Das Verkehrslexikon
Landgericht Saarbrücken Urteil vom 09.07.2010 - 13 S 46/10 - Zu den Sorgfaltspflichten bei der Vorbeifahrt an einem parkenden PKW
LG Saarbrücken v. 09.07.2010: Zu den Anforderungen an den einzuhaltenden seitlichen Sicherheitsabstand beim Vorbeifahren an einem parkenden Pkw
Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 09.07.2010 - 13 S 46/10) hat entschieden:
Kommt es im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Aussteigen zu einem Verkehrsunfall, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Aussteigende die ihm hiernach gebotenen gesetzlichen Sorgfaltspflichten verletzt hat. Ist die Fahrzeugtür im Zeitpunkt der Kollision zwischen 25 und 60 cm geöffnet, kann bei einem Vorbeifahren im Abstand von nur 60 cm ein Mithaftungsumstand gesehen werden, auch wenn es einen allgemeinen Grundsatz, wonach generell die Einhaltung eines Sicherheitsabstandes von 1 m geboten ist, nicht gibt.
Gründe:
I.
Der Kläger macht Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am ... gegen 13.00 Uhr in der ... in ... ereignete.
Der Kläger öffnete die Fahrertür seines am rechten Fahrbahnrand fast vollständig auf dem Bürgersteig stehenden Pkw. Der Erstbeklagte fuhr mit seinem bei der Zweitbeklagten versicherten Pkw am Fahrzeug des Klägers vorbei. Dabei kam es zur Kollision, wobei die Umstände der Kollision im Einzelnen streitig sind.
Der Kläger hat behauptet, er habe die Tür bereits vor Annäherung des Erstbeklagten maximal 20 bis 25 cm weit geöffnet um auszusteigen. Der Erstbeklagte habe keinen ausreichenden Seitenabstand eingehalten.
Erstinstanzlich hat der Kläger die Hälfte seines Schadens, bestehend aus Sachschaden (1.140,96 €), Sachverständigenkosten (235,86 €) und Unkostenpauschale (25,00 €), insgesamt 700,91 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten geltend gemacht.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie haben behauptet, der Kläger habe die Fahrertür geöffnet, als sich der Erstbeklagte auf gleicher Höhe befunden habe. Der Erstbeklagte habe einen Seitenabstand von 1 bis 1,5 m eingehalten.
Das Erstgericht, auf dessen Feststellungen Bezug genommen wird, hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen ... und ... sowie durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Daraufhin hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe gegen § 14 Abs. 1 StVO verstoßen. Es sei ihm nicht gelungen, den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis zu widerlegen und einen Verkehrsverstoß des Erstbeklagten nachzuweisen. Der Seitenabstand des Erstbeklagten habe zwischen 25 und 60 cm gelegen. Dieser Abstand sei ausreichend gewesen, da der Erstbeklagte nicht damit habe rechnen müssen, dass aus dem klägerischen Fahrzeug eine Person aussteige. Der Unfall sei für den Erstbeklagten zwar nicht unabwendbar gewesen. Seine Betriebsgefahr trete jedoch gegenüber dem überwiegenden Verkehrsverstoß des Klägers zurück.
Mit seiner hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Klagebegehren in vollem Umfang weiter. Er beanstandet, das Erstgericht habe die Angemessenheit des Sicherheitsabstandes falsch bewertet. Ferner habe das Gericht zu Unrecht angenommen, für den Erstbeklagten habe keine Veranlassung für die Mutmaßung bestanden, dass jemand aus dem Klägerfahrzeug aussteigen werde. Denn in dem Pkw seien Personen in der Annäherungsphase für den Erstbeklagten zu sehen gewesen.
Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch nur in dem tenorierten Umfang begründet. Der Kläger hat 70 % des ihm entstandenen Schadens selbst zu tragen.
1. Zu Recht ist das Erstgericht zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Beklagten als auch der Kläger grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7,18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) n.F. einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der Beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des §§ 17 Abs. 3 StVG darstellte.
2. Ohne Erfolg wendet sich die Berufung dagegen, dass das Erstgericht einen Verstoß des Klägers gegen § 14 Abs. 1 StVO angenommen hat.
a) Soweit der Erstrichter in tatsächlicher Hinsicht festgestellt hat, dass die Fahrertür am Klägerfahrzeug nicht bereits längere Zeit geöffnet gewesen sei, als sich der Erstbeklagte der Unfallstelle annäherte, begegnet dies keinen Bedenken.
In tatsächlicher Hinsicht ist das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder objektivierbare, rechtliche und tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloße subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (vgl. BGHZ 164, 330, 332 m.w.N.).
Konkrete Anhaltpunkte, die solche Zweifel begründen und eine erneute Feststellung gebieten könnten, liegen nicht vor. In seiner Beweiswürdigung hat sich der Erstrichter vielmehr entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt, ohne gegen Denk- oder Erfahrungssätze zu verstoßen, und dabei insbesondere auch die Glaubhaftigkeit der Zeugenbekundungen nachvollziehbar gewürdigt.
b) Fehlerfrei hat das Erstgericht angenommen, dass unter diesen Umständen der Beweis des ersten Anscheins für eine fahrlässige Verletzung von § 14 Abs. 1 StVO spricht. Danach muss, wer aussteigt, sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, d.h. der Aussteigende muss im Hinblick auf die besondere Gefährlichkeit des Aussteigens höchste Sorgfalt anwenden. Kommt es im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Aussteigen zu einem Verkehrsunfall, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Aussteigende die ihm hiernach gebotenen gesetzlichen Sorgfaltspflichten verletzt hat (KG DAR 2004, 585; OLG Hamm MDR 2000, 82 f; Urteile der Kammer vom 03. November 2006 – 13A S 24/06 – und vom 10. Juli 2009 – 13 S 152/09; Hinweisbeschluss der Kammer vom 28. Januar 2010 – 13 S 228/09).
Dem Kläger ist es vorliegend auch nicht gelungen, diesen Anscheinsbeweis zu entkräften. Der Anscheinsbeweis kann entkräftet werden, wenn der Gegner des Beweisbelasteten Umstände nachweist, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs ergibt (BGH, Urteil vom 11. Oktober 1983 – VI ZR 141/82 – VersR 1984, 44; Urteil vom 30. Oktober 1985 – IV a ZR 10/84 – VersR 70, 125 ff.). Angesichts der gesteigerten Sorgfaltspflichten, denen der Aussteigende nach § 14 Abs. 1 StVO genügen muss, genügt es zur Erschütterung des Anscheinsbeweises im Rahmen von § 14 Abs. 1 nicht, konkrete Tatsachen zu beweisen, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, dass die Kollision durch die Einhaltung eines zu geringen Mindestabstandes des anderen Unfallbeteiligten wenigstens mit verursacht worden sein kann. Denn selbst bei Unterschreitung des gebotenen Mindestabstandes durch den Vorbeifahrenden hat der Aussteigende eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer typischerweise nicht ausgeschlossen, wenn es im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Öffnen der Tür zur Kollision kommt. Denn das – auch nur geringfügige – Öffnen der Tür ohne vorherige ausreichende Rückschau ist grundsätzlich unzulässig (BGH, Urteil vom 24. Februar 1981 – VI ZR 297/79 – DAR 1981, 148). Sonstige Tatsachen, aufgrund derer es ernsthaft als möglich erschiene, dass der Kläger den Anforderungen des § 14 Abs. 1 StVO genügt haben könnte, sind nicht erkennbar.
3. Der Erstbeklagte hat den Unfall jedoch – entgegen der Auffassung des Erstgerichts – durch ein pflichtwidriges Unterschreiten des gebotenen Sicherheitsabstandes mit verursacht.
a) Fehlerfrei und zweitinstanzlich unangegriffen hat das Erstgericht festgestellt, dass die Tür des klägerischen Fahrzeugs im Zeitpunkt der Kollision zwischen 25 und 60 cm geöffnet war, wobei sich aus den Lichtbildern des Gutachtens des Sachverständigen ..., auf die sich die Feststellungen des Erstgerichts stützen, erkennen lässt, dass der Seitenabstand ohne Berücksichtigung der Außenspiegel zwischen den Seitenwänden der beiden Fahrzeuge ermittelt wurde. Nach dem unbestritten gebliebenen zweitinstanzlichen Vortrag des Klägers waren die in dem klägerischen Fahrzeug sitzenden Personen für den Erstbeklagten in der Annäherung auch erkennbar.
b) Unter Berücksichtigung dieser Umstände und der örtlichen Gegebenheiten war die Einhaltung eines Seitenabstandes von 60 cm dann nicht ausreichend.
aa) Aus § 1 Abs. 2 StVO folgt, dass beim Vorbeifahren an parkenden Fahrzeugen ein ausreichender Sicherheitsabstand einzuhalten ist. Welcher Sicherheitsabstand jeweils ausreichend ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Bei der Bemessung des ausreichenden Seitenabstandes darf der fließende Verkehr nicht darauf vertrauen, dass die gesteigerte Sorgfaltspflicht, die § 14 Abs. 1 StVO verlangt, allgemein beachtet wird (vgl. KG DAR 1975, 290; Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl. Kap. 27 Rdn. 384). Grundsätzlich muss der Abstand deshalb regelmäßig so bemessen sein, dass ein geringfügiges Öffnen der Wagentür noch möglich bleibt (vgl. BGH Urteil vom 16. September 1986 – VI ZR 151/85 – VersR 1986, 1231 ff.; Geigel/Zieres a.a.O. Kap. 27 Rdn. 384; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. § 2 StVO Rdn. 41; Urteil der Kammer vom 10. Juli 2009 – 13 S 152/09; Hinweisbeschluss der Kammer vom 28. Januar 2010 – 13 S 228/09). Dies gilt in besonderem Maße, wenn der Fahrer nach den Umständen des Falles mit einem Öffnen der Tür rechnen muss. Hingegen muss der Fahrer nicht mit einem weiten Öffnen der Tür in einem Zug rechnen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Februar 1981 – VI ZR 297/79 – VersR 1981, 533; KG NZV 2006, 258; Geigel/Zieres aaO Kap. 27 Rdn. 384). Begrenzt wird das Gebot zur Einhaltung des angemessenen Sicherheitsanstandes darüber hinaus durch das Rechtsfahrgebot (§ 2 Abs. 2 StVO) sowie das Gebot, entgegenkommenden Verkehr nicht zu gefährden oder zu behindern. Einen allgemeinen Grundsatz, wonach generell die Einhaltung eines Sicherheitsabstandes von 1 m geboten ist, gibt es nicht (vgl. etwa auch Hentschel/König/Dauer aaO § 2 StVO Rdn. 41; Hinweisbeschluss der Kammer vom 28. Januar 2010 – 13 S 228/09).
bb) Unter den hier gegebenen Umständen erachtet die Kammer einen nachgewiesenen Seitenabstand von höchstens 60 cm nicht als ausreichend.
Ausweislich der in dem Gutachten des Sachverständigen ... wiedergegebenen Lichtbilder von der Unfallstelle handelt es sich bei der ... um eine vergleichsweise breite Straße, deren Durchfahrt durch den klägerischen Pkw nur geringfügig verengt war, da sich dieser unstreitig fast vollständig auf dem Bürgersteig befand. Unter diesen Umständen wäre dem Erstbeklagten die Einhaltung eines deutlich größeren Seitenabstandes als 60 cm auch unter Wahrung des Rechtsfahrgebotes (§ 2 Abs. 2 StVO) ohne Weiteres möglich gewesen. Der Erstbeklagte hätte einen entsprechend größeren Sicherheitsabstand auch einhalten müssen, da er aufgrund der Parksituation halb auf dem Bürgersteig und der in dem Fahrzeug erkennbaren Personen mit der Möglichkeit rechnen musste, dass die Tür geöffnet werden könnte.
Diese Bewertung steht auch nicht in Widerspruch zu der Entscheidung in dem Verfahren 13 S 228/09 (vgl. Hinweisbeschluss der Kammer vom 28. Januar 2010 – 13 S 228/09), in dem die Kammer einen Seitenabstand von 60 bis 65 cm als ausreichend angesehen hat. Denn unter den dort zu beurteilenden Umständen eines Unfalls, der sich an einem Sonntag im August bei schönem Wetter in der Straße ... ereignet hatte, war angesichts des hohen Verkehrsaufkommens und unter Berücksichtigung der Durchfahrbreite, die aufgrund der am Fahrbahnrand parkenden Fahrzeuge verblieb, die Einhaltung eines größeren als des eingehaltenen Sicherheitsabstandes nicht geboten.
4. Im Rahmen der hiernach vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und -verschuldensanteile hat der Kläger 70 % seines Schadens selbst zu tragen. Zwar trifft den Erstbeklagten ein Mitverschulden, das nach seinem Gewicht hinter dem Sorgfaltsverstoß des Klägers nicht völlig zurückzutreten vermag. Der Verstoß des Klägers gegen die gesteigerten Sorgfaltspflichten nach § 14 Abs. 1 StVO überwiegt jedoch und gebietet eine Mithaftung im tenorierten Umfang.
5. Ersatzfähig sind neben den Gutachterkosten und der Unkostenpauschale gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB allerdings lediglich die Netto-Reparaturkosten, da der Kläger – auch auf den Hinweis der Beklagtenseite hin – nicht dargelegt hat, dass die Mehrwertsteuer angefallen wäre. Danach kann der Kläger (958,79 € + 235,86 € + 25,00 €) x 0,3 = 365,90 € beanspruchen.
6. Gemäß §§ 288 Abs. 1, 286 Abs. 1 Satz 1 BGB schulden die Beklagten hieraus auch seit Ablauf der mit dem Schreiben vom 21. Oktober 2008 gesetzten Frist zur Schadensregulierung Verzugszinsen in geltend gemachter Höhe. Ferner kann der Kläger gemäß § 257 BGB die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten aus der berechtigten Hauptforderung nach §§ 2, 13 RVG, Nrn. 2400, 7002, 7008 VVRVG in Höhe von 1,3 x 45,00 € = 58,50 € + 20,00 € (Pauschale) + 14,92 € (Umsatzsteuer) = 93,42 € verlangen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).