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Amtsgericht Hamburg Urteil vom 10.10.2006 - Zur Haftungsquote bei einem Unfall eines Personenwagens mit einem anfahrenden Linienbus

AG Hamburg v. 10.10.2006: Zur Haftungsquote bei einem Unfall eines Personenwagens mit einem anfahrenden Linienbus


Das Amtsgericht Hamburg (Urteil vom 10.10.2006 - 518 C 167/06) hat entschieden:
Bei einem Zusammenstoß zwischen einem anfahrenden Linienbus und einem Fahrzeug, das im gleichgerichteten Verkehr das Vorfahrtsrecht des § 20 Abs. 5 StVO missachtet, erachtet das Gericht eine Haftungsverteilung von 2/3 (Kfz) zu 1/3 (Linienbus) für sachgerecht.


Tatbestand:

Der Kläger macht Ansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.

Der Kläger ist Eigentümer des Fahrzeugs Mercedes-Benz, amtliches Kennzeichen .... Der Beklagte zu 1) war zum Unfallzeitpunkt Fahrer, die Beklagte zu 2) ist Halterin des Linien-Omnibusses mit dem amtlichen Kennzeichen ....

Am 10.2.2006 kam es auf der in H. in Richtung Innenstadt zu einem Verkehrsunfall zwischen dem von der Ehefrau des Klägers gesteuerten Fahrzeug des Klägers und dem vom Beklagten zu 2) gesteuerten Omnibus der Beklagte zu 2). Der Unfall trug sich unmittelbar nach der Kreuzung etwa auf Höhe der dortigen Bushaltestelle zu.

Die Reparaturkosten betragen hinsichtlich des Fahrzeugs des Klägers laut Kalkulation des Ingenieurbüros W. netto EUR 3.237,53, der Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwerts EUR 1.600,--. Daneben macht der Kläger eine Kostenpauschale in Höhe von EUR 20,00 geltend. Die Kosten der Begutachtung durch das Ingenieurbüro W. betrugen EUR 321,32 und sind vom Kläger noch nicht beglichen.

Die Beklagte zu 2) führte die Reparatur des Omnibusses in Eigenregie aus und setzt hierfür Kosten in Höhe von EUR 881,60 zuzüglich Reservehaltekosten in Höhe von EUR 105,00 sowie eine Portopauschale von EUR 15,00 an.

Der Kläger behauptet, seine Ehefrau sei auf der rechten von zwei Fahrstreifen gefahren, als auf Höhe der Bushaltestelle der dort haltende Bus plötzlich angefahren, auf die Fahrbahn und in das Fahrzeug des Klägers gefahren sei. Hinsichtlich des bei der Beklagten zu 2) entstandenen Schadens ist der Kläger der Ansicht, dass es sich bei den angesetzten Lohnkosten um nicht erstattungsfähige Sowiesokosten handele.

Der Kläger beantragt,
  1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn EUR 1.620,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1.4.2006 zu zahlen sowie

  2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an Herrn Dipl. Ing. W., Inh. Sachverständigenbüro W., EUR 321,32 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1.4.2006 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten behaupten, die Ehefrau des Klägers sei nicht auf der rechten, sondern auf der linken Fahrspur gefahren. Der Beklagte zu 1) sei nach Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers und Umschau auf den rechten Fahrstreifen eingefahren. Die Ehefrau des Klägers habe sodann den Fahrstreifen wechseln wollen und sei in das Fahrzeug der Beklagten zu 2) gefahren.

Hilfsweise erklärt die Beklagte zu 2) die Aufrechnung mit ihrer Forderung auf Ersatz des ihr entstandenen Schadens.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugen F. und S. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.9.2006 verwiesen.


Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

1. Allerdings stand dem Kläger aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG zunächst ein Anspruch gegen die Beklagten auf Ersatz eines Drittels des ihm entstandenen Schadens, mithin EUR 540,00 zzgl. EUR 107,11 – insgesamt EUR 647,11 –, zu.

Die Voraussetzungen der vorstehend genannten Vorschriften insoweit liegen vor. Der Unfall ereignete sich beim Betrieb des Fahrzeugs der Beklagten zu 2), das der Beklagte zu 1) fuhr. Der Unfall wurde darüber hinaus nicht im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG durch höhere Gewalt verursacht.

Die gemäß §§ 9, 17 StVG vorzunehmende Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr führt jedoch dazu, dass der Anspruch des Klägers lediglich in Höhe eines Drittels des geltend gemachten, unstreitigen Schadens besteht. Der Verantwortungsbeitrag des Fahrzeugs des Klägers überwiegt insoweit den der Beklagten mit der Folge, dass den Kläger eine Haftungsquote von 2/3 trifft.

Allerdings war für keinen der Beteiligten der Unfall ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG. Ein Idealfahrer hätte den Unfall bei Anwendung höchstmöglicher Sorgfalt vermeiden können.

a) Ob die Ehefrau des Klägers allerdings gegen § 7 Abs. 5 StVO verstieß, konnte letztlich nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden.

Nach dieser Vorschrift darf ein Wechsel des Fahrstreifens nur erfolgen, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Gewisse Anzeichen für einen solchen Fahrstreifenwechsel sind tatsächlich vorhanden. So bekundete der Zeuge S., dass nach seinem Eindruck die Ehefrau des Klägers zum Zeitpunkt des Unfalls gerade den Fahrstreifen wechselte. Diese Aussage entstammt jedoch keiner eigenen Wahrnehmung des Zeugen, sondern beruht auf seiner Schlussfolgerung, wie die Fahrzeuge zusammenprallten. Da nach Aussage des Zeugen der Bus bereits etwa zur Hälfte auf die rechte Fahrspur eingefahren war, wäre nach seiner Einschätzung ein Zusammenstoß mit dem Bus nicht vorne links, sondern eher mittig erfolgen müssen. Dies erscheint zwar durchaus nachvollziehbar. Das Gericht vermag jedoch nicht auszuschließen, dass der Beklagte zu 1) die rechte Fahrspur zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes noch nicht bis zur Mitte blockierte. Vor diesem Hintergrund erachtet es das Gericht für möglich, dass die Ehefrau des Klägers zwar auf der rechten Fahrspur, wenn auch eher auf deren linker Seite fuhr, während der Bus möglicherweise noch nicht hinreichend die rechte Fahrspur bis zur Trennlinie mit seinem Cockpit ausfüllte. Diese Möglichkeit wird auch dadurch denkbar, dass nach Aussage des Zeugen S. zum einen der Beklagte zu 1) vor dem Unfall noch kurz nach rechts gegenlenkte und zum anderen ein kurzes Ausweichmanöver der Ehefrau des Klägers nicht ausgeschlossen werden konnte.

b) Zu Lasten des Klägers war jedoch zu berücksichtigen, dass seine Ehefrau nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedenfalls gegen die Vorschriften des § 20 Abs. 1 und Abs. 5 StVO verstieß.

Danach darf an Omnibussen, die an Haltestellen halten, nur vorsichtig vorbeigefahren werden. Darüber hinaus ist von gekennzeichneten Haltestellen abfahrenden Omnibussen das Abfahren zu ermöglichen und, wenn nötig, muss hierfür sogar angehalten werden. Der Busfahrer darf grundsätzlich sein Vorrecht aus § 20 Abs. 5 StVO wahrnehmen und mit dem Linienbus von der Haltestelle anfahren, auch wenn er dadurch ein sichtbar im fließenden Verkehr herannahendes Fahrzeug behindert. Dabei darf er darauf vertrauen, der fließende Verkehr werde ihm den Vorrang einräumen, auch wenn er dadurch zum Bremsen gezwungen wird (OLG Düsseldorf, Urteil vom 23.1.1989, 1 U 65/88).

Zwar besteht kein genereller Vorrang eines abfahrenden Busses vor dem fließenden Verkehr. Die Vorschrift des § 20 StVO schränkt jedoch als Sonderregelung den sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs insoweit ein, als dieser - notfalls durch Anhalten - gehalten ist, eine durch das Anfahren der Linienfahrzeuge entstehende Behinderung hinzunehmen (OLG Düsseldorf, a.a.O.). Aus dieser Einschränkung des § 10 StVO folgt weiter, dass der abfahrende Busfahrer nicht mehr mit einer besonderen über den § 1 Abs. 2 StVO gesteigerten Sorgfaltspflicht mit dem Ziel, jede wesentliche Behinderung des fließenden Verkehrs zu vermeiden, belastet ist (OLG Düsseldorf, a.a.O.). Voraussetzung für das Erlöschen des generellen Vorranges des fließenden Verkehrs ist allerdings, dass der Busfahrer seine Abfahrabsicht gemäß § 10 S. 2 StVO rechtzeitig unter Benutzung der Fahrtrichtungsanzeiger angekündigt hat (OLG Düsseldorf, a.a.O.). Auch darf der Fahrer eines Linienbusses trotz seines Vorrechtes den fließenden Verkehr nicht gefährden (OLG Düsseldorf, a.a.O.). Er darf insbesondere nicht blindlings unter Gefährdung des fließenden Verkehrs auf die Vorrangachtung vertrauen oder seinen Vorrang zu erzwingen suchen (OLG Düsseldorf, a.a.O.).

Dies war vorliegend nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch nicht der Fall. Nach der detailreichen, nachvollziehbaren und überzeugenden Aussage des Zeugen S. blinkte der Beklagte zu 1) vor Einfahren in die rechte Fahrspur. Zudem befand sich der Bus nach der Aussage des Zeugen S. bereits einige Zeit etwa zur Hälfte auf der rechten Fahrbahn, bevor es zum Unfall kam, da der Beklagte zu 1) zunächst den vor ihm rechts in die Einfahrt der Mercedes-Vertretung einfahrenden Pkw von der rechten Straße abbiegen lassen musste. Vor diesem Hintergrund konnte schon auf Grund der mit diesem Warten und dem entsprechender „Blockade“ der rechten Fahrspur verbundenen Zeitspanne eine unmittelbare Gefährdung des fließenden Verkehrs zum Zeitpunkt des Einfahrens in die rechte Fahrspur nicht vorgelegen haben.

Um den Anforderungen des damit bestehenden Vorrechts des Beklagten zu 1) aus § 20 Abs. 5 StVO gerecht zu werden, durfte die Ehefrau des Klägers nur mit mäßiger Geschwindigkeit und in Bremsbereitschaft fahren und musste den an der Haltestelle wartenden Bus ständig im Auge behalten (vgl. hierzu OLG Hamm, Urteil vom 5.11.1990, 13 U 132/90; OLG Düsseldorf, a.a.O., LG Osnabrück, Urteil vom 1.3.1993, 9 O 437/92).

Dem genügte die Ehefrau des Klägers nicht. Bereits nach ihrer eigenen Aussage bemerkte die Ehefrau des Klägers zwar den Bus, als er noch an der Haltestelle stand. Sie achtete sodann jedoch – obwohl sie ständig mit dem Anfahren des Busses rechnen musste – nicht weiter darauf und fuhr mit dem fließenden Verkehr und einer Geschwindigkeit von etwa 40-50 km/h weiter, bis sie durch den Zusammenprall mit dem Bus aufschreckte.

c) Zu Lasten der Beklagten ist gleichwohl die erhebliche Betriebsgefahr des Omnibusses zu berücksichtigen, die letztlich nach Auffassung des Gerichts zu einer Mithaftungsquote von einem Drittel führt.

Die Betriebsgefahr eines Busses ist grundsätzlich schon angesichts dessen Größe und Schwerfälligkeit deutlich höher als die eines Pkw (vgl. nur OLG Düsseldorf, a.a.O.; LG Osnabrück, Urteil vom 17.10.1972, 8 S 141/72). Die Betriebsgefahr hat sich angesichts des Verstoßes der Ehefrau des Klägers gegen § 20 StVO jedoch vorliegend nur teilweise verwirklicht. Die Schwerfälligkeit ist dadurch unfallursächlich geworden, dass der Linienbus sich nur verhältnismäßig langsam in den fließenden Verkehr einordnen und zudem ein Gegenlenken des Beklagten zu 1) wegen der Größe des Busses keinen Erfolg haben konnte.

Zu berücksichtigen ist im Rahmen der Abwägung schließlich auch, dass ein Verschulden des Beklagten zu 1) nicht festgestellt werden konnte. Die Abwägung zeigt damit, dass der Unfall einerseits überwiegend auf Umständen beruht, die sich der Kläger zurechnen lassen muss. Die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten zu 2) kann andererseits nicht vollständig zurücktreten. Das Gericht hält es vielmehr für gerechtfertigt, dass der Kläger zwei Drittel und die Beklagten ein Drittel des entstandenen Schadens tragen müssen.

2. Die danach dem Kläger noch zustehende Forderung in Höhe von EUR 647,11 ist durch Aufrechnung der Beklagten zu 2) erloschen, § 389 BGB.

Der Beklagten zu 2) stand aus § 18 StVG ein Anspruch in die Klageforderung übersteigender Höhe gegen den Kläger zu. Aus den obigen Ausführungen folgt, dass der Anspruch der Beklagten zu 2) dem Grunde nach berechtigt und der Höhe nach auf zwei Drittel des ihr entstandenen Schadens zu bemessen ist. Daraus folgt ein Gegenanspruch der Beklagten zu 1) in Höhe von EUR 667,73.

Der Anspruch der Beklagten zu 2) ist der Höhe nach unstreitig. Auch in rechtlicher Hinsicht ist ein Abzug hinsichtlich der Lohnkosten in Folge der Ausführung der Reparatur in Eigenregie durch die Beklagte zu 2) nicht angezeigt. Vielmehr sind durch eigene Angestellte ausgeführte Arbeitsleistungen ersatzfähig (Palandt/Heinrichs, BGB, 65. Aufl., vor § 249, Rz. 37). Der Schädiger darf durch die Ausführung der Arbeiten in Eigenregie nicht entlastet werden, zumal die Beklagte zu 2) auch nicht gehindert gewesen wäre, die Reparatur durch Dritte ausführen zu lassen (vgl. hierzu Palandt/Heinrichs, vor § 249, Rz. 141).

3. Mit Erlöschen der Hauptforderung entfiel auch der Zinsanspruch des Klägers.

4. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 708 Nr. 11, 711 ZPO.