Das Verkehrslexikon

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Amtsgericht Hamburg-St. Georg Urteil vom 08.12.2010 - 917 C 166/10 - Zur Kollision zwischen einem vom Fahrbahnrand Anfahrenden und einem in die Parklücke Einfahrenden

AG Hamburg-St. Georg v. 08.12.2010: Zur Kollision zwischen einem vom Fahrbahnrand Anfahrenden und einem in die Parklücke Einfahrenden


Das Amtsgericht Hamburg-St. Georg (Urteil vom 08.12.2010 - 917 C 166/10) hat entschieden:
Die besonderen Sorgfaltspflichten des § 10 StVO dienen dem Schutz des gesamten fließenden Verkehrs, also auch den aus dem fließenden Verkehr in eine Parklücke Einfahrenden. Kommt es zwischen diesem und einem aus einer Parklücke vom Fahrbahnrand Anfahrenden zum Unfall, haftet der die Parklücke Verlassende voll.


Tatbestand:

Der Kläger begehrt von den Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 1.3.2010 gegen 14.30 Uhr in der H. Landstraße in Höhe Hausnummer ... in Hamburg ereignet hat. Die Beklagte zu 1. war Fahrerin und ist Halterin des unfallbeteiligten Fahrzeugs mit dem Kennzeichen ..., das bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversichert ist. Der Kläger befand sich im Zeitpunkt des Unfall mit seinem Fahrzeug in dem rechtsseitigen Parkstreifen der H. Landstraße. Er hatte den Motor angelassen und war im Fahrstreifen vorgerollt – wie weit, ist streitig –, als es zur Kollision seines Fahrzeugs, und zwar mit dessen vorderer linker Ecke, mit dem von der Beklagten zu 1. gesteuerten Fahrzeug auf der rechten Beifahrerseite kam. Die Beklagte zu 1. ihrerseits war aus dem fließenden Verkehr kommend und rechts blinkend schräg in die freie Parklücke auf dem Parkstreifen vor dem Fahrzeug des Klägers eingefahren. Der Kläger selbst hatte den Blinker noch nicht gesetzt. Im Zeitpunkt der Kollision befand sich der Kläger mit seinem Fahrzeug noch vollständig im Parkstreifen.

Durch die Kollision entstand am Fahrzeug des Klägers ein Sachschaden in Höhe von EURO 1.113,76, den der Kläger mit seinem Antrag zu 1., zuzüglich einer Kostenpauschale von 20,00 EURO, geltend macht. Ferner verlangt der Kläger Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

Der Kläger behauptet, er sei lediglich 10 oder 20 Zentimeter im Parkstreifen vorgerollt. Die Beklagte zu 1. sei mit hoher Geschwindigkeit in die vor ihm frei Parklücke eingefahren, so dass sie in Schrägstellung mit beiden Vorderrädern auf dem Kantstein zum Stillstand gekommen sei.

Nach Rücknahme eines Teils des Zinsanspruches beantragt der Kläger,
die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an den Kläger 1.133,76 EURO nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 8.3.2010 sowie weitere EURO 155,30 vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3.8.2010 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie behaupten, die Beklagte zu 1. sei in ausreichendem Abstand zum Kläger nach rechts in den Parkstreifen eingefahren, und an den Schäden von der Beifahrertür bis zum hinteren Radlauf an ihrem Fahrzeug sei zu erkennen, dass der Kläger nicht nur 10-20 Zentimeter angerollt sei.

Wegen des weiteren Parteivortrages wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin ... über den Hergang des Verkehrsunfalls. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.11.2010 Bezug genommen. In diesem Termin sind ferner der Kläger und die Beklagte zu 1. persönlich angehört worden.


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Schadensersatz gegen die Beklagten gemäß den §§ 823 I BGB, 7 I, 18 StVG, 115 VVG.

Der Verkehrsunfall hat sich sowohl bei Betrieb des Fahrzeugs des Klägers, als auch beim Betrieb des von der Beklagten zu 1. gefahrenen Fahrzeugs ereignet. Da für eine Unvermeidbarkeit des Unfalls für einen der Unfallbeteiligten keine Anhaltspunkte bestehen, sind die beiderseitigen Verursachungsbeiträge gem. § 17 StVG gegeneinander abzuwägen. Bei Vornahme dieser Abwägung gelangt das Gericht zu einer hundertprozentigen Haftung des Klägers für den Verkehrsunfall. Zu Lasten des Klägers greift nämlich der Anscheinsbeweis des § 10 StVO ein. Unstreitig hat sich der Unfall in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem vom Kläger bereits begonnenen, wenn auch noch nicht weit fortgeschrittenen Einfahrmanöver von dem Parkstreifen in die Straße ereignet. Dass sich das Fahrzeug des Klägers noch vollständig im Parkstreifen befunden hat, und dieser- seine eigenen Angaben zufolge – lediglich etwa 10-20 Zentimeter in Vorwärtsfahrt gewesen ist, hindert das Eingreifens dieses Anscheinstatbestandes nicht, weil sich bereits zu Beginn des Fahrmanövers das erhöhte Gefährdungspotential eines solchen Einfahrvorgangs verwirklichen kann, was hier auch geschehen ist. Zu berücksichtigen ist dabei nämlich, dass der Schutzbereich des § 10 StVO den gesamten fließenden Fahrbahnverkehr erfasst, der Vorrang gegenüber den Benutzern nicht zur Fahrbahn gehörender Flächen hat. Ob das im fließenden Verkehr befindliche Fahrzeug seinerseits weiterfahren oder alsbald halten oder parken will, ist hierfür unerheblich, desgleichen, ob das im fließenden Verkehr befindliche Fahrzeug seinerseits in das Grundstück einfährt, aus dem der Wartepflichtige ausfahren will (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, § 10 StVO, Randnr. 8 m. w. N.). Angesichts dessen, dass die den Parkvorgang einleitende Beklagte zu 1. noch dem fließenden Verkehr zuzurechnen ist, hat sich durch das Fahren auch im Parkstreifen eben das Gefährdungspotential verwirklicht, das dem Ausparkmanöver inne wohnt. Hinzu kommt, dass der Kläger seinem eigenen Bekunden nach noch nicht den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hatte, so dass es für die Beklagte zu 1., die sich im fließenden Verkehr befand, noch nicht erkennbar war, dass der Kläger sich mit seinem Fahrzeug nach vorne bewegen würde.

Der Kläger hat nicht bewiesen, dass sich die seinem Fahrmanöver typischerweise inne wohnende erhöhte Verkehrsgefährdung nicht verwirklicht hat. Insbesondere hat er nicht bewiesen, dass die Beklagte etwa mit überhöhter Geschwindigkeit in die freie Parklücke vor seinem Fahrzeug eingefahren wäre. Zwar hat die Zeugin ... dies zumindest ansatzweise bekundet, dem ist jedoch die Beklagte zu 1. ausdrücklich entgegen getreten. Bei diesem widersprechenden Aussagen, wobei der Aussage der Zeugin ... als Beifahrerin im Fahrzeug des Klägers kein höherer Beweiswert zukommt, als derjenige, der den Angaben der Beklagten zu 1. beizulegen ist, ist der Beweis einer überhöhten Geschwindigkeit nicht geführt. Abgesehen davon ist ein zügiges Einfahren schon aus Rücksichtnahme gegenüber dem fließenden Verkehr geboten, wie sich unschwer § 9 StVO entnehmen lässt.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist zu Lasten der Beklagten auch kein Verstoß der Beklagten zu 1. gegen § 9 V StVO in die Abwägung einzubeziehen. Auch wenn es sich bei dem Parkstreifen um ein Grundstück im Sinne dieser Vorschrift handeln sollte, fällt der Kläger nicht in dessen Schutzbereich. § 9 V StVO dient dem Schutz des fließenden Verkehrs, nicht auch dem der Verkehrsteilnehmer auf dem Grundstück, in das abgebogen wird (vgl. Hentschel, a. a. O., § 9 StVO, Randnr. 44 m. w. N.).

Damit bleibt es bei dem alleinig feststehenden Verstoß des Klägers gegen § 10 I StVO. Angesichts des Gewichts des Verursachungsbeitrages tritt die allgemeine Betriebsgefahr des von der Beklagten zu 1. gefahrenen Fahrzeugs vollständig zurück, angesichts nicht feststehender Verursachungsbeiträge ist die von dem Fahrzeug allein ausgehende Betriebsgefahr derart gering, dass eine darauf basierende anteilige Mithaftung nicht gerechtfertigt ist.

Mangels Hauptanspruches entfällt auch ein Anspruch auf die Nebenforderungen.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 708 Nr. 11, 711 ZPO.