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Amtsgericht Göttingen Urteil vom 07.05.2009 - 18 C 8/09 - Zur Haftung bei einem Unfall beim Einfahren auf die Autobahn
AG Göttingen v. 07.05.2009: Zur Haftung bei einem Unfall beim Einfahren auf die Autobahn
Das Amtsgericht Göttingen (Urteil vom 07.05.2009 - 18 C 8/09) hat entschieden:
Nach § 18 Abs. 3 StVO hat auf Autobahnen und Kraftfahrtstraßen der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt. Auf die Beachtung dieser Regelung darf der Benutzer der durchgehenden Fahrbahn auch vertrauen. Der einfahrende Verkehr ist wartepflichtig und darf nur so einfahren, dass er den durchfahrenden Verkehr nicht gefährdet oder behindert. Alle Einfahrenden müssen sich mit äußerster Sorgfalt eingliedern (OLG Köln, Urteil vom 24.10.2005, Aktenzeichen 16 U 24/05). Gegen den Einfahrenden spricht bei einem Unfall der Anscheinsbeweis.
Tatbestand:
Die Parteien streiten um Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 11.09.2008 gegen 12:55 Uhr auf der A7 Richtung Norden bei Kilometer 264,25 ereignete.
Der Beklagte zu 1) befuhr an diesem Tag mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Sattelschlepper, amtliches Kennzeichen ..., die rechte Fahrspur der BAB A7 in Richtung Norden. Es herrschte zu diesem Zeitpunkt Stau in der Gestalt, dass die Kraftfahrzeuge immer wieder meterweise vorrücken konnten und sodann aufgrund des stauenden Verkehrs wieder abbremsen mussten (Stop-and-Go).
Der Kläger wollte mit seinem PKW, amtliches Kennzeichen ..., an der Anschlussstelle Göttingen-Nord auf die A7 in gleicher Richtung auffahren.
Beim Einfädeln auf die Autobahn kam es dann zu einem Zusammenstoß zwischen dem Kläger und dem Beklagten zu 1). Der Beklagte zu 1) fuhr dabei das klägerische Fahrzeug an, als dieses sich teilweise bereits auf der rechten Fahrspur der A7 und teilweise noch auf der Beschleunigungsspur befand. Dabei fuhr der Sattelschlepper des Beklagten zu 1) das klägerische Fahrzeug zunächst auf der linken Seite hinter der B-Säule an. Sodann fuhr der Beklagte zu 1) den PKW des Klägers erneut an. Die genauen Umstände des Unfalls sind zwischen den Parteien streitig. Der klägerische PKW wurde bei diesem Unfall an der linken Seite, ungefähr bis zur Höhe der hinteren Tür beschädigt. Dem Kläger entstand durch den Unfall ein Gesamtschaden in Höhe von 5.382,68 EUR. Die Beklagte zu 2) regulierte hierauf einen Betrag in Höhe von 2.688,84 EUR. Der Kläger macht einen Restbetrag in Höhe von 1.617,30 EUR mit der Klage geltend. Weiter verlangt der Kläger Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltsgebühren in Höhe von 229,55 EUR.
Der Kläger ist der Auffassung, den Beklagten zu 1) treffe eine Haftungsquote von 80 %, da den Anfahrenden eine besondere Pflicht treffe sich zu vergewissern, dass er niemanden gefährdet. Hiergegen habe der Beklagte zu 1) verstoßen. Hierzu behauptet er, der Beklagte zu 1) habe ihm zunächst eine große Lücke zum Einfädeln gelassen. Der vor dem Beklagten zu 1) befindliche Wohnwagen sei angefahren, während der Beklagte zu 1) stehen geblieben sei. Daraufhin habe der Kläger angenommen, dass dieser ihn einfädeln lassen wolle.
Der Kläger beantragt,
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 1.617,30 EUR nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- Die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, den Kläger von dem Vergütungsanspruch der Rechtsanwälte N & R, ... in Höhe von 229,55 EUR nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten sind der Auffassung, eine Haftungsquote von 50 % sei angemessen, da der Kläger gegen § 18 Abs. 3 StVO verstoßen habe. Hierzu behaupten sie, der Beklagte zu 1) habe den Kläger überhaupt nicht wahrgenommen, als dieser eingefädelt habe. Aufgrund des toten Winkels habe er diesen auch gar nicht wahrnehmen können. Dementsprechend habe der Beklagte zu 1) den Kläger auch nicht einfädeln lassen. Dieser habe sich vielmehr in eine nicht ausreichend große Lücke gedrängelt.
Die Bußgeldakte der Stadt Göttingen, Aktenzeichen 567.16.887931.8 ist zu Beweiszwecken beigezogen worden.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die grundsätzlich gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten gemäß den §§ 18 Abs. 1 StVG, 823 Abs. 1 BGB i. V. m. 115 VVG ist ausgeschlossen, da gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG nicht bewiesen ist, dass der Unfall ausschließlich oder zumindest überwiegend von dem Beklagten zu 1) verursacht worden ist, so dass eine Haftungsquote des Beklagten zu 1) über die von der Beklagten zu 2) regulierten 50 % hinaus nicht sachgerecht erscheint.
Grundsätzlich ist dann, wenn die Verursachung des Unfalls durch einen Beteiligten derart schwer ins Gewicht fällt, dass die Verursachung durch den anderen Teil dahinter zurücksteht, der Schaden der einen Seite insgesamt aufzuerlegen. Dabei dürfen nur solche Umstände berücksichtigt werden, die feststehen, also unstreitig, zugestanden oder bewiesen sind (BGH, Urteil vom 26.04.2005 Aktenzeichen VI ZR 168/04, NJW 2005, 2081).
Entscheidend hängt demnach die Beurteilung davon ab, inwieweit beide Fahrzeugführer den Unfall verschuldet haben. Der Kläger kann sich insoweit nicht erfolgreich darauf berufen, der Beklagte zu 1) habe es derart an der erforderlichen Aufmerksamkeit gemäß § 1 Abs. 2 StVO fehlen lassen, dass sich daraus ein alleiniges oder zumindest überwiegendes Verschulden des Beklagten zu 1) ergibt.
Dies steht zur Überzeugung des Gerichts schon deshalb nicht fest, da hier zumindest der erste Anschein für einen Verstoß des Klägers gegen § 18 Abs. 3 StVO spricht. Nach dieser Vorschrift hat auf Autobahnen und Kraftfahrtstraßen der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt. Auf die Beachtung dieser Regelung darf der Benutzer der durchgehenden Fahrbahn auch vertrauen. Der einfahrende Verkehr ist wartepflichtig und darf nur so einfahren, dass er den durchfahrenden Verkehr nicht gefährdet oder behindert. Alle Einfahrenden müssen sich mit äußerster Sorgfalt eingliedern (OLG Köln, Urteil vom 24.10.2005, Aktenzeichen 16 U 24/05, zitiert nach Juris).
Diesen Anscheinsbeweis hat der Kläger nicht entkräftet. Seine Behauptung, dass zwischen dem LKW des Beklagten zu 1) und dem vorausfahrenden PKW ein ausreichend großer Abstand bestanden habe und der Unfall nur dadurch entstanden sei, dass der Beklagte zu 1) dann "vergessen" habe, dass der Kläger sich vor ihm eingeordnet hatte, ist nicht bewiesen. Für sie spricht nur die vom Kläger selbst im Rahmen seiner Anhörung geschilderte Unfalldarstellung, der jedoch der anders lautende ebenfalls plausible Sachvortrag der Beklagten entgegensteht, der Beklagte zu 1) habe den Kläger nicht wahrgenommen.
Entgegen der Auffassung des Klägers setzt sich der Beklagte zu 1) auch nicht in Widerspruch zu seiner Bekundung im polizeilichen Ermittlungsverfahren. Der Beklagte zu 1) hat hier zwar bekundet, er habe den Kläger auf der Auffahrt gesehen, dann habe er jedoch nicht gesehen, wie er sich unmittelbar vor ihm eingeordnet habe. Eine Verpflichtung des vorfahrtberechtigten Verkehrs, den nachrangigen Verkehr (auf dem Beschleunigungsstreifen) ständig zu beobachten, existiert jedoch nicht, da der bevorrechtigte Verkehr eben gerade auf sein Vorrecht vertrauen kann.
Für die Aussage des Beklagten zu 1), er habe gar nicht bemerkt, dass das klägerische Fahrzeug unmittelbar vor ihm versucht habe einzufädeln, spricht, dass er mit seinem Sattelschlepper nach der ersten Berührung des klägerischen Fahrzeugs nochmals angefahren ist. Es ist wenig wahrscheinlich, dass er dies gemacht hätte, wenn er den ersten Anstoß bereits bemerkt hätte.
Schließlich spricht auch das Schadensbild am klägerischen PKW gegen die Darstellung des Klägers. Wäre nämlich eine ausreichend große Lücke zum Einfädeln vorhanden gewesen, so wäre der Beklagte zu 1) nicht auf die linke hintere Seite des klägerischen Fahrzeugs aufgefahren, sondern auf dessen Heck. Die Klage war demnach insgesamt als unbegründet abzuweisen.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 708 Nr. 11, 711 ZPO.