vermocht hat, tritt die von dem von der Beklagten zu 1) gesteuerten Pkw ausgehende Betriebsgefahr hinter das alleinige Verschulden des Klägers vollständig zurück, weshalb sich ein Ersatzanspruch des Klägers nicht ergibt.
Da dem Kläger ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten nicht zusteht, ist die Klage auch hinsichtlich der geltend gemachten Nebenforderungen (Zinsen und Rechtsanwaltskosten) unbegründet und abzuweisen.
Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1 Satz 1, 269 Abs. 1 Satz 2, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1, 43 Abs. 1, 40 GKG, 3 ZPO.