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BGH Beschluss vom 08.01.2013 - VI ZB 78/11 - Anforderungen an die Ausgangskontrolle bei fristgebundenen Schriftsätzen
BGH v. 08.01.2013: Zu den Anforderungen an die Ausgangskontrolle bei fristgebundenen Schriftsätzen
Der BGH (Beschluss vom 08.01.2013 - VI ZB 78/11) hat entschieden:
Die für die Ausgangskontrolle zuständige Kanzleikraft ist anzuweisen, Fristen im Kalender grundsätzlich erst zu streichen oder als erledigt zu kennzeichnen, nachdem sie sich anhand der Akte vergewissert hat, dass zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen ist.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Beklagten verurteilt, an den Kläger 3.075,45 € nebst Zinsen zu zahlen. Gegen das am 29. Juni 2011 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit einem bei Gericht am 29. Juli 2011 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung ist mit einem am selben Tag bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 5. September 2011 erfolgt.
Nachdem das Berufungsgericht den Beklagten auf die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist hingewiesen hatte, hat dieser fristgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Beklagtenvertreter hat vorgetragen, die am 29. August 2011 ablaufende Berufungsbegründungsfrist sei im Fristenkalender des Rechtsanwalts, auf dem Urteil des Amtsgerichts und in der Handakte notiert worden. Zusätzlich sei dem Rechtsanwalt am 24. August 2011 ein Kostenfestsetzungsantrag des Klägervertreters übermittelt worden, für den das Amtsgericht eine Frist zur Stellungnahme binnen zehn Tagen gesetzt habe. Diese Frist sei am Montag, dem 5. September 2011, abgelaufen. Sie sei ebenfalls im Fristenkalender des Rechtsanwalts, auf dem Begleitschreiben des Amtsgerichts zum Kostenfestsetzungsantrag des Klägers und in der Handakte notiert worden.
Die Angelegenheit sei von Rechtsanwalt G. bearbeitet worden. Mit Schriftsatz vom 26. August 2011 habe dieser zum Kostenfestsetzungsantrag des Klägers Stellung genommen. Nach Unterzeichnung des Schriftsatzes habe Rechtsanwalt G. die geschulte und zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte B. angewiesen, diese Stellungnahme vorab an das Amtsgericht zu faxen, die Stellungnahmefrist vom 5. September 2011 zu streichen und ihm die Akte sodann sofort wieder vorzulegen. Frau B. sei in der Kanzlei zur Fristüberwachung zuständig und angewiesen. Diese habe am 26. August 2011 versehentlich nicht die Frist vom 5. September 2011 zur Stellungnahme zum Kostenfestsetzungsantrag des Klägers gestrichen, sondern die Frist zur Berufungsbegründung vom 29. August 2011. Danach sei die Akte auf den Wiedervorlagestapel gelegt worden, um in die Aktenschränke einsortiert zu werden. Gegen Ende der Woche würden die Fristakten für die darauffolgende Woche gesammelt und dem jeweiligen Sachbearbeiter am Montag vorgelegt. Da in der streitgegenständlichen Akte weiterhin die Frist für den 5. September 2011 notiert gewesen sei, sei auch diese Akte Herrn Rechtsanwalt G. an diesem Tag zusammen mit einem Fristvermerk für den 5. September 2011 auf der Akte vorgelegt worden. In der Annahme, dass es sich hierbei um die Berufungsbegründungsfrist handele, habe dieser die Berufungsbegründung fertiggestellt und beim Landgericht eingereicht.
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag durch den angefochtenen Beschluss zurückgewiesen und die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen. Die Fristversäumung beruhe auf einem Organisationsverschulden, weil der Beklagtenvertreter nicht eine Ausgangskontrolle vorgetragen habe, durch die sichergestellt sei, dass Fristen erst nach einer ordnungsgemäßen Kontrolle gelöscht werden dürften.
II.
Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen, nicht erfüllt sind.
1. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Der angefochtene Beschluss verletzt den Beklagten weder in seinem verfahrensrechtlich gewährleisteten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) noch dessen rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Danach darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. Senatsbeschlüsse vom 5. November 2002 - VI ZB 40/02, NJW 2003, 437; vom 12. April 2011 - VI ZB 6/10, VersR 2012, 506 Rn. 5; vom 17. Januar 2012 - VI ZB 11/11, VersR 2012, 1009 Rn. 6).
2. Die angefochtene Entscheidung entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das Berufungsgericht hat zu Recht ein Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten des Beklagten angenommen, welches gemäß § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei gleichsteht.
a) Die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ist zwar zunächst darauf zurückzuführen, dass die Kanzleiangestellte versehentlich diese Frist im Fristenkalender gestrichen hat, obgleich sie die Frist zur Stellungnahme auf den Kostenfestsetzungsantrag streichen wollte. Insoweit verweist die Rechtsbeschwerde mit Recht darauf, dass ein solches Fehlverhalten einer ansonsten zuverlässigen Kanzleiangestellten im Einzelfall einer Prozesspartei - anders als ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten - nicht zuzurechnen ist.
b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist allerdings die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht allein auf das Versehen der Kanzleiangestellten zurückzuführen. Im Streitfall hat das Berufungsgericht vielmehr den Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten zu Recht deshalb zurückgewiesen, weil die Fristversäumung auf ein Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten des Beklagten zurückzuführen ist, welches sich hier ausgewirkt hat. Aus dem Vortrag des Beklagtenvertreters ergibt sich nämlich nicht, dass eine Kanzleianweisung besteht, aufgrund welcher nach Bearbeitung einer Sache eine Kontrolle durchgeführt wird, die sicherstellt, dass zur Fristwahrung nichts mehr zu veranlassen ist.
aa) Die vom Berufungsgericht insoweit gestellten Anforderungen an die Sorgfaltspflicht eines Prozessbevollmächtigten stehen in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Danach gehört es zu den Aufgaben des Prozessbevollmächtigten, dafür Sorge zu tragen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig erstellt wird und innerhalb der Frist bei dem zuständigen Gericht eingeht. Zu diesem Zweck muss der Prozessbevollmächtigte nicht nur sicherstellen, dass ihm die Akten von Verfahren, in denen Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsfristen laufen, rechtzeitig vorgelegt werden. Er muss vielmehr zusätzlich eine Ausgangskontrolle schaffen, durch die zuverlässig gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze auch tatsächlich rechtzeitig hinausgehen. Da für die Ausgangskontrolle in jedem Anwaltsbüro ein Fristenkalender unabdingbar ist, muss der Rechtsanwalt sicherstellen, dass die im Kalender vermerkten Fristen erst gestrichen werden (oder ihre Erledigung sonst kenntlich gemacht wird), wenn die fristwahrende Maßnahme durchgeführt, der Schriftsatz also gefertigt und abgesandt oder zumindest postfertig gemacht, die weitere Beförderung der ausgehenden Post also organisatorisch zuverlässig vorbereitet worden ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 23. Mai 2006 - VI ZB 77/05, VersR 2006, 1563 Rn. 5; vom 12. April 2011 - VI ZB 6/10, aaO, Rn. 7; vom 17. Januar 2012 - VI ZB 11/11, aaO, Rn. 9). Dabei ist der für die Kontrolle zuständige Angestellte anzuweisen, Fristen im Kalender grundsätzlich erst zu streichen oder als erledigt zu kennzeichnen, nachdem er sich anhand der Akte vergewissert hat, dass zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. März 1996 - III ZB 13/96, VersR 1996, 1298; vom 6. November 2001 - XI ZB 11/01, BGHR ZPO § 233 Ausgangskontrolle 17; vom 11. September 2007 - XII ZB 109/04, NJW 2007, 3497 Rn. 13).
bb) Der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags ist nicht zu entnehmen, dass in der Kanzlei der Beklagtenvertreter die danach erforderlichen organisatorischen Vorkehrungen getroffen wurden. Der Beklagte hat vielmehr die Auffassung vertreten, er müsse zu einem diesbezüglichen Organisationssystem nicht vortragen, weil die Ordnungsgemäßheit der Ausgangskontrolle im Hinblick auf den Fehler der Kanzleiangestellten keine Rolle spiele. Dies ist indes nicht der Fall, weil der Fehler der Kanzleiangestellten durchaus hätte erkannt werden können, wenn sie sich bei der Ausgangskontrolle anhand der Akte vergewissert hätte, ob zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen sei.