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Kammergericht Berlin Beschluss vom 14.06.2007 - 12 U 98/06 - Zur Haftung bei einem Unfall beim Einfahren in die Autobahn

KG Berlin v. 14.06.2007: Zur Haftung bei einem Unfall beim Einfahren in die Autobahn


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 14.06.2007 - 12 U 98/06) hat entschieden:
  1. Ein in eine Autobahn einfahrender Verkehrsteilnehmer hat dem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt zu gewähren (§ 18 Abs.3 StVO); er muss dazu den Verkehr auf der Autobahn beobachten und den Beschleunigungsstreifen so ausnutzen, dass ihm ein entsprechender Kontrollblick möglich ist.

  2. Der bevorrechtigte Verkehrsteilnehmer darf auf die Beachtung seiner Vorfahrt vertrauen.

  3. Kommt es in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einer Vorfahrtverletzung zu einem Unfall, hat der Wartepflichtige den Anschein schuldhafter Vorfahrtverletzung gegen sich mit der Folge, dass er regelmäßig den gesamten Schaden zu tragen hat.

  4. Eine Schadensteilung kommt dann in Betracht, wenn der Bevorrechtigte den Unfall hätte vermeiden können.

Gründe:

Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg.

A.

Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung erfolgreich nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO) oder nach § 529 ZPO zu Grunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

B.

Beides ist hier nicht der Fall. Die angefochtene Entscheidung ist jedenfalls im Ergebnis richtig: Eine über die zuerkannte Quote von zwei Dritteln hinausgehende Haftung der Beklagten für die Schäden des Klägers aus dem Unfall vom 8. März 2004 im Bereich der Autobahneinfahrt Siemensdamm auf dem Stadtring in Berlin ist nicht gerechtfertigt.

I.

Zu Recht weist der Kläger in der Berufungsbegründung allerdings darauf hin, dass das Landgericht unzutreffend im Tatbestand auf Seite 2 des angefochtenen Urteils eine Kollision der Fahrzeuge bei einem bereits durchgeführten Einfädelvorgang des Beklagtenfahrzeuges in den fließenden Verkehr auf der Autobahn in Richtung Süden als unstreitig angesehen hat.

Der genaue Ort der Kollision war und ist nämlich zwischen den Parteien streitig.

Bereits nach der Unfallschilderung in der Klageschrift soll der Beklagte zu 1) mit dem Reisebus (nach vorheriger Missachtung einer Sperrung des rechten Autobahnfahrstreifens durch eine Balkenanlage und durch Schraffierungen) in den vom Kläger genutzten Beschleunigungsstreifen eingefahren sein und dort dessen VW-Transporter beschädigt haben. Diese Darstellung hat der Kläger ausdrücklich im Verlauf des Rechtsstreits aufrechterhalten (z.B. im Schriftsatz vom 10. Januar 2005, dort Seite 1; auch Schriftsatz vom 7. Dezember 2004, Seite 2: „Der Verkehrsunfall selbst, d.h. der Anstoßpunkt der Fahrzeuge hat auf dem Beschleunigungsstreifen gelegen, in welchen der Beklagte zu 1) auch noch eingefahren war“; Schriftsatz vom 10. Januar 2005, Seite 1).

Die Beklagten hingegen haben vorgetragen, der Kläger sei - ohne sich über den rückwärtigen Verkehr zu vergewissern - aus dem Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn gewechselt und habe durch Unaufmerksamkeit den Unfall verursacht (z.B. Schriftsatz vom 26. November 2004, Seite 2).

Diesen Sach- und Streitstand gibt das Urteil nicht zutreffend wieder.

II.

Der Fehler des Landgerichts führt im Ergebnis jedoch nicht zu einer anderen Beurteilung der Sache.

1. Bei der hier vorzunehmenden Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Unfallbeteiligten nach § 17 Abs. 1 StVG sind nur bewiesene unfallursächliche Umstände zu berücksichtigen. Diesen Grundsatz hat das Landgericht zu Recht seiner Entscheidung zugrundegelegt (UA 4).

2. Danach hat der Kläger die von ihm behauptete Kollision des Beklagtenfahrzeuges mit seinem VW-Bus im Beschleunigungsstreifen (die wegen eines damit verbundenen Fahrstreifenwechsels des Beklagtenfahrzeuges von der Autobahn in den Beschleunigungsstreifen und den daran anknüpfenden Anscheinsbeweis für eine Alleinhaftung der Beklagten sprechen könnte) nicht bewiesen.

a) Der vom Kläger für den Unfallhergang benannte Zeuge ... hat in seiner Vernehmung vor dem Landgericht am 20. September 2005 den genauen Kollisionsort nicht bezeichnen können. Ausweislich des Protokolls hat er zunächst bekundet: „Wir befanden uns mit dem klägerischen Fahrzeug etwa auf der Grenze der Zufahrt und der rechten Spur der Autobahn, als der Beklagten-Bus auf der rechten Spur ankam und das Fahrzeug des Klägers von hinten links und bis nach vorne gestreift hatte und dann weitergefahren ist“. Sodann hat er erklärt: „Wenn ich gefragt werde, an welcher Stelle des Beschleunigungsstreifens der Unfall geschehen ist, erkläre ich, dass ich dies nicht mehr genau weiß“. Der vom Zeugen gefertigten Skizze (Bl. 94 d.A.) ist zum genauen Kollisionsort gleichfalls nicht zu entnehmen.

b) Der Zeuge ..., den der Kläger weiter benannt hat, konnte im Termin am 20. September 2005 vor dem Landgericht nicht vernommen werden, weil laut Protokoll eine Verständigung mit ihm ohne Dolmetscher nicht möglich war.

Eine Vernehmung dieses Zeugen war und ist nicht angezeigt. Es erscheint schon zweifelhaft, ob die im Termin vor dem Landgericht am 13. April 2005 zu Protokoll gegebene Erklärung des Klägers, diese Zeuge werde „zum Unfallhergang“ benannt, den Bestimmtheitsanforderungen des § 373 ZPO entspricht. Jedenfalls ergibt sich aus dem Verhalten des Klägers nach dem Fehlschlagen der Vernehmung ein konkludenter Verzicht auf Vernehmung dieses Zeugen (§ 399 ZPO). Der Kläger hat anschließend einschränkungslos zur Sache verhandelt. Er hat weiter schriftsätzlich vorgetragen, ohne auf seinen Beweisantritt zurückzukommen. Schließlich hat er einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ebenfalls einschränkungslos zugestimmt. Aus diesem

Verhalten ergibt sich, dass der Kläger sich nicht weiter auf den Zeugen ... berufen wollte. c) Die nicht maßstabgetreue Symbolskizze der Polizei in den beigezogenen Akten des Amtsgerichts Tiergarten (Az. 344 OWi 867/04) lässt den genauen Ort des Unfalls offen.

Die weiter in diesen Akten enthaltene Skizze des von der Polizei schriftlich vernommenen Zeugen ... (dort Bl. 9 d.A.) deutet zwar auf eine Kollision im Beschleunigungsstreifen hin. Dies hat der Zeugen vor dem Landgericht jedoch nicht bestätigen können.

3. Soweit der Kläger auf S. 3 f. der Berufungsbegründung die Haftungsverteilung nach § 17 Abs. 1 StVG durch das Landgericht angreift mit der Begründung, zu seinen Lasten könne kein Verschulden festgestellt werden, rechtfertigt dies eine Abänderung des angefochtenen Urteils nicht.

Zutreffend hat das Landgericht insoweit darauf hingewiesen, dass dabei neben zugestandenen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen sind (UA 5).

a) Die vom Landgericht vorgenommene Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten ist im Ergebnis aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Jedenfalls kann nicht festgestellt werden, dass der Mithaftungsanteil des Klägers geringer als mit einem Drittel zu bewerten ist.

Es ist aus Sicht des Senats schon nicht sicher bewiesen, dass das Beklagtenfahrzeug vor dem Unfall zunächst ein rotes Signal und dann eine Sperrfläche überfahren hat.

Auch das Landgericht hat jedenfalls eine Missachtung einer Sperrfläche nicht feststellen können (UA 5). Soweit es dort ausgeführt hat, es sei „hier aber davon auszugehen, dass das Beklagtenfahrzeug, bevor es sich der Einmündung genähert hat, sich auf einer Fahrspur befunden haben muss, die durch Aufleuchten des roten Schrägbalkens gesperrt war“ (UA 5), enthält das Urteil für diese Würdigung des Geschehens keine Begründung.

Der persönlich vom Landgericht gehörte Beklagte zu 1) hat jedenfalls das Überfahren von gekreuzten roten Balken nachdrücklich bestritten.

Mangels Beweises des genauen Kollisionsortes (vgl. oben) und damit des genauen Unfallherganges spricht viel für einen ungeklärten Unfall, bei dem eine Haftungsverteilung 50 : 50 angezeigt wäre.

b) Letztlich kommt es darauf aber nicht an.

Aus dem unstreitigen Sachverhalt und dem Klägervortrag selbst ergeben sich nämlich hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Unfall auch auf ein Verschulden des Klägers zurückzuführen ist. Dies ist zu Lasten des Klägers bei der Abwägung nach § 17 StVG zu berücksichtigen.

(1) Ein in eine Autobahn einfahrender Verkehrsteilnehmer hat dem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt zu gewähren (§ 18 Abs. 3 StVO). Er muss dazu den Verkehr auf der Autobahn beobachten. Gegebenenfalls muss er den Beschleunigungsstreifen so ausnutzen, dass ihm eine entsprechender Kontrollblick möglich ist. Muss der durchgehende Verkehr vor dem Einfahrenden abbremsen, so hat dieser seine Wartepflicht verletzt (vgl. auch Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl. 2007, § 18 StVO, Rn. 17 m.w.N. zu den Pflichten beim Einfädeln).

Kommt es in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einer Vorfahrtsverletzung zu einem Unfall, hat der Wartepflichtige den Anschein schuldhafter Vorfahrtsverletzung gegen sich mit der Folge, dass er regelmäßig den gesamten Schaden zu tragen hat (vgl. nur Hentschel, aaO, StVO § 8 Rn. 68, 69).

Wie das Landgericht (UA 4) zutreffend ausgeführt hat, kommt eine Schadensteilung dann in Betracht, wenn der nach § 18 Abs. 3 StVO Bevorrechtigte den Unfall hätte vermeiden können.

(2) Vor diesem Hintergrund ist der Einwand des Klägers auf S. 3 der Berufungsbegründung, es gäbe keinerlei Anhaltspunkte für sein eigenes Verschulden am Unfall, nicht gerechtfertigt.

Der Kläger hat sich an die Vorgaben aus § 18 Abs. 3 StVO nicht gehalten.

Unabhängig von rotem Signallicht und Sperrfläche, die aus der Sicht des Klägers als in die Autobahn Einfahrenden ohnehin nicht erkennbar waren, musste der Kläger sich angesichts der Vorfahrtregelung vergewissern, gefahrlos einfahren zu können.

Dabei durfte er entgegen seiner in der Berufungsbegründung geäußerten Auffassung nicht darauf vertrauen, dass die vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmer auf der Autobahn ihn einfädeln lassen würden, sondern musste davon ausgehen, dass sie - zu Recht (vgl. OLG Köln VM 1998, 87) - auf die Beachtung ihrer Vorfahrt vertrauen und ein Einfahren des Wartepflichtigen - aus welchem Grunde auch immer - nicht ermöglichen würden.

Entsprechend war der Kläger gehalten, den Verkehr auf der Autobahn zu beobachten, um ein gefahrloses Einfädeln zu beginnen. Dies war ihm jedoch vor der Kollision - wo immer sie sich genau zugetragen mag - aufgrund der Beschaffenheit des Ortes nur schwer möglich.

Nach eigenem Vorbringen (Schriftsatz vom 7. Dezember 2004, Seite 2) hat er die Vorbereitungen für sein Einfädelmanöver an einer völlig unübersichtlichen Stelle des Beschleunigungsstreifens begonnen. Er will sich durch Blick in den Rückspiegel und durch Schulterblick vergewissert haben, dass ein Einfädeln gefahrlos möglich sei.

Zugleich beschreibt er die Örtlichkeiten jedoch so: „Die vom Kläger genutzte Auffahrt vom Siemensdamm auf die Stadtautobahn in Berlin ist dadurch gekennzeichnet, daß die Zuwegung vom deutlich tiefer liegenden Siemensdamm in einer Kurve ansteigend erfolgt. Die links zwischen der Auffahrt und dem Stadtring liegende Böschung ist durch Pflanzen bewachsen, so daß der Einblick auf die Stadtautobahn gar nicht möglich ist. Erst im weiteren Verlauf des Beschleunigungsstreifens kann durch Blick in den Seiten-/bzw. Rückspiegel und/oder durch Schulterblick Einsicht genommen werden“.

Damit konnte sich der Kläger einerseits nicht nach hinten orientieren. Noch in der Berufungsbegründung trägt er vor, er habe den von hinten kommenden Reisebus der Beklagten nicht wahrnehmen können. Andererseits hat er zu Unrecht darauf vertraut, dass ihn die von hinten heranfahrenden Fahrzeuge auf der Autobahn trotz dichten Verkehres einfahren lassen müssten und würden. Der Vertrauensgrundsatz gilt nicht für den Wartepflichtigen, sondern zu Gunsten des Bevorrechtigten (vgl. oben).

Dies macht deutlich, dass der Unfall jedenfalls auch auf Sorgfaltspflichtverletzungen des Klägers beruht.

So ist auch nicht nur der Beklagte zu 1., sondern auch der Kläger durch Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 2. Dezember 2004 - 344 OWi 867/04 - wegen fahrlässiger Verkehrsordnungswidrigkeit zu einer Geldbuße verurteilt worden (Verstoß gegen §§ 18 Abs. 3, 1 Abs. 2 StVO); er hat das Urteil angenommen und auf Rechtsmittel verzichtet.

4. Entgegen der in der Berufung wiederholten Auffassung war der Unfall daher für den Kläger kein unabwendbares Ereignis im Sinne des - auf den Unfall am 8. März 2001 noch anzuwendenden - § 7 Abs. 2 Satz 1 StVG a. F.. Die Voraussetzungen dieser Norm - der Unfall hätte trotz äußerster Sorgfalt nicht vermieden werden können (vgl. BGH, NJW 2004, 772) - lassen sich nicht feststellen. Darauf hat bereits das Landgericht (UA 4) zutreffend hingewiesen.

C. Im übrigen hat die Sache weder grundsätzliche Bedeutung noch ist eine Entscheidung des Senats zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 ZPO.

Es wird angeregt, die Fortführung des Berufungsverfahrens zu überdenken.