Das Verkehrslexikon

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OLG Saarbrücken (Urteil vom 29.11.2011 - 4 U 3/11 - Haftungsverteilung bei Unfall zwischen einem den Radweg befahrenden Radfahrers mit einem Fußgänger

OLG Saarbrücken v. 29.11.2011: Haftungsverteilung bei Unfall zwischen einem den Radweg befahrenden Radfahrers mit einem Fußgänger


Das OLG Saarbrücken (Urteil vom 29.11.2011 - 4 U 3/11) hat entschieden:
Stößt ein 14-jähriger Radfahrer, der im innerstädtischen Bereich einen Radweg befährt, mit einem Fußgänger zusammen, der unter Missachtung des Verkehrs gewissermaßen "blindlings" die Fahrbahn betritt, so tritt ein eventuelles Verschulden des Radfahrers, das darin bestehen könnte, eine Gefahrensituation nicht rechtzeitig erkannt zu haben, spätestens auf der Ebene der Haftungsabwägung nach § 254 BGB vollständig hinter das grobe Verschulden des erwachsenen Verkehrsteilnehmers zurück.


Gründe:

I.

Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt die im Jahr 1971 geborene Klägerin den am … 1993 geborenen Beklagten aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 17.6.2008 gegen 15:55 Uhr in der Kaiserstraße in St. Ingbert ereignete. Hierbei kam es zwischen der Klägerin, die als Fußgängerin die Kaiserstraße überqueren wollte, und dem Beklagten, der die Kaiserstraße mit seinem Fahrrad befuhr, zu einem Zusammenstoß, bei dem die Klägerin verletzt wurde und in das Kreiskrankenhaus St. Ingbert eingeliefert wurde. Die dort gestellte Diagnose lautete: starke multiple Prellungen, Steißbeinprellung, LWS-​Prellung und Gangstörungen unklarer Genese (GA I Bl. 12).

Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe auf dem Bürgersteig zwischen einem Baum und einem Auto gestanden. Der Beklagte sei mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig gefahren, sei von hinten gekommen und habe wohl auf die Straße fahren wollen. Bei diesem Manöver habe er sie angefahren. Schriftsätzlich hat die Klägerin vorgetragen, sie habe sich zum Unfallzeitpunkt auf dem Bürgersteig befunden, und zwar an der Stelle, wo der Bürgersteig durch Bepflanzungen die Parkbuchten unterbreche und unmittelbar an den Radweg angrenze. Als sie den Radweg habe betreten wollen, sei es zur Kollision mit dem Beklagten gekommen, der aus Richtung Stadtmitte mit seinem Fahrrad den Radweg mit erhöhter Geschwindigkeit befahren habe. Sie habe durch den Unfall eine Lähmung erlitten, die dazu führe, dass sie den rechten Fuß nicht heben, strecken oder senken könne und sie sich nur noch mit Gehhilfen fortbewegen könne. Sie sei auf der rechten Seite vom Becken an wie gelähmt und enorm schmerzempfindlich. Seit dem Unfall sei sie arbeitsunfähig. Ein Ende dieses Zustandes sei nicht absehbar.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr stehe zum Ausgleich der erlittenen immateriellen Schäden ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 20.000 EUR zu. Darüberhinaus hat die Klägerin die Erstattung materieller Schäden in Höhe von 15.889,69 EUR (Klageantrag zu 2)) erstrebt. Hierbei beziffert sie unter Zugrundelegung eines Stundensatzes von neun Euro und unter Anrechnung einer Mithaftungsquote von 20% den bis zum 31.8.2009 entstandenen Haushaltsführungsschaden mit insgesamt 15.227,37 EUR. Ein weiterer materieller Schaden in Höhe von 662,32 EUR betrifft Fahrtkostenerstattung und die Erstattung von eigenen Anteilen für Krankenhausaufenthalt und orthopädische Hilfsmittel. Hinsichtlich der Einzelaufstellung wird auf Seite 4 des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen.

Die Klägerin hat ihren monatlichen Verdienstausfall mit 750 EUR beziffert, da sie - so ihre Behauptung - als gelernte Verkäuferin zuletzt als Produktionshelferin ein durchschnittliches Gehalt von 1.200 EUR bezogen habe. Ihre Rente wegen voller Erwerbsminderung liege lediglich bei 430 EUR monatlich, woraus eine Rentenzahlung von monatlich 750 EUR resultiere (Klageantrag zu 3).

Weiterhin hat die Klägerin auf Zahlung einer monatlichen Rente in Höhe von 762,47 EUR angetragen, da sie - so ihre Behauptung - hinsichtlich der Haushaltsführung unfallbedingt zu 70% beeinträchtigt sei.

Die Klägerin hat beantragt,
  1. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zu zahlen, mindestens jedoch 20.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 18.000 EUR seit dem 29.4.2009 und aus 2.000 EUR seit Rechtshängigkeit;

  2. den Beklagten weiterhin zu verurteilen, an die Klägerin 16.029,19 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 15.672,96 EUR seit dem 29.4.2009, aus 216,73 EUR seit Rechtshängigkeit und aus 139,50 EUR seit Zustellung der Klageerhöhung zu zahlen;

  3. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ab dem 1.7.2009 eine vierteljährlich vorauszahlbare monatliche Rente in Höhe von 750 EUR, jeweils im Voraus zum 1.1., 1.4., 1.7. und 1.10. eines Jahres bis zum 31.1.2038 zu zahlen;

  4. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche Schäden, die ihr in Zukunft aus dem Verkehrsunfall vom 17.6.2008 noch entstehen, soweit er nicht auf Träger der Sozialversicherung übergegangen ist, zu ersetzen;

  5. den Beklagten weiterhin zu verurteilen, an die Klägerin 1.307,81 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

  6. den Beklagten weiterhin zu verurteilen, an die Klägerin eine monatliche Rente in Höhe von 762,47 EUR ab dem 1.9.2009 und zwar jeweils vierteljährlich im Voraus zum 1.1., 1.4., 1.7. und 1.10. eines Jahres, soweit die Ansprüche nicht auf Träger der Sozialversicherung übergegangen sind, zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat behauptet, er sei mit seinem Mountainbike mit einer geschätzten Geschwindigkeit von etwa 20 km/h auf dem Radweg in Richtung Saarbrücken gefahren, als ein Kind etwa 2 bis 3 m vor ihm plötzlich von links auf den Radweg gelaufen sei. Er habe sein Fahrrad sofort mit Vorderrad- und Hinterradbremse stark abgebremst. In diesem Augenblick sei auch die Klägerin ebenfalls von links kommend direkt vor ihm auf den Radweg getreten. Er habe noch seinen Lenker zur rechten Seite gerissen, eine Kollision aber nicht mehr vermeiden können. Da er den Unfall - so seine Rechtsauffassung - nicht verschuldet habe, hafte er auch nicht auf Schadensersatz. Die Klägerin habe beim Betreten des Radweges den Vorrang des fließenden Verkehrs beachten müssen. Da sie in einer Entfernung von nur etwa 2 m vor ihm auf den Radweg getreten sei, hätte die Geschwindigkeit des Fahrrades weniger als Schrittgeschwindigkeit betragen dürfen, um die Kollision zu verhindern. Für den Beklagten habe kein Anlass bestanden, die Geschwindigkeit so erheblich zu reduzieren. Im Hinblick auf eine bereits zuvor bestehende körperliche Behinderung der Klägerin sei nicht auszuschließen, dass etwaige vorhandene gesundheitliche Beeinträchtigungen gar nicht auf den Unfall zurückzuführen seien.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf den Inhalt angefochtenen Entscheidung wird auch hinsichtlich der darin enthaltenen Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.

Mit ihrer hiergegen gerichteten Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Klagebegehren in vollem Umfang weiter.

Die Berufung wendet sich zunächst gegen die Tatsachenfeststellung des Landgerichts. So sei aufgrund der Zeugenaussagen nicht bewiesen, dass die Klägerin nur etwa 2 m vor dem Beklagten auf den Radweg getreten sei. Weder der Beklagte selbst noch die Zeugen S. und W. hätten Angaben zur Entfernung des Beklagten von der Klägerin gemacht. Bei einer unterstellten Geschwindigkeit von 20 km/h wäre der Beklagte bei der von ihm geschilderten Unfallsituation deutlich weiter als nur 2 m von der Klägerin entfernt gewesen, als er diese erstmals gesehen habe.

Der Beklagte müsse auch deutlich schneller als 20 km/h gefahren sein: So habe der Zeuge S. die Geschwindigkeit des Radfahrers mit 30 km/h geschätzt, der Beklagte selber habe eingeräumt, 20 bis 25 km/h gefahren zu sein.

Jedenfalls sei dem Beklagten Fahrlässigkeit vorzuwerfen: Der Beklagte hätte die Klägerin und die Zeugin A. in der Annäherung schon von weitem sehen müssen. Da sich diese Personen unmittelbar am Rande des Radweges befunden hätten und dem Beklagten den Rücken zugewandt hätten, hätte der Beklagte nicht darauf vertrauen dürfen, dass keine Fußgänger unvorsichtig auf die Fahrbahn treten würden. Es habe sich bei der Örtlichkeit nicht um eine gefahrenneutrale Situation gehandelt, bei der ein Radfahrer ohne Verlangsamung seiner Geschwindigkeit mit gleichem Tempo weiterfahren dürfe. Die kritische Situation habe für den Beklagten nicht erst begonnen, als das Kind auf die Fahrbahn getreten sei. Der Beklagte sei gehalten gewesen, seine Geschwindigkeit bereits dann deutlich herabzusetzen, als er die Klägerin von weitem gesehen habe. Hätte er dies getan, wäre der Unfall vermieden worden.

Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des am 30.11.2010 verkündeten Urteils des Landgerichts Saarbrücken - 9 O 378/09 - nach Maßgabe des zuletzt gestellten erstinstanzlichen Antrags zu erkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Berufungsbegründung vom 3.2.2011 (GA II Bl. 240 ff.) und der Berufungserwiderung vom 2.3.2011 (GA II Bl. 261 ff.) Bezug genommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll vom 8.11.2011 verwiesen.


II.

A.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet, da die angefochtene Entscheidung weder auf einem Rechtsfehler beruht, noch die gemäß § 529 ZPO zu Grunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen (§ 513 ZPO).

1. Eine Haftung des Beklagten für die Folgen des Unfalls kommt nur unter der deliktsrechtlichen Anspruchsgrundlage (§ 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 230 StGB) in Betracht. Sie setzt den Nachweis eines Verschuldens - da ein Vorsatz im vorliegenden Fall nach Lage der Dinge von vornherein ausscheidet - in Gestalt der Fahrlässigkeit voraus. Nach allgemeinen Grundsätzen (statt aller: Palandt/Sprau, BGB, 70. Aufl., § 823 Rdnr. 80; Erman/Schiemann, BGB, 12. Aufl., § 823 Rdnr. 32) trägt der Geschädigte, die Darlegungs- und Beweislast für den objektiven Tatbestand, den Schaden, die haftungsbegründende Kausalität von Handlung und Schaden sowie das Verschulden des Schädigers. Demnach muss die Klage des Geschädigten der Abweisung unterliegen, wenn die objektiven Umstände, aus deren Vorliegen die rechtliche Wertung auf ein fahrlässiges Verhalten schließt, nicht mit dem erforderlichen Beweismaß bewiesen sind oder Zweifel daran verbleiben, ob ein nachgewiesenes Verschulden ursächlich für den Schaden war. Diese rechtlichen Vorgaben zwingen zur Abweisung der Klage, da die Klägerin den ihr obliegenden Beweis für ein schadensursächliches schuldhaftes Verhalten des Beklagten nicht geführt hat.

2. Im Berufungsrechtszug steht außer Streit, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dem Radweg auf 20 km/h beschränkt war. Folglich wäre dem Beklagten jedenfalls dann ein den Fahrlässigkeitsvorwurf begründender Verstoß gegen § 41 Abs. 1 StVO vorzuwerfen, wenn er in der Annäherung an die spätere Unfallstelle schneller als 20 km/h fuhr. Unfallursächlich wurde ein im Geschwindigkeitsverstoß bestehendes Verschulden jedoch nur dann, wenn der Unfall vermieden worden wäre, wenn der Beklagte im Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung, der sog. kritischen Lage, mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gefahren wäre (zum Kausalitätsnachweis beim Geschwindigkeitsverstoß: BGH, Urt. v. 26.4.2005 - VI ZR 228/03, NJW 2005, 1940; Urt. v. 25.3.2003 - VI ZR 161/02, NJW 2003, 1929; Hentschel/König/Dauer, StVG, 40. Aufl., E 101). Weder der Beweis einer Geschwindigkeitsüberschreitung noch der Beweis der Unfallursächlichkeit sind mit der erforderlichen Gewissheit geführt:

a) Zunächst hält die angefochtene Entscheidung den Angriffen der Berufung stand, soweit das Landgericht es nicht als erwiesen erachtet hat, dass der Beklagte schneller als die erlaubte Geschwindigkeit von 20 km/h fuhr.

Das Landgericht hat zutreffend herausgestellt, dass es keine objektiven Indizien dafür gibt, die Rückschlüsse auf die im Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung gefahrene Geschwindigkeit erlauben. Alle Zeugenaussagen sind Schätzungen, die - dies liegt in der Natur der menschlichen Wahrnehmung begründet - keine exakten Schlussfolgerungen zur Höhe von Geschwindigkeiten, schon gar nicht in dem im vorliegenden Sachverhalt streitrelevanten kleinen Intervall zwischen 20 und 30 km/h, erlauben. Dies berücksichtigend sieht sich auch der Senat dazu außerstande, aus der Einschätzung des Zeugen S., der Beklagte sei schneller als 30 km/h gefahren, sich die erforderliche sichere Überzeugung von einem Geschwindigkeitsverstoß zu bilden. Der Zeuge relativiert die Verlässlichkeit seiner Aussage gleich in dreifacher Form („Ich denke,“… „Für mein Empfinden“… „wobei das nur eine Schätzung ist“ GA I Bl. 153). Die Zeugin W. hat lediglich einen subjektiven Eindruck wiedergegeben, dass der Beklagte „schon Tempo“ gehabt habe. Auch diese Aussage trägt zur sicheren Überzeugungsbildung wenig bei. Weiterhin besitzt die vom Beklagten im Ermittlungsverfahren vorgetragene Selbsteinschätzung, er sei ca. 20 - 25 km/h gefahren, kein ausschlaggebendes Gewicht. Denn das Fahrrad des Beklagten war nicht mit einem Tachometer ausgerüstet (EA S. 27), weshalb auch die Aussage des Beklagten allein auf seinem subjektiven Empfinden beruht, welches aufgrund seines jugendlichen Alters kaum hinreichend geschult sein konnte, um Fahrgeschwindigkeiten sicher zu schätzen.

Gegen eine hohe Geschwindigkeit des Beklagten streitet der Umstand, dass der Unfall für beide Unfallbeteiligten hinsichtlich der erlittenen Verletzungen glimpflich ausgegangen ist. Während sich der Beklagte ausweislich des Attestes des behandelnden Arztes Dr. S. lediglich Schürfwunden und Prellungen am linken Ellenbogen zuzog, litt auch die Klägerin infolge des Zusammenstoßes - mit Ausnahme der behaupteten Nervenschädigung - hauptsächlich unter Prellungen. Frakturen oder manifeste Weichteilverletzungen konnten ausgeschlossen werden. Auch am Fahrrad entstand kein größerer Schaden: Lediglich die Lenkerhörnchen waren verkratzt.

b) Selbst bei nachgewiesenem Verstoß gegen die zulässige Höchstgeschwindigkeit ist dessen Kausalität für den Unfall nicht bewiesen: Es bleibt völlig offen, wie weit der Beklagte von der Klägerin entfernt war, als er wahrnahm, dass sich die Klägerin anschickte, blindlings auf die Fahrbahn zu treten. Mithin ist die Einlassung des Beklagten, 2 bis 3 m vor ihm sei plötzlich ein Kind auf die Fahrbahn getreten, er habe sofort gebremst, „im diesem Augenblick“ (GA I Bl. 89) sei auch die Klägerin auf die Fahrbahn getreten, nicht zu widerlegen. Wenngleich es zweifelhaft erscheint, ob es dem Beklagten gelingen konnte, einen Zusammenstoß mit dem exakt nur 2 bis 3 m entfernt auf die Fahrbahn tretenden Kind zu vermeiden, zeigt der Beklagte dennoch einen Sachverhalt auf, der es zweifelhaft erscheinen lässt, ob ein Zusammenstoß mit der Klägerin bei einer nur geringfügig herabgesetzten Geschwindigkeit tatsächlich vermieden worden wäre. Hierbei ist ergänzend die polizeiliche Aussage der Zeugin W. in den Blick zu nehmen (EA S. 23), die angegeben hat, die Klägerin sei „einfach auf der Straße stehen geblieben“. Auf der Grundlage dieser Aussage erübrigen sich Überlegungen dazu, ob der Unfall nachweisbar zeitlich vermeidbar war, weil es der Klägerin gelungen wäre, den Gefahrenbereich noch vor dem Beklagten zu passieren, wenn dieser die Bremsung aus einer Geschwindigkeit von 20 km/h eingeleitet hätte (zur zeitlichen Vermeidbarkeit: BGH, NJW 2005, 1942; Hentschel/König/Dauer, aaO, E 101). Ebenso wenig bietet der Sachverhalt Anlass der Frage nachzugehen, ob es zu einer deutlichen Abmilderung des Unfallverlaufs und der erlittenen Verletzungen gekommen wäre, wenn der Beklagte langsamer gefahren wäre (vgl. hierzu: BGH, NJW 2005, 1942; Urt. v. 18.11.2003 - VI ZR 31/02, VersR 2004, 392, 393; Urt. v. 23.4.2002 - VI ZR 180/01, VersR 2002, 911, 912; Urt. v. 10.10.2000 - VI ZR 268/99, VersR 2000, 1556, 1557): Weder die tatsächliche Kollisionsenergie noch Ort und Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung stehen fest.

3. Mit Recht weist die Berufung darauf hin, dass ein Radfahrer in Ausfüllung der Handlungsgebote des § 1 Abs. 2 und § 3 Abs. 1 StVO gehalten ist, seine Geschwindigkeit so weit herabzusetzen, dass er sein Fahrzeug sicher beherrscht und innerhalb einer überschaubaren Strecke anhalten kann, wenn er sich einer voraussehbaren Gefahrenlage nähert. Eine solche Gefahrenlage kann insbesondere daraus resultieren, wenn ein Radfahrer damit rechnen muss, dass Fußgänger unaufmerksam in die Fahrbahn des Radfahrers treten (BGH, Urt. v. 4.11.2008 - VI ZR 171/01, MDR 2009, 203 mit krit. Anm. Rebler, DAR 2009, 386 und Schubert, NZV 2009, 179). Ein Fahrlässigkeitsvorwurf ist dem Radfahrer jedoch nur dann zu machen, wenn er die Gefahr entweder positiv erkennt oder sie bei Anstrengung der gebotenen und zumutbaren Sorgfalt hätte erkennen können. Auch diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht bewiesen:

a) So steht es im zur Entscheidung stehenden Sachverhalt - anders als in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall (dort sah sich der Radfahrer dazu veranlasst, 10 m vor Erreichen der Fußgängergruppe einen Klingelton abzugeben) - nicht fest, dass sich der Beklagte der Gefahr positiv bewusst war.

b) Entgegen der Auffassung der Berufung war die Gefahrensituation aus Sicht des Beklagten auch nicht nachgewiesenermaßen normativ erkennbar:

Die vorliegende Unfallsituation unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der Verkehrssituation des vom Bundesgerichtshof entschiedenen Falles:

aa) Während im dort entschiedenen Fall der Radweg nur schmal war und von der umgebenden, dem Fußgängerverkehr gewidmeten Fläche nur durch eine anders farbige Pflasterung abgegrenzt war, ist im vorliegenden Falle die Verkehrsfläche des Bürgersteigs von der breiten (5,10 m) Fläche der Kaiserstraße klar getrennt. Die Lichtbilder im Ermittlungsverfahren (EA 6) zeigen, dass der Bürgersteig eine andersartige Pflasterung als die Kaiserstraße besitzt. Zwischen Bürgersteig und Straßenbelag befindet sich ein Bordstein, an dem sich eine gepflasterte Regenrinne anschließt. Erst danach beginnt die Fahrbahn des Radweges.

bb) Im vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall unterhielten sich die Fußgänger vor dem Unfallereignis über die Fahrbahn des Radweges hinweg mit weiteren Personen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite an einem Kiosk standen. Diese über die Straße hinweg geführte Unterhaltung gab dem Verhalten der Fußgänger eine Richtung, weshalb es nicht als fern liegend erschien, dass sich die Fußgänger auf ihre Gesprächspartner zubewegen würden. Ein solches richtungweisendes Fußgängerverhalten ist im zur Entscheidung stehenden Sachverhalt nicht nachgewiesen:

Es mag sein, dass der Beklagte die Klägerin und die Zeugin A. auf dem Bürgersteig stehen sah. Allerdings ist damit noch nicht zugleich bewiesen, dass der Standort der beiden Frauen aus Sicht eines den Radweg benutzenden Radfahrers deren Absicht verdeutlichte, die Straße auch überqueren zu wollen. Das genaue Verhalten der beiden Frauen bleibt unklar: In ihrer persönlichen Anhörung hat die Klägerin den Unfallhergang ausgesprochen detailarm geschildert (GA I Bl. 132). Sie beharrte darauf, dass sie der Beklagte auf dem Bürgersteig angefahren habe. Ein solcher Sachverhalt wird durch das Ergebnis der Beweisaufnahme zweifelsfrei widerlegt. Auffallend ist weiter, dass die Klägerin in ihrer Anhörung das Kind der Zeugin A. mit keinem Wort erwähnt. Sie beschreibt ihren Aufenthalt auf dem Bürgersteig mit den Worten, sie habe neben einem Baum gestanden. Es bleibt nach dieser Schilderung offen, mit welcher Absicht und wie lange die Klägerin dort verharrte, bis sie sich dazu entschied, die Straße zu überqueren. Nur wenig konkreter wird die Zeugin A. (GA I Bl. 153). Diese Zeugin konnte zwar ihren Standort nicht näher beschreiben, wusste allerdings zu berichten, dass sie sich ihrer Tochter zugewandt hatte, um mit dieser zu diskutieren. Auch dieses Verhalten ließ es nicht zwingend erwarten, dass die Zeugin nach Abschluss dieser Diskussion unmittelbar auf die Straße treten würde.

Aus der Aussage der Zeugin W. kann die Berufung nichts herleiten: Nach der Aussage dieser Zeugin stand die Klägerin an der Bordsteinkante nicht still, sondern sei - so die Aussage der Zeugin - zwischen den Autos hindurch gegangen. In ihrer Aussage im Ermittlungsverfahren (EA 23) hat die Zeugin ausgesagt, dass die Gruppe hinter einem parkenden Fahrzeug gestanden habe. In jedem Fall berichtet auch diese Zeugin nicht davon, dass sich die Personengruppe über längere Zeit im Bereich der Bordsteinkante mit der erkennbaren Absicht aufgehalten hätte, die Straße alsbald zu überqueren.

c) Zusammenfassend ist der Fahrlässigkeitsvorwurf auch unter dem rechtlichen Aspekt des § 1 Abs. 2 StVO nicht bewiesen. Ergänzend ist anzumerken, dass die normative Bewertung der Gefahrensituation bislang aus der Sicht eines erwachsenen Verkehrsteilnehmers vorgenommen wurde. Der Vorwurf eines Sorgfaltsverstoßes ist umso weniger gerechtfertigt, wenn man das jugendliche Alter des Beklagten berücksichtigt:

Ein eventuelles Verschulden des zurzeit des Unfalls erst 14-​jährigen Beklagten ist am Maßstab des § 828 Abs. 3 BGB zu bestimmen. Demnach ist ein Minderjähriger für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Hierbei ist bezüglich der Vermeidbarkeit des schädigenden Ereignisses und der Vorhersehbarkeit der Gefahr nicht auf die individuellen Fähigkeiten des Jugendlichen abzustellen. Vielmehr ist danach zu fragen, ob bei einer generalisierenden Betrachtung ein normal entwickelter Jugendlicher dieses Alters die Gefahr seines Tun hätte voraussehen und dieser Einsicht gemäß hätte handeln können und müssen (BGH, Urt. v. 30.11.2004 - VI ZR 335/03, NJW 2005, 354, 356; vgl. Urt. v. 29. April 1997 - VI ZR 110/96, VersR 1997, 834, 835; Urt. v. 28.2.1984 - VI ZR 132/82, VersR 1984, 641, 642; Palandt/Sprau, aaO, § 828 Rdnr. 7; aA. für subjektiven Maßstab: MünchKomm(BGB)/Wagner, 5. Aufl., § 828 Rdnr. 11; Soergel/Spickhoff, BGB, 13. Aufl., § 828 Rdnr. 15). Dieser Maßstab schwächt die Anforderungen an die Erkennbarkeit der Gefahrensituation für den Beklagten ab: Ein 14-​jähriger Junge, der mit seinem Fahrrad auf dem Radweg fährt, wird im Regelfall nicht die Einsicht eines Erwachsenen besitzen und damit rechnen, dass eine Gruppe Erwachsener unter Missachtung selbst elementarer Sorgfaltsanforderungen auf die Fahrbahn tritt. Er wird stattdessen - mehr als erwachsener Verkehrsteilnehmer - auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Erwachsenen vertrauen (vgl. Böhme/Biela, Kraftverkehrshaftpflichtschäden, 24. Aufl., § 1 Rdnr. 252).

4. Selbst wenn - wovon der Senat nicht ausgeht - dem Beklagten mit Blick auf die Fehleinschätzung der Gefahrensituation ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden könnte, wäre dieses Verschulden am untersten Rand der leichten Fahrlässigkeit anzusiedeln. In der Haftungsabwägung nach § 254 Abs. 1 BGB träte die Verantwortlichkeit des Beklagten vollständig hinter das grobe Verschulden der Klägerin zurück, die blindlings und unter Missachtung der Vorfahrt auf die Kaiserstraße trat: Die Klägerin ist daran zu erinnern, dass ein Fußgänger gem. § 25 Abs. 3 StVO bedacht sein muss, nicht auf die Fahrbahn eines sich nähernden Fahrzeugs zu geraten (OLG Rostock, VersR 2006, 103). Er darf die Fahrbahn erst dann betreten, wenn er sich davon überzeugt hat, dass er keinen Fahrzeugführer gefährdet (Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 25 StVO Rdnr. 10; Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl., § 14 Rdnr. 276). Bereits im Vorschulalter gehört es zur elementaren Verkehrserziehung, die Straße erst nach einer doppelten Umschau zu überqueren (Blickrichtung „links-​rechts-​links“; im vorliegenden Fall wäre die Klägerin aufgrund der Einbahnstraßenregelung freilich gehalten gewesen, die Umschau in der Richtung „rechts-​links-​rechts“ zu halten). Gegen diese elementare Sorgfaltsanforderung hat die Klägerin verstoßen.

Nach alledem war der Berufung kein Erfolg zu bescheiden.

B.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt und weder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung noch die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 ZPO).