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OLG Schleswig Urteil vom 09.02.2011 - 7 U 44/10 - Verkehrsunfall mit besonders geschütztem Verkehrsteilnehmer
OLG Schleswig v. 09.02.2011: Zu einem Verkehrsunfall mit einem besonders geschütztem Verkehrsteilnehmer
Das OLG Schleswig (Urteil vom 09.02.2011 - 7 U 44/10) hat entschieden:
- Voraussetzungen für einen Entlastungsbeweis des Fahrzeugführers bei einem Unfall mit einem von § 3 Abs.2a StVO besonders geschützten Verkehrsteilnehmer.
- Bei einem besonders groben Verkehrsverstoß eines Radfahrers kann die Betriebsgefahr des unfallbeteiligten Kraftfahrzeuges vollständig zurücktreten.
Gründe:
Die Klägerin nimmt die Beklagten aus übergegangenem Recht gemäß § 116 SGB X als gesetzlicher Krankenversicherer ihres (ehemaligen) Mitgliedes A auf Schadensersatz in Anspruch.
Dem zugrunde liegt ein Unfall vom 23.06.2006, bei dem der seinerzeit 68jährige Versicherte der Klägerin schwerstverletzt wurde, und in dessen Folge er am 22.02.2007 verstarb.
Der Unfall ereignete sich in X auf der ... Straße (Bundesstraße ...) in Höhe der Einmündung der untergeordneten Straße .... Die Beklagte zu 1. war Fahrerin des von dem Beklagten zu 2. gehaltenen und bei der Beklagten zu 3. gegen Haftpflichtschäden versicherten VW Polo, amtliches Kennzeichen ...; sie befuhr die Y-Straße in Richtung .... Aus Sicht der Beklagten zu 1. von rechts aus der Straße ... kommend fuhr der Versicherte der Klägerin mit seinem Fahrrad – wobei die Einzelheiten streitig sind – auf die Bundesstraße vor das von der Beklagten zu 1. geführte Fahrzeug. Bei der Kollision mit dem Wagen erlitt der Versicherte der Klägerin unter anderem schwere Kopfverletzungen.
Die Klägerin begehrt Ersatz ihrer unfallbedingten Aufwendungen, die sie mit 84.306,88 € beziffert.
Zum Unfallhergang selbst ist allein streitig, ob der Versicherte der Klägerin unmittelbar aus der Straße ... auf die Bundesstraße fuhr oder ob er noch ein Stück auf dem parallel zur Bundesstraße verlaufenden Radweg und sodann gegebenenfalls über den Grünstreifen – wobei wegen der Örtlichkeiten auf die Lichtbilder Blatt 10-12 sowie Blatt 48-56 der Beiakten Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Itzehoe ... Bezug genommen wird – auf die Fahrbahn fuhr.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagte zu 1. habe gegen das erhöhte Rücksichtnahmegebot aus § 3 Abs. 2a StVO verstoßen; den Beklagten zu 2. treffe auf jeden Fall die Halterhaftung. Ein eventuelles Mitverschulden ihres Versicherten sei nicht anzurechnen, da davon auszugehen sei, dass er aufgrund einer akuten Schwindelsymptomatik, bedingt durch einen früheren Schlaganfall, im Sinne von § 827 BGB nicht verantwortlich sei.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an sie 84.306,88 € nebst Zinsen in Höhe von je 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz p. a. aus 79.255,34 € seit dem 10.07.2007 und aus weiteren 5.051,54 € seit dem 14.12.2009 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, die Beklagte zu 1. treffe kein Verschulden an dem Unfall, im Übrigen überwiege das Mitverschulden des Versicherten der Klägerin soweit, dass auch eine Haftung des Beklagten zu 2. – gegebenenfalls beschränkt auch nur auf die Betriebsgefahr des Fahrzeuges – außer Betracht zu bleiben habe.
Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Klage nach Anhörung der Beklagten zu 1. und der Vernehmung von Zeugen abgewiesen. Dabei hat das Landgericht das in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingeholte Gutachten des Sachverständigen H vom 29.09.2006 (Blatt 36-62 Beiakte Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Itzehoe ...) verwertet.
Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte zu 1. treffe an dem Unfall kein Verschulden, insbesondere sei sie nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch hinsichtlich eines Verstoßes gegen § 3 Abs. 2a StVO entlastet. Angesichts des weit überwiegenden Verschuldens des Versicherten der Klägerin müsse sich der Beklagte zu 2. auch die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges nicht anrechnen lassen. Diese trete hinter das grob verkehrswidrige Verhalten zurück.
Zweitinstanzlich wiederholen und vertiefen die Parteien ihr erstinstanzliches Vorbringen, die Klägerin unter anderem durch Vorlage eines Gutachtens des Städtischen Krankenhauses Kiel vom 27.10.2010 (Blatt 193-201 d. A.).
Wegen der tatsächlichen Feststellungen wird ergänzend auf das angefochtene Urteil nebst darin enthaltener Verweisungen Bezug genommen.
Die zulässige Berufung der Klägerin, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt und auf deren Zurückweisung die Beklagten antragen, ist unbegründet.
Im Ergebnis zutreffend hat das Landgericht mit dem angefochtenen Urteil die Klage abgewiesen. Zwar durfte das Landgericht den Vortrag der Klägerin zur Schwindelsymptomatik ihres Versicherten nicht ohne Weiteres als Vortrag „ins Blaue hinein“ abtun, worauf der Senat bereits mit Verfügung vom 26. August 2010 hingewiesen hat.
Der daraufhin vertiefte Vortrag der Klägerin vermag aber die geltend gemachten Ansprüche auch nicht zu rechtfertigen.
Ansprüche gegen die Beklagte zu 1., vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Haftung als Führer des Kraftfahrzeuges gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 StVG scheitern daran, dass sie den Beweis mangelnden Verschuldens im Sinne von § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG geführt hat. Zwar oblagen der Beklagten zu 1. im Hinblick auf den Versicherten der Klägerin die gesteigerten Rücksichtnahmepflichten aus § 3 Abs. 2a StVO; zum Unfallzeitpunkt war der Versicherte der Klägerin nicht nur 68 Jahre alt, und damit „älterer Mensch“ im Sinne von § 3 Abs. 2a StVO, sondern er bedurfte zusätzlich der Rücksichtnahme aufgrund der von allen Zeugen beschriebenen unsicheren Fahrweise. Dabei verlangt § 3 Abs. 2a StVO aber keinen unbedingten Gefährdungsausschluss im Sinne absoluter Vermeidbarkeit (Hentschel, StVG, 40. Aufl. § 3 StVO Rn. 29a), vielmehr muss auch eine Gefahr für verkehrswidriges Verhalten voraussehbar sein (Hentschel a. a. O., Rn. 29b a. E. m. w. N.). Den gesteigerten Rücksichtnahmeanforderungen hat die Beklagte zu 1. – entgegen der Auffassung der Klägerin – genügt. Angesichts des von rechts herannahenden Radfahrers hat die Beklagte zu 1. ihr Fahrzeug abgebremst, aus einer zuvor gefahrenen Geschwindigkeit von – ohnehin mäßigen – circa 60 km/h (die zulässige Höchstgeschwindigkeit an der außerorts gelegenen Unfallstelle betrug 70 km/h) auf etwa 40 km/h. Dies ergibt sich nicht nur aus den Angaben des Zeugen ..., der mit seinem Fahrzeug unmittelbar hinter dem der Beklagten zu 1. fuhr und bei seiner Vernehmung vor dem Landgericht bekundet hat, die gefahrene Geschwindigkeit habe vor dem Abbremsen maximal 60 km/h betragen, dies, weil es auch sehr voll gewesen sei. Auch der Sachverständige H hat in seinem Gutachten eine Kollisionsgeschwindigkeit von rund 35-45 km/h errechnet, zudem eine Ausgangsgeschwindigkeit des Pkw von „deutlich unterhalb von 70 km/h“. Entgegen der Auffassung der Klägerin bestand für die Beklagte zu 1. hingegen keine Veranlassung, ihr Fahrzeug weiter, gegebenenfalls sogar bis zum Stillstand abzubremsen. Denn es steht fest, dass der Versicherte der Klägerin nicht etwa geradewegs auf die viel befahrene Bundesstraße gefahren ist, sondern dass er sich entschloss, wie auch zu erwarten war, auf dem Fahrradweg gleichgerichtet zur Bundesstraße zu fahren. Damit ließ die Verkehrssituation „an sich“ keine Gefahr mehr erwarten. Die Beklagte zu 1. durfte das tun, was sie gegenüber den Unfall aufnehmenden Polizisten angegeben hat, nämlich vom Bremspedal gehen. Zu diesem Zeitpunkt, als sich der Versicherte der Klägerin gleichgerichtet mit seinem Fahrrad zur Bundesstraße bewegte, bestand aus objektiver Sicht eine Gefahr für ein verkehrswidriges Verhalten nicht. Diese Fahrweise des Versicherten der Klägerin hat nicht nur die Beklagte zu 1. in ihrer persönlichen Anhörung vor dem Landgericht bestätigt, sondern auch der Zeuge ... hat entsprechendes beschrieben. Dies entspricht auch den Angaben des verstorbenen Zeugen ... bei seiner Vernehmung im Rahmen des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens; der Zeuge .... befuhr seinerzeit die Bundesstraße in der entgegengesetzten Richtung. Der Zeuge hat dort (Blatt 17 der Beiakte) bekundet: „... Der Radfahrer fuhr erst gerade in meine Richtung, aber etwas unsicher, wie ich beobachten konnte. Dann machte er einen kurzen „Schlenker“ nach links, schaute auch nach links, zog aber wieder gerade, um dann wirklich eine Sekunde später mit einem ausholenden Schlenker nach links über den Grünstreifen hinweg auf die Fahrbahn zu ziehen ...“. Ganz ähnlich hat auch der Zeuge ... das Fahrverhalten des Herrn A beschrieben.
Dass der Versicherte der Klägerin plötzlich und unvermittelt von dem Radweg direkt vor das Fahrzeug der Beklagten zu 1. fahren würde, war in keiner Weise vorhersehbar. Gleichwohl hat es die Beklagte zu 1. nach den Feststellungen des Sachverständigen H sogar noch geschafft, ihr Fahrzeug vor der Kollision zumindest noch leicht abzubremsen. Ob der Versicherte der Klägerin allerdings tatsächlich über den an den Einmündungsbereich der Straße „...“ anschließenden Grünstreifen auf die Fahrbahn der Bundesstraße gefahren ist, erscheint dem Senat zwar zweifelhaft; gleichwohl steht aber fest, dass er eine gewisse Zeitspanne und ein gewisses Stück auf dem Radweg entlang der Bundesstraße gefahren ist, bevor er sich – aus welchen Gründen auch immer - entschloss, aus seiner Sicht nach links in den fließenden Verkehr hineinzufahren. Die Tatsache, dass ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen H der Kollisionspunkt sich noch vor dem Einmündungsbereich der Straße „...“ befand, steht dem nicht entgegen. Wenn der Versicherte der Klägerin die Straße „...“ mittig befuhr (vergleiche Lichtbild Nr. 14 der Fotoanlage zum Gutachten H Blatt 54 der Beiakte unten), und aus dieser Position in den vorbeilaufenden Radweg eingeschwenkt ist, war es ihm ohne weiteres möglich, noch einige Meter gleichgerichtet zur Bundesstraße auf dem Radweg zu fahren.
Die Beklagte zu 1. konnte und musste mit einem derart irrationalen Fahrverhalten des Versicherten der Klägerin auch unter Berücksichtigung der Vorgaben des § 3 Abs. 2a StVO aber nicht rechnen, sodass sie sich von ihrem in § 18 Abs. 1 Satz 1 StVG vermuteten Verschulden entlastet ist.
Auch der Beklagte zu 2., den grundsätzlich die Halterhaftung aus § 7 Abs. 1 StVG trifft, ist der Klägerin nicht zum Schadensersatz verpflichtet. Denn das Mitverschulden des Versicherten der Klägerin (§ 9 StVG in Verbindung mit § 254 Abs. 1 BGB) überwiegt soweit, dass auch die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Beklagten zu 2. dahinter vollständig zurücktritt. Zurecht hat das Landgericht ausgeführt, die – oben näher beschriebene – Fahrweise des Versicherten der Klägerin stelle einen so groben Verkehrsverstoß dar, dass es ausnahmsweise gerechtfertigt erscheine, auch die Betriebsgefahr des unfallbeteiligten Kraftfahrzeuges vollständig hinter das weit überwiegende Mitverschulden des Versicherten zurücktreten zu lassen. Dem steht entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht § 827 Satz 1 BGB entgegen, wonach derjenige, der im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt, für den Schaden nicht verantwortlich ist. Zwar gelten anerkanntermaßen auch im Rahmen des § 254 BGB die §§ 827, 828 BGB entsprechend (vergleiche nur MüKo BGB Oettker, 5. Aufl. § 254 Rn. 34 m. w. N.); dass sich der Versicherte der Klägerin in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat, als er auf die Straße auffuhr, ist aber weder hinreichend dargelegt noch gar bewiesen. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin unterstellen wollte, dass ihr Versicherter unmittelbar vor dem Auffahren auf die Bundesstraße einen akuten Schwindelanfall erlitten hätte, was aber nicht feststeht, sondern allenfalls deshalb vermutet werden kann, weil die im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren und auch vor dem Landgericht gehörten Zeugen von einer schwankenden Fahrweise des Radfahrers berichtet haben, läge kein Fall des § 827 Satz 1 BGB vor, denn auch ein akuter Schwindel führt, worauf der Senat bereits mit Verfügung vom 27.09.2010 (Blatt 177/178 der Akten) hingewiesen und auf deren Inhalt zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird, nicht, schon gar nicht zwingend zu einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand. Das von der Klägerin zur Akte gereichte Gutachten des Chefarztes der Geriatrischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Kiel ergibt nichts Gegenteiliges. Zwar heißt es in dem Gutachten, es erscheine plausibel, dass die Einschränkungen des Versicherten der Klägerin unfallkausal gewesen seien, dies müsse jedoch in der retrospektiven Betrachtung spekulativ bleiben (Seite 9 des Gutachtens/Blatt 201 der Akte). Auch die dort angezweifelte Verkehrstauglichkeit des Versicherten der Klägerin hat nichts mit einem Ausschluss oder der Minderung der Verantwortlichkeit im Sinne von § 827 Satz 1 BGB zu tun. Vielmehr verbleibt es bei einem so hohen Mitverschulden, dass den Beklagten zu 2. – und damit auch die Beklagte zu 3. – auch keine Haftung aus der Betriebsgefahr des Fahrzeuges trifft.
Die nachgereichten Schriftsätze der Klägerin vom 21. und 22.01.2011 geben keinen Anlass, die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen, wird dort doch nur das bisherige tatsächliche und rechtliche Vorbringen wiederholt; lediglich soweit die Klägerin nunmehr der Auffassung ist, die Benutzung des Rades durch ihren Versicherten sei nicht unfallkausal, ist anzumerken, dass derartiges für den Senat unverständlich ist, das Vorbringen dazu ist auch nicht weiter entscheidungserheblich.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10 und 711 ZPO.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen, handelt es sich doch erkennbar um eine Einzelfallentscheidung, nicht vor.