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OLG Koblenz Urteil vom 08.12.2003 - 12 U 1227/02 - Zusammenstoß eines überholenden Taxi mit einem nach links in eine Parkbucht abbiegenden Kfz
OLG Koblenz v. 08.12.2003: Zusammenstoß eines überholenden Taxi mit einem nach links in eine Parkbucht abbiegenden Kfz
Das OLG Koblenz (Urteil vom 08.12.2003 - 12 U 1227/02) hat entschieden:
Kollidiert ein Linksabbieger, der in eine schräg angeordnete Parkbucht neben der Gegenfahrbahn einfahren will, mit einem Fahrzeug, das erkennbar überholen will, so trifft den Linksabbieger eine Mithaftung von mindestens einem Viertel.
Gründe:
I.
Die Parteien streiten um restliche Schadensersatzansprüche der Klägerin aus einem Verkehrsunfall, der sich am 24. Februar 2000 gegen 09.05 Uhr auf der zunächst stark abfallenden, am Unfallort aber nur noch ein Gefälle von 6,5 % aufweisenden Straße A. M. in M. ereignet hat. Die Klägerin befuhr diese 6,45 m breite Straße mit ihrem Pkw in Richtung R.- Straße. In Höhe des Parkhotels F. wollte sie nach links in eine Parkbucht einbiegen und verlangsamte ihre Fahrgeschwindigkeit. Die Parkbuchten sind dort an beiden Fahrbahnen in einem Winkel von 45° in die jeweilige Fahrtrichtung ausgerichtet, so dass die Klägerin nur in einem Bogen von etwa 135° nach links in eine Parkbucht neben der Gegenfahrspur hätte einfahren können. Hinter ihr fuhr der grüne Pkw eines unbekannt gebliebenen Fahrzeugführers, der infolge des Fahrmanövers der Klägerin auch seine Fahrt verlangsamen musste und die Lichthupe betätigte. Dahinter fuhr der Erstbeklagte mit dem Taxi, dessen Halterin die Zweitbeklagte und das bei der Drittbeklagten gegen Haftpflicht versichert ist. Der Erstbeklagte scherte mit dem Taxi aus und wollte die vor ihm befindlichen Fahrzeuge überholen, als die Klägerin erst einen Schlenker nach rechts machte und dann nach links zum Abbiegen ansetzte. Der Überholer fuhr mit mindestens 40 km/h. Er kollidierte mit der Linksabbiegerin, indem er in die linke Flanke des Fahrzeugs der Klägerin stieß. Beide Fahrzeugführer wurden verletzt, ihre Fahrzeuge erheblich beschädigt. Die Drittbeklagte hat den Sachschaden der Klägerin vorgerichtlich auf der Grundlage einer Haftungsquote von 75% reguliert, wozu sie 12.618,11 Euro gezahlt hat. Nach Klageerhebung hat sie auch eine Schmerzensgeldforderung von 766,94 Euro zu 75 % erfüllt, also 575,20 Euro hierauf gezahlt; insoweit wurde von den Parteien in erster Instanz übereinstimmend die Hauptsache für erledigt erklärt, was bei der Kostenentscheidung zu beachten ist. Mit der im Übrigen weiter verfolgten Klage hat die Klägerin ihren restlichen Schaden ersetzt verlangt.
Die Klägerin hat geltend gemacht, sie habe der doppelten Rückschaupflicht Genüge getan und den Blinker gesetzt. Der Unfall sei für sie ein unabwendbares Ereignis gewesen. Sie sei bereits nahezu in die Parkbucht eingebogen gewesen, als der Erstbeklagte ihr Fahrzeug gerammt habe. Die Klägerin hat beantragt, die Beklagten zu 1) bis 3) als Gesamtschuldner zu verurteilen, 4.359,45 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz an sie zu zahlen, ferner die Beklagten zu 1) und zu 3) zu verurteilen, an sie ein restliches Schmerzensgeld in Höhe von 191,73 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 5. März 2001 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen. Sie haben geltend gemacht, die Klägerin müsse sich eine Mithaftung anrechnen lassen, welche mit 25 % zu bewerten sei. Die Parkbuchten am rechten Fahrbahnrand seien nicht sämtlich belegt gewesen, sodass die Klägerin zum Parken auch nach rechts hätte fahren können. Stattdessen habe sie verkehrsbehindernd mitten auf der Fahrbahn angehalten und dann nach links gezogen, um die dort befindlichen Parkbuchten anzustreben. Der Unfall habe sich zu Beginn des Abbiegemanövers zugetragen. Dass die Klägerin den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt habe, werde ebenso bestritten, wie die Beachtung der doppelten Rückschaupflicht.
Das Landgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Es hat ausgeführt, den Erstbeklagten treffe ein überwiegendes Verschulden, hinter das ein etwaiges Mitverschulden der Klägerin völlig zurücktrete. Das überwiegende Verschulden des Erstbeklagten sei darin zu sehen, dass er in einer unklaren Situation zwei vorausfahrende Fahrzeuge habe überholen wollen. Weil diese Pkws ihre Fahrt auffällig verlangsamt hätten, habe der Erstbeklagte damit rechnen müssen, dass ein Abbiegemanöver bevorstehe. Ein Mitverschulden der Klägerin sei - nur - im Ansatz möglich, weil sie bei doppelter Rückschau das Taxi hätte erkennen können. Daraus folge aber im Ergebnis keine Mithaftung der Klägerin; denn mit einem so riskanten Überholmanöver habe sie nicht rechnen müssen. Ihr sei daher dem Grunde nach Schadensersatz in vollem Umfang zuzubilligen. Hinsichtlich des Anspruchsumfangs seien ihr nur 300 DM anteilige Abschleppkosten nicht zuzubilligen, weil nach dem Totalschaden ein Verbringen des schrottreifen Fahrzeugs von M. nach H. nicht erforderlich gewesen sei. Auch die Zinsforderung sei übersetzt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der diese unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Abweisung der Klage auf Ersatz der restlichen Schäden erstreben. Sie bemängeln, dass das Landgericht nicht nur die Betriebsgefahr, sondern auch ein Mitverschulden der Klägerin als vom Verschulden des Erstbeklagten verdrängt angesehen habe. Ein Vertrauenstatbestand darin, dass ein Überholer nicht auftauchen werde, habe im konkreten Fall nicht bestanden. Das Landgericht habe zu Unrecht angenommen, das Fahrzeug des Erstbeklagten habe sich nur "wahrscheinlich" bereits ganz auf der Gegenfahrbahn befunden, als die Klägerin abgebogen sei. Auch sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin zuerst einen Schlenker nach rechts gemacht habe, um eine der rückwärts geneigten Parkbuchten jenseits der Gegenfahrspur zu erreichen.
Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Hinsichtlich der Feststellungen verweist der Senat auf das angefochtene Urteil (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist dahin abzuändern, dass die Klage abgewiesen wird. Der Klägerin steht jedenfalls kein Schadensersatzanspruch über die bereits von der Drittbeklagten gezahlten Beträge hinaus zu. Sie trifft ein Mithaftungsanteil von mindestens 25%.
Es lag für die Klägerin kein unabwendbares Ereignis vor. Sie trifft auch ein Mitverschulden, weil sie bei dem erkennbaren Überholvorgang des Erstbeklagten abgebogen ist; aus dem Ablauf ergibt sich zugleich, dass die doppelte Rückschaupflicht verletzt wurde.
Die Klägerin hat vor Beginn des Abbiegens zunächst nach rechts ausgeholt; das geht aus der Aussage des Zeugen E. hervor. Dadurch war die Erkennbarkeit ihres Vorhabens für einen weiteren nachfolgenden Kraftfahrer erschwert und zugleich waren die Anforderungen an die Sorgfalt der Klägerin erhöht. Von der Verpflichtung zur zweiten Rückschau war die Klägerin auch nicht etwa deshalb entbunden, weil sie sich für ihr weitausgreifendes Abbiegemanöver nicht zur Straßenmitte hin hatte einordnen können (KG VersR 1982, 374).
Die Klägerin hätte zudem den Überholvorgang des Erstbeklagten bereits erkennen und darauf reagieren können, als sie zum langsamen Befahren der Gegenfahrspur ansetzte. Die Sichtmöglichkeit dazu war vorhanden; das hat der Sachverständige Dipl. Ing. H. nachvollziehbar erläutert. Für die zeitliche Erkennbarkeit dieses Überholvorgangs spricht, dass das Fahrzeug des Erstbeklagten zwei andere Fahrzeuge einschließlich des hinter der Klägerin fahrenden Pkw Audi überholen wollte; es befand sich nach dem gesamten Ablauf zur sicheren Überzeugung des Senats bereits vollständig auf der linken Fahrspur, als die Klägerin zum Abbiegen ansetzte. Die Klägerin hatte ihren Abbiegevorgang gerade erst begonnen, als die Kollision erfolgte. Das ergibt sich aus der Aussage des Zeugen E. und der Bestimmung des - spitzen - Kollisionswinkels anhand des Beschädigungsbildes an den Fahrzeugen durch den Sachverständigen Dipl. Ing. H. Der Vortrag der Klägerin, dass sie das Abbiegemanöver bereits größtenteils durchgeführt hatte, als es zur Kollision kam, wird hierdurch widerlegt.
Aus allem ist zu entnehmen, dass die Klägerin ihrer Rückschaupflicht nicht ausreichend Genüge getan hat. Dieses Mitverschulden der Klägerin wird, wie die Berufung zu Recht geltend macht, im vorliegenden Fall nicht durch das Gewicht des Verschuldens des Erstbeklagten konsumiert. Auch die Mithaftung der Klägerin aufgrund der Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs tritt nicht völlig hinter das Verschulden des Erstbeklagten zurück. Dafür spricht bereits, dass die Klägerin unter Überqueren der Gegenfahrspur in eine aus ihrer Sicht um 45° nach rückwärts geneigte Parkbucht einfahren wollte. Sie musste also einen Bogen von 135° fahren. Dazu hat sie zunächst nach rechts ausgeholt. Ihr gesamtes Fahrmanöver hat eine erhöhte Betriebsgefahr begründet und verstärkte Sorgfaltspflichten ausgelöst.
Die Klägerin durfte bei dieser Sachlage nicht darauf vertrauen, dass kein anderes Fahrzeug überholen würde. Die zweite Rückschau unmittelbar vor dem Abbiegen, zu der der Abbieger verpflichtet ist, ist nur dann entbehrlich, wenn jede Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs und durch diesen Verkehr technisch ausgeschlossen ist (KG VersR 1982, 374; Urteil vom 20. November 1995 - 12 U 5436/94). Das sind die Fälle absoluter Verkehrsstille sowie diejenigen, in denen sich der Abbieger so weit links eingeordnet hat, dass er dort aus Gründen der Straßenführung nicht oder nur unter einem besonders schweren Verkehrsverstoß, z. B. Linksumfahren eines Fahrbahnteilers oder einer besonders abgesicherten Linksabbiegerspur, überholt werden kann. Das war hier aber nicht der Fall.
Nach allem ist eine Mithaftung der Klägerin gegeben, die auch unter Berücksichtigung des Verschuldens des Erstbeklagten, der in unklarer Verkehrslage zwei vor ihm befindliche Fahrzeuge überholen wollte, mindestens 25 % beträgt (vgl. für eine solche Haftungsquote OLG Bremen DAR 1965, 211; OLG Düsseldorf VersR 1970, 1161; KG VerkMitt. 1995, 22; OLG Köln RuS 1985, 264; LG München I VersR 1983, 936; zu einer nach den Umständen des Einzelfalls weiter gehenden Haftung des Linksabbiegers OLG Hamm VersR 1976, 1094 [Ls.] und VersR 1981, 340: 33,3 : 66,6; OLG Köln DAR 1977, 192: 40 : 60; OLG Düsseldorf VersR 1974, 864 [Ls.], OLG Hamm VersR 1987, 1225 [Ls.] und KG VersR 1982, 374: 50 : 50; LG Hannover RuS 1983, 203 f.: 100 %; bei einem Rechtsausholen des Linksabbiegers OLG Frankfurt VersR 1970, 1037: 80 : 20).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92, 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Ein Grund zur Zulassung der Revision liegt nicht vor.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt
4.551,18 Euro hinsichtlich der Klage gegen die Beklagten zu 1) und 3),
4.359,45 Euro hinsichtlich der Klage gegen den Beklagten zu 2).