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OLG Brandenburg Urteil vom 26.04.2007 - 12 U 222/06 - Zum Rechtsfahrgebot und zur Betriebsgefahr eines überlangen Sattelzuges
OLG Brandenburg v. 26.04.2007: Zum Rechtsfahrgebot und zur Betriebsgefahr eines überlangen Sattelzuges
Das OLG Brandenburg (Urteil vom 26.04.2007 - 12 U 222/06) hat entschieden:
- Für die Einhaltung des Rechtsfahrgebots ist es im allgemeinen ausreichend, wenn von der linken Fahrzeugseite aus noch ein Abstand von mindestens 50 cm bis zur Mittellinie eingehalten wird.
- Steht ein unfallursächlicher Beitrag eines Fzg-Führers nicht fest und ist demzufolge die Haftung lediglich an der Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge auszurichten, so ist die höhere Betriebsgefahr eines Sattelzuges mit 2/3 gegenüber 1/3 für einen Pkw zu bewerten.
Gründe:
I.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gem. den §§ 517 ff ZPO eingelegt und begründet worden. Sie hat auch in der Sache zum überwiegenden Teil Erfolg.
1. Das Rubrum des vorliegenden Rechtsstreits war auf die Anregung der Klägerin dahingehend zu berichtigen, dass Beklagte zu 3. die … Allgemeine Versicherung AG ist. Soweit in der Klageschrift und im weiteren Verlauf des Rechtsstreits als Beklagte zu 3. die “… Gruppe” aufgeführt worden ist, handelt es sich um eine unvollständige Parteibezeichnung, die der Auslegung zugänglich ist. Bei der … Gruppe handelt es sich um einen Verbund von mehreren in einem Konzern verbundenen Unternehmen, die ausweislich der in der Akte befindlichen Schreiben (z. B. Bl. 12 GA) aus der … Krankenversicherung a. G., der … Vereinigten Lebensversicherung a. G., der … Unfallversicherung a. G. und der N. Allgemeine Versicherung AG besteht bzw. bestand. Die Klägerin hat ersichtlich nicht sämtliche Versicherungsgesellschaften in Anspruch nehmen wollen. Wer als Partei anzusehen ist, richtet sich danach, welcher Sinn der prozessualen Erklärung des Klägers aus der Sicht der Empfänger (Gericht und Gegner) beizulegen ist. Demgemäß ist bei äußerlich unrichtiger oder unvollständiger Bezeichnung grundsätzlich die Person als Partei anzusprechen, die durch die fehlerhafte Parteibezeichnung nach deren objektivem Sinn getroffen werden soll (vgl. BGH NJW 1988, 1585, 1587 m.w.N.; OLG Hamm NJW-RR 1991, 188; Zöller/Vollkommer, ZPO, 26. Aufl., vor § 50 Rn. 7). Dies war im Streitfall ursprünglich die N. Allgemeine Versicherung AG. Aus dem Inhalt der Klageschrift folgt, dass die Klägerin den Haftpflichtversicherer des Sattelzuges der Beklagten zu 2. aus dem Direktanspruch aus § 3 Nr. 1 PflVG in Anspruch nehmen wollte. Richtiger Adressat für Ansprüche nach dem Pflichtversicherungsgesetz war innerhalb der Unternehmensgruppe … die N. Allgemeine Versicherung AG, von der auch das Ablehnungsschreiben vom 29.11.2002 (Bl. 12 GA) stammt. Die N. Allgemeine Versicherung AG ist nach dem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Klägerin zwischenzeitlich in die … Allgemeine Versicherung AG umgewandelt worden, wobei dahinstehen kann, ob es sich dabei um eine reine Umfirmierung oder um eine Umwandlung durch Verschmelzung oder Vermögensübertragung handelt, da im letzteren Falle die Beklagte zu 3. im Wege der Gesamtrechtsnachfolge entsprechend den §§ 239, 246 ZPO Partei des Rechtsstreits geworden ist.
2. Der Klägerin steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf Ersatz von zwei Drittel des ihr infolge des Verkehrsunfalls vom 22.04.2002 entstandenen Schadens aus den §§ 7 Abs. 1, 17, 18 Abs. 1 S. 1 StVG, 823 Abs. 1 BGB, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 2 Abs. 2 StVO, 3 Nr. 1 PflVG zu. Auf den Sachverhalt ist das bis zum 31.07.2002 geltende Recht anzuwenden, da sich der Unfall bereits am 22.04.2002 ereignet hat (Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB).
a) Keine der Parteien hat nach dem Ergebnis der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme den Beweis erbracht, dass der Unfall für sie unabwendbar i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG a. F. gewesen ist. Nach dem Ergebnis des vom Landgericht eingeholten Sachverständigengutachtens des Sachverständigen D. lassen sich das exakte Fahrverhalten der beteiligten Fahrzeuge, der Kollisionsort und die jeweiligen Kollisionsgeschwindigkeiten mangels objektiver Anknüpfungspunkte nicht mehr rekonstruieren. Danach lässt sich weder ausschließen, dass die Kollision der Fahrzeuge auf der von dem Fahrzeug der Klägerin befahrenen Fahrbahnhälfte stattgefunden hat, so dass auch ein Fahrfehler des Beklagten zu 1. nicht ausgeschlossen werden kann, noch dass die Kollision auf der von dem Beklagten zu 1. befahrenen Fahrbahnhälfte stattgefunden hat. Zwar ist es nach den Feststellungen des Sachverständigen technisch möglich, dass der Sattelzug den Kurvenbereich vollständig auf der rechten Fahrbahnhälfte durchfahren haben kann, erwiesen ist dies jedoch nicht. Diese Unaufklärbarkeit geht im Rahmen des Unabwendbarkeitsnachweises zulasten der für eine Unabwendbarkeit darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten. Es lässt sich auch nicht mit dem für die Erbringung des Vollbeweises nach § 286 ZPO erforderlichen Grad an Gewissheit, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese vollständig auszuschließen, feststellen, dass das Fahrzeug der Klägerin tatsächlich über die Mittellinie geraten ist. Zwar ist es nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht möglich, dass der Auflieger des Sattelzuges in die Gegenfahrbahn ausschwenkt, wenn sich der Sattelzug, wie von dem damaligen Geschäftsführer der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 17.02.2004 angegeben, zu diesem Zeitpunkt vollständig auf der aus seiner Sicht rechten Fahrbahn befand. Der Sachverständige ist bei dieser Feststellung nicht von unzutreffenden Anknüpfungstatsachen ausgegangen, da er bei seiner Plausibilitätsberechnung ausdrücklich von den Angaben des Geschäftsführers in der mündlichen Verhandlung ausgegangen ist mit dem Unterschied, dass der Geschäftsführer der Klägerin in der mündlichen Verhandlung von dem Sattelzug als “Fahrzeughaus” gesprochen hat. Die entsprechenden Feststellungen des Sachverständigen stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass sich die Lenkung des Sattelanhängers wie vorgeschrieben in der “Fahrstellung” befunden hat, was nicht endgültig feststeht. Zum anderen spricht gegen die Annahme, dass der Geschäftsführer der Klägerin mit seinem Fahrzeug über die Mittellinie gefahren ist, insbesondere der Umstand, dass der Beklagte zu 1. in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren selbst angegeben hat, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs die Mittellinie jedenfalls zu dem Zeitpunkt, als er die Sattelzugmaschine passierte, noch nicht überschritten hatte. Hätte der Fahrer tatsächlich die Kurve geschnitten, liegt es nahe, dass die Kollision in diesem Fall mit der Sattelzugmaschine und nicht mit dem hinteren Teil des Sattelanhängers erfolgt wäre. Wenn sich das Fahrzeug der Klägerin jedoch zu dem Zeitpunkt, als es die Sattenzugmaschine passierte, entsprechend den übereinstimmenden Angaben sowohl des Fahrers als auch des Beklagten zu 1. noch vollständig auf seiner eigenen Fahrbahnseite befand, ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges in diesem Moment die Kurve geschnitten und die Mittellinie überfahren haben sollte, wenn sich neben ihm ein insgesamt 22 m langer Sattelzug befindet. Schließlich hat auch der Zeuge W., der sich in dem dem Beklagtenfahrzeug vorausfahrenden Fahrzeug befand, glaubhaft bekundet, dass der BMW der Klägerin zwar mit seinen Rädern leicht über die Mittellinie gekommen sei, dann jedoch vor dem eigentlichen Unfall wieder nach rechts ausgewichen sei (Bl. 145 GA).
Aufgrund dieser Umstände steht nicht zur Überzeugung des Senates fest, dass der damalige Geschäftsführer der Klägerin als Fahrer des klägerischen Fahrzeuges über die Mittellinie geraten ist und der Unfall für den Beklagten zu 1. als Fahrer des Beklagtenfahrzeuges aus diesem Grunde unabwendbar war. Vielmehr ist bei der somit nach § 17 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung unter Berücksichtigung der jeweiligen zugestandenen oder erwiesenen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge insgesamt von einem unaufgeklärten Unfallverlauf auszugehen, so dass jeweils nur die Betriebsgefahr bei der Abwägung zu berücksichtigen ist. Eine weitere Aufklärung des Unfallgeschehens ist nicht zu erwarten. Weder der Geschäftsführer der Beklagten zu 2. noch der Zeuge W. haben zum eigentlichen Unfallhergang konkrete Angaben machen können. Die weiteren Zeugen Gr. und G. konnten mangels ladungsfähiger Anschrift nicht geladen werden. Nachdem die Parteien im Termin vom 21.09.2004 übereinstimmend auf die Vernehmung der Zeugen G. und Gr. “zunächst” verzichtet haben (vgl. Bl. 146 GA), sind sie nach Vorliegen des Sachverständigengutachtens auf die ausstehenden Zeugenvernehmungen nicht mehr zurückgekommen, so dass von einem konkludenten Verzicht auf die weitere Durchführung der Beweisaufnahme auszugehen ist. Auch im Rahmen der Erörterung der Sach- und Rechtslage im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Beklagtenvertreter nicht zu erkennen gegeben, dass er auf der Vernehmung der Zeugen G. und Gr. besteht. Einer weiteren Fristsetzung gem. § 356 ZPO zur Mitteilung der ladungsfähigen Anschrift der Zeugen bedurfte es aus diesem Grunde nicht.
b) Der Senat bewertet die jeweiligen Verursachungsbeiträge im vorliegenden Fall mit 2/3 : 1/3 zulasten der Beklagten. Auf Seiten der Beklagten ist im Rahmen der Abwägung lediglich die Betriebsgefahr des Sattelzuges anzusetzen, da ein ursächlicher schuldhafter Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1. nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht feststeht. Dabei ist die Betriebsgefahr des Sattelzuges aufgrund der Überbreite und der Überlänge des Fahrzeuges und des Umstandes, dass er nur aufgrund einer Ausnahmegenehmigung im öffentlichen Verkehr eingesetzt werden durfte, im Vergleich zum Fahrzeug der Klägerin als erhöht anzusehen. Ein schuldhaftes Fehlverhalten des Geschäftsführers der Klägerin, welches die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeuges erhöht, liegt nicht vor. Weder ein Verstoß gegen § 2 Abs. 2 StVO noch gegen § 3 Abs. 1 StVO ist erwiesen. Zwar steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass das Klägerfahrzeug nicht am äußersten Fahrbahnrand gefahren sein kann, da anderenfalls ein Ausschwenken des Sattelanhängers von etwa 1,50 m erforderlich gewesen wäre, um eine Kollision zu ermöglichen. Es lässt sich jedoch gerade nicht mehr feststellen, wo genau die Kollision stattgefunden hat und in welchem Abstand zur Mittellinie sich das Fahrzeug der Klägerin befunden hat, so dass auch ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot, für deren Einhaltung es in der Regel genügt, wenn auch in unübersichtlichen Kurven ein Abstand von mindestens 50 cm zur Mittellinie eingehalten wird (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht 38. Aufl., § 2 StVO, Rn. 35), nicht feststeht. Vielmehr deutet die Aussage des Zeugen W. darauf hin, dass das Klägerfahrzeug, nachdem es zunächst nahe der Mittellinie gefahren ist, wieder auf die rechte Fahrbahnseite eingeschert ist. Schließlich steht auch nicht eindeutig fest, dass der damalige Geschäftsführer der Klägerin im Hinblick darauf, dass ihm ein Konvoi aus mehreren Fahrzeugen mit Überlänge entgegenkam, der zudem mit gelben Rundumleuchten ausgestattet war, mit unangepasster Geschwindigkeit gefahren ist. Zwar haben die im Bußgeldverfahren befragten Zeugen übereinstimmend angegeben, das Klägerfahrzeug sei mit hoher bzw. überhöhter Geschwindigkeit entgegengekommen. Feststehende Angaben zur Höhe der Geschwindigkeit des Klägerfahrzeuges, die im Rahmen einer Haftungsabwägung zugrunde gelegt werden können, können jedoch im Nachhinein nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mehr rekonstruiert werden. Soweit der damalige Geschäftsführer der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht angegeben hat, er sei die Kurve mit einer Geschwindigkeit von ca. 80 - 90 km/h durchfahren, können diese Angaben, da es sich lediglich um eine Schätzung handelt, nicht zugrunde gelegt werden. Darüber hinaus steht nicht fest, dass eine etwaige nicht angepasste Geschwindigkeit im Streitfall tatsächlich ursächlich für den Zusammenstoß geworden ist.
Ausgehend von dem zwischen den Parteien der Höhe nach unstreitigen Schaden von 25.574,42 € ergibt sich auf der Basis einer Haftung von 2/3 : 1/3 ein Schadensersatzanspruch der Klägerin in Höhe von 17.049,61 €. Die Beklagten sind dem Vorbringen der Klägerin, das von der Beklagten zu 3. übermittelte Restwertangebot von 6.500,00 € habe nicht mehr berücksichtigt werden können, weil zu diesem Zeitpunkt bereits ein Kaufvertrag zu einem Kaufpreis von 5.000,00 € brutto abgeschlossen gewesen sei, nicht mehr entgegengetreten. Das Gleiche gilt für die von der Klägerin behauptete Rückabtretung der Kosten des Sachverständigenbüros vom 14.08.2003 (Bl. 89 GA).
3. Der geltend gemachte Zinsanspruch ist aus §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2 BGB begründet.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Soweit die Klägerin Schadensersatz auf der Basis einer Mithaftung von 30 % geltend gemacht hat, handelt es sich um eine geringfügige Zuvielforderung, die keine höheren Kosten verursacht hat.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen. Im Hinblick darauf, dass die vorliegende Entscheidung einen Einzelfall betrifft, hat der Rechtsstreit weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs als Revisionsgericht.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gem. § 3 ZPO i.V.m. § 47 Abs. 1 S. 1 GKG auf 17.902,09 € festgesetzt.