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Amtsgericht Wuppertal Urteil vom 30.10.2007 - 33 C 345/07 - Zur Erschütterung des Anscheinsbeweises bei Überfahren der durchgezogenen Fahrstreifenbegrenzung

AG Wuppertal v. 30.10.2007: Zur Erschütterung des Anscheinsbeweises bei Überfahren der durchgezogenen Fahrstreifenbegrenzung


Das Amtsgericht Wuppertal (Urteil vom 30.10.2007 - 33 C 345/07) hat entschieden:
Wird ein Verkehrsunfall dadurch verursacht, dass ein Kfz-Führer sich unmittelbar im Anfahrtsvorgang vor der auf Grünlicht gewechselten Lichtzeichenanlage vor einem anderen Fahrzeug eingeordnet hat, indem er entgegen §§ 2 I, 41 III Nr.3 Zeichen 295 StVO über die durchgezogene Fahrstreifenbegrenzung auf die Linksabbiegerspur gefahren ist, so ist der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis entkräftet.


Siehe auch Auffahrunfall nach Ampelstart bei Grün und Stichwörter zum Thema Auffahrunfälle


Tatbestand:

Die Parteien streiten aus Anlass eines Verkehrsunfalls, der sich am 26.01.2007 auf der T-Straße vor dem Einmündungsbereich zur S-Straße in X ereignete. Beteiligt waren einerseits der Kläger mit seinem Pkw Marke Daihatsu mit dem amtlichen Kennzeichen ... und andererseits der Beklagte zu 1. als Fahrer des auf den Beklagten zu 2. zugelassenen Lkw Marke MAN mit dem amtlichen Kennzeichen ZZ, der zum Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 3. haftpflichtversichert war.

Der Kläger fuhr vom rechten Fahrbahnrand kommend auf die T-Straße, überquerte die Rechtsabbiegerspur und ordnete sich vor dem dort stehenden Lkw der Beklagten auf der Linksabbiegerspur ein. Vor den unfallbeteiligten Fahrzeugen befanden sich weitere Fahrzeuge, die zunächst wegen Rotlichts der in Fahrtrichtung gelegenen Lichtzeichenanlage warten mussten. Bei Grünlicht kam es zum Zusammenstoß der unfallbeteiligten Fahrzeuge, wobei der klägerische Pkw im hinteren linken Bereich beschädigt wurde.

Der Kläger beziffert seinen unfallbedingten Schaden unter Bezugnahme auf das Schadensgutachten A vom 01.02.2007 (Anlage K 1, Bl.4 ff. d.A.) wie folgt:

Reparaturkosten netto: 1.778,36 Euro
Gutachterkosten brutto: 347,02 Euro
Schadenspauschale: 25,00 Euro
  2.150,38 Euro


Der Kläger behauptet, die Lücke zwischen dem Lkw der Beklagten und dem davor wartenden Pkw sei so groß gewesen, dass er vom rechten Fahrbahnrand kommend dort hinein haben fahren können. Er habe vor dem Lkw etwas schräg nach links versetzt gestanden und ebenfalls auf Grünlicht gewartet. Bei Grünlicht sei er ebenso wie die vor ihm wartenden Fahrzeuge angefahren, als der Beklagte zu 1. wegen Unachtsamkeit auf seinen Pkw aufgefahren sei.

Der Kläger beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn einen Betrag in Höhe von 2.150,38 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszins seit dem 28.03.2007 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten behaupten, der Kläger sei mit seinem Pkw vom rechten Parkstreifen aus losgefahren, als die Ampel für die Linksabbieger grün wurde. Dabei sei er über die durchgezogene Linie zwischen der Rechts- und Linksabbiegerspur gefahren und habe sich vor dem bereits in Bewegung befindlichen Lkw der Beklagten eingefädelt, womit der Beklagte zu 1. nicht habe rechnen müssen. Angesichts dessen habe der Beklagte zu 1. den Zusammenstoß nicht vermeiden können.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen H. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 16.10.2007 (Bl. 41 ff. d.A.) Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Die grundsätzliche gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten für den Unfallschaden folgt aus §§ 7 I, 17, 18 StVG, 3 Nrn.1-2 PflVG, 249 ff. BGB, weil der Schaden beim Betrieb des vom Beklagten zu 1. gesteuerten und vom Beklagten zu 2. gehaltenen Lkw, der zum Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 3. pflichtversichert war, entstanden ist. Anhaltspunkte für einen Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 7 II StVG sind weder dargetan noch anderweitig ersichtlich.

Soweit sich der Verkehrsunfall auch beim Betrieb des klägerischen Fahrzeugs ereignet und der Kläger damit grundsätzlich gemäß § 7 I, II StVG ebenfalls für die Unfallfolgen einzustehen hat, hängt der Umfang des von den Parteien jeweils zu leistenden Schadensersatzes gemäß § 17 I, II StVG von den Umständen und insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Ist das Maß des Verschuldens auf der einen Seite so groß, dass demgegenüber die von der anderen Partei zu verantwortende Mitverantwortung nicht ins Gewicht fällt, so kann der Schaden ganz der einen Partei auferlegt werden (vgl. OLG Düsseldorf vom 31.07.1967, 1 U 155/66, VersR 1968, 781). Dabei dürfen nur solche Umstände zu Lasten eines Unfallbeteiligten berücksichtigt werden, die feststehen, also unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sind und sich auf den Unfall ausgewirkt haben (vgl. BGH vom 26.04.2005, VI ZR 168/04, NJW 2005, 2081, 2082).

Entscheidend ist deshalb, ob und inwieweit die beiden Fahrzeugführer den Unfall jeweils mitverschuldet haben. In diesem Zusammenhang kann sich der Kläger nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Lkw der Beklagten auf seinen Pkw aufgefahren ist und die Beklagten deshalb den Beweis des ersten Anscheins gegen sich haben, dass der Beklagte zu 1. entweder nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten (§ 4 I StVO), seine Fahrgeschwindigkeit nicht der Verkehrssituation angepasst (§ 3 I StVO) oder es an der erforderlichen Aufmerksamkeit hat fehlen lassen (§ 1 II StVO). Der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden beruht auf dem Erfahrungssatz, dass das Auffahren im gleichgerichteten Verkehr regelmäßig auf mangelnde Aufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit oder einen ungenügenden Sicherheitsabstand des Auffahrenden zurückzuführen ist. Voraussetzung für seine Anwendung ist deshalb das Vorliegen einer Standardsituation, in der eine allenfalls denkbare andere Ursache so unrealistisch erscheint, dass sie außer Betracht bleiben kann (vgl. BGH vom 16.01.2007, VI ZR 248/05, VersR 2007, 557; OLG Frankfurt vom 02.03.2006, 3 U 220/05, NJW 2007, 87).

Eine solche Situation liegt hier jedoch schon deshalb nicht vor, weil der Kläger ausweislich seiner eigenen Schilderung im Rahmen der Anhörung gemäß § 141 III ZPO verbotswidrig über die durchgezogene Linie zwischen der Rechts- und Linksabbiegerspur gefahren ist, sich zeitlich kurz vor dem Zusammenstoß vor dem Beklagtenfahrzeug eingeordnet und damit einen unfallursächlichen Verkehrsverstoß gegen §§ 2 I, 41 III Nr.3 Zeichen 295 StVO begangen hat. Soweit nach den eigenen Bekundungen des Klägers das auf dem Lichtbild Nr.1 (Bl. 46 d.A.) zu erkennende Fahrzeug (auf der Linksabbiegerspur) unmittelbar an der durchgezogenen Fahrstreifenbegrenzung steht und sich der Lkw der Beklagten zum Zeitpunkt seines Fahrmanövers ebenfalls dort befunden haben soll, muss er mit seinem Pkw zwangsläufig die durchgezogene Linie überfahren haben, um vor dem Lkw einscheren zu können. Von einem typischen Auffahrunfall und einem Anscheinsbeweis zu Lasten der Beklagten kann deshalb keine Rede sein.

Deshalb kommt es bei der gemäß § 17 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung darauf an, welcher Fahrzeugführer den Verkehrsunfall in welchem Maße verschuldet hat. Nach Durchführung der Beweisaufnahme und Auswertung des gesamten Akteninhalts ist das Gericht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gemäß § 286 ZPO davon überzeugt, dass der Kläger sich unmittelbar im Anfahrtsvorgang des Beklagtenfahrzeugs vor der auf Grünlicht gewechselten Lichtzeichenanlage vor diesem eingeordnet hat, indem er entgegen §§ 2 I, 41 III Nr.3 Zeichen 295 StVO über die durchgezogene Fahrstreifenbegrenzung auf die Linksabbiegerspur gefahren ist. Nach den glaubhaften Bekundungen des Zeugen H, die im Kerngeschehen mit der ebenso glaubhaften Unfallschilderung des Beklagten zu 1. übereinstimmen, ist das Klagevorbringen insoweit widerlegt und davon auszugehen, dass der Kläger mit seinem Pkw im Anfahrtsvorgang des Lkw vor diesem auf die Linksabbiegerspur eingeschert ist. Die anschauliche Schilderung des Zeugen ist in sich stimmig und bestätigt die Annahme, dass sich der Lkw bei dem Fahrmanöver des Klägers im Bereich der durchgezogenen Fahrstreifenbegrenzung befunden hat, der Kläger also verbotswidrig darüber gefahren sein muss. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass der Zeuge ein "Arbeitskollege" des Beklagten zu 1. ist und möglicherweise in dessen Interesse aussagen könnte. Es sind jedoch keinerlei greifbaren Anhaltspunkte zu erkennen, die geeignet wären, die Aussage des Zeugen H in Zweifel zu ziehen.

Im Ergebnis führt dies dazu, dass den Kläger nicht nur die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs, sondern darüber hinaus der zuvor bezeichnete Verkehrsverstoß belastet, ohne den es nicht zu dem Unfall gekommen wäre. Demgegenüber ist ein Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1. nicht als bewiesen feststellbar. Denn die für die Abwägung nach § 17 StVG maßgebenden Umstände müssen feststehen, das heißt unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein (s.o.). Anderenfalls würde es zu einer Haftungsverteilung nicht mehr nach Verursachungsanteilen, sondern nach bloßen Möglichkeiten einer Schadensentstehung kommen.

Aufgrund des zuvor dargelegten Fahrmanövers des Klägers hatte der Beklagte zu 1. keine Möglichkeit, einen Sicherheitsabstand herzustellen. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass er seine Fahrgeschwindigkeit nicht der Verkehrssituation angepasst hatte (§ 3 I StVO) oder es an der erforderlichen Aufmerksamkeit fehlen ließ (§ 1 II StVO). Zugleich ist nicht ersichtlich, dass der Lkw der Beklagten gegen das (noch) stehende Fahrzeug des Klägers gefahren wäre. Soweit der Kläger bekundet hat, er habe mit seinem Pkw ebenso wie das vor ihm wartende Fahrzeug noch gestanden, als der Lkw ihm aufgefahren sei, fehlen jegliche konkreten Anhaltspunkte, die geeignet wären, einen solchen Unfallhergang zu stützen. Aber selbst wenn der klägerische Pkw vor dem Zusammenstoß gestanden haben sollte, kann es sich dort nur für wenige Sekunden befunden haben, bevor die Lichtzeichenanlage auf Grünlicht umschaltete und die wartenden Fahrzeuge einschließlich des Lkw der Beklagten anfuhren. Daraus folgt jedoch kein Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1., der beim Wechsel der Lichtzeichenanlage auf Grünlicht nicht damit rechnen musste, dass sich der klägerische Pkw plötzlich halb vor seinem Lkw befand. In diesem Zusammenhang hat der Zeugen H nachvollziehbar und lebensnah geschildert, dass das von ihm beobachtete Fahrmanöver des Klägers im zeitlichen Bezug zur Ampelschaltung ein "fließender Vorgang" war. Der Kläger kann danach allenfalls ein paar Sekunden vor dem Lkw der Beklagten gestanden haben, woraus sich jedoch kein Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1. herleiten lässt.

Bei Abwägung der Verursachungsanteile ist danach auf Seiten des Klägers zu berücksichtigen, dass die Betriebsgefahr des von ihm gefahrenen Pkw durch den oben genannten Verkehrsverstoß erheblich gesteigert war. Hinsichtlich der Betriebsgefahr des Lkw der Beklagten ist zwar zu berücksichtigen, dass diese im Vergleich zu dem klägerischen Pkw durch die höhere Masse erhöht war. Ob der Verkehrsunfall unter diesem Gesichtspunkt für den Beklagten zu 1. unvermeidbar war, wodurch die Haftung der Beklagten nach § 17 I, II StVG ausgeschlossen wäre, kann jedoch dahingestellt bleiben. Angesichts des dem Kläger anzulastenden Verkehrsverstoßes tritt die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs dahinter zurück (vgl. hierzu Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl. 2007, § 22 Rn. 172 m.w.N.), so dass eine Mithaftung der Beklagten nicht besteht und deshalb gegen sie gerichtete Schadensersatzansprüche ausscheiden.

Mangels Hauptanspruch besteht auch kein Anspruch auf die als Nebenforderung geltend gemachten Zinsen.

Die prozessualen Nebenentscheidungen ergeben sich aus §§ 91 I, 708 Nr.11, 711 ZPO.

Streitwert: 2.150,38 Euro.