Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Amtsgericht Aachen Urteil vom 15.12.2011 - 106 C 134/11 - Alleinhaftung eines eine Ausfallstraße trotz Rotlichts überquerenden Fußgängers

AG Aachen v. 15.12.2011: Zur Alleinhaftung eines eine Ausfallstraße trotz Rotlichts überquerenden Fußgängers


Das Amtsgericht Aachen (Urteil vom 15.12.2011 - 106 C 134/11) hat entschieden:
Überquert ein Fußgänger bei für ihn rotem Ampellicht eine stark befahrene Ausfallstraße, haftet er bei einem Unfall mit einem Kfz allein. Bei dieser Konstellation tritt auch die vom Kfz ausgehende Betriebsgefahr vollständig hinter dem groben Verkehrsverstoß des Fußgängers zurück.


Tatbestand:

Der Beklagte zu 1.) befuhr am 06.07.2010 mit seinem bei der Beklagten zu 2.) haftpflichtversicherten Pkw VW Golf die L-​Straße in B-​Stadt aus Richtung M-​Straße kommend in Fahrtrichtung H-​Straße auf der linken Fahrspur. Die L-​Straße ist vierspurig und im maßgeblichen Bereich durch eine Lichtzeichenanlage geregelt. Zwei der für den Kraftfahrzeugsverkehr bestimmten Fahrspuren führen jeweils in die eine bzw. die entgegengesetzte Fahrtrichtung. Aufgrund der getrennten Richtungsfahrbahnen ist die für die Fußgänger bestimmte Furt durch eine Verkehrsinsel unterteilt und mit zwei Fußgängerampeln versehen, die nicht parallel geschaltet sind.

Zur gleichen Zeit wollte die am ... 1996 geborene Klägerin zusammen mit einem anderen Mädchen die L-​Straße im Bereich der Fußgängerampel als Fußgängerin überqueren. Hierbei wurde sie vom Beklagtenfahrzeug erfasst und wie aus dem Gutachten des Medizinischen Zentrums Aachen (Bl. 9 f.) ersichtlich verletzt.

Die Beklagte zu 2.) lehnte außergerichtlich ihre Einstandspflicht gegenüber der Klägerin ab mit der Begründung, diese habe die Fußgängerfurt bei Rotlicht überquert.

Die Klägerin behauptet, sie habe zunächst an der Lichtzeichenanlage gewartet und habe sodann die Fahrbahn überqueren wollen. Darüber hinaus meint sie jedoch, die Beklagten seien unabhängig von der Frage, ob sie die Straße bei Rot- oder Grünlicht passiert habe, jedenfalls zu einem 50 %-​igen Anteil zur Haftung verpflichtet. Da der Beklagte zu 1.) die linke Fahrbahn befahren habe, habe er die von rechts kommende Klägerin und ihre Begleiterin deutlich sehen können und seine Geschwindigkeit reduzieren müssen, um ein eventuelles Bremsen zu ermöglichen. Da keine Bremsspuren ersichtlich seien, sei davon auszugehen, dass der Beklagte zu 1.) mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei.

Im Hinblick auf die erlittenen Verletzungen und die hierdurch erforderlich gewordenen Heilbehandlungen seien die Beklagten, bei Zugrundelegung einer Haftungsquote von 50 %, zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 1.250,-​- € sowie Behandlungskosten von anteilig 74,50 € und ferner der Erstattung außergerichtlicher Anwaltskosten von 186,24 € verpflichtet.

Sie beantragt,
  1. die Beklagten zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, sowie einen Betrag von 74,50 € und 186,24 €, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.09.2010 zu zahlen.

  2. Festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden unter Berücksichtigung einer Mithaftungsquote von 50 % zu ersetzen, der der Klägerin aus dem Verkehrsunfall vom 06.07.2010 in B-​Stadt mit dem Beklagten zu 1.) entstanden sind oder noch entstehen werden.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie behaupten, lediglich die aus Sicht der Klägerin weiter entfernte Fußgängerampel habe auf Grünlicht umgeschaltet, die für die Klägerin geltende dagegen noch Rotlicht gezeigt, als diese die Fahrbahn überquert habe. Der Beklagte zu 1.) sei weder zu schnell gefahren noch unaufmerksam gewesen. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass die Klägerin und ihre Begleiterin plötzlich bei für sie geltendem Rotlicht die Straße überqueren würden. und Trotz einer sofort eingeleiteten Bremsung habe er die Kollision nicht vermeiden können.

Darüber hinaus bestreiten sie die geltend gemachten Schadenspositionen zum Teil der Höhe nach. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf das schriftsätzliche Vorbringen der Parteien, einschließlich der zu den Akten gereichten Unterlagen sowie die beigezogene polizeiliche Unfallakte.


Entscheidungsgründe:

Die Klage ist nicht begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten materiellen und immateriellen Schäden aus den §§ 7 StVG, 249, 253 Abs. 2, 823 BGB, 115 VVG. Vielmehr scheidet in Anwendung der §§ 9 StVG, 254 BGB eine Haftung bereits dem Grunde nach aus.

Nach der insoweit eher unklaren Darstellung bzw. dem „vagen“ Bestreiten der Klägerin, insbesondere aber im Hinblick auf Seite 7 der Unfallakte muss davon ausgegangen werden, dass die für die Klägerin geltende Fußgängerampel zum maßgeblichen Zeitpunkt Rotlicht anzeigte. Diese in der Polizeiakte enthaltene Schilderung des Beklagten zu 1.) wurde von der klägerseits (für das Gegenteil?) benannten Zeugin U dort ausdrücklich bestätigt. Abgesehen davon, dass aus dem Klägervortrag („sie habe zunächst an der Lichtzeichenanlage gewartet“ nicht eindeutig hervorgeht, ob der Rotlichtverstoß wirklich bestritten wird, ist nicht erkennbar, weshalb die Zeugin U bei einer gerichtlichen Vernehmung eine abweichende Schilderung liefern sollte.

Fest steht somit ein Verstoß der Klägerin gegen die §§ 25 Abs. 3, S. 1, 37 Abs. 2 Nr. 4 StVO. Dagegen ist nicht ersichtlich, dass auch dem Beklagten zu 1.) ein nennenswerter Verkehrsverstoß zur Last fällt. Ihre Behauptung überhöhter Geschwindigkeit hat die Klägerin nicht substantiiert dargelegt. Allein der Umstand, dass sich auf der Fahrbahn keine Bremsspuren fanden, ist kein Indiz hierfür. Sofern die Klägerin unvermittelt vor dem Beklagtenfahrzeug auftauchte und dieser kaum noch die Möglichkeit einer intensiven Bremsung hatte, kommt es naturgemäß nicht zu sichtbaren Bremsspuren.

Der Beklagte zu 1.) hatte auch keine Veranlassung, sein Tempo vorsorglich zu verringern, bevor er die Klägerin auf der Fahrbahn gesehen hatte. Dass diese für ihn, da sie zunächst die rechts Fahrbahn betreten hatte, sichtbar gewesen sein musste, ist nicht zwingend. Gerade weil auch die rechts Fahrspur von Kraftfahrzeugen befahren war, hatte der Beklagte zu 1.) insoweit nicht unbedingt freien Blick. Im Übrigen ist er auch nicht gehalten, bei ausschließlich für ihn geltendem Grünlicht die Verkehrssituation auf der Nebenfahrbahn im Auge zu haben.

Bei dieser Konstellation tritt auch die vom Beklagtenfahrzeug ausgehende Betriebsgefahr vollständig hinter dem groben Verkehrsverstoß der Klägerin zurück. Wer als Fußgänger trotz Rotlichts die starke befahrene Fahrbahn einer Ausfallstraße die Fahrbahn überquert, haftet allein (OLG Bremen VersR 1981, 735; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, § 37 Rn. 64).

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den § 91 Abs. 1, 708 Nr. 11, 71 ZPO.

Streitwert: 1.349,24 €