Das Verkehrslexikon

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OLG Oldenburg Urteil vom 22.05.2013 - 2 SsBs 103/13 - Keine rückwirkende Prüfung von Augenblicksversagen bei beharrlicher Pflichtverletzung

OLG Oldenburg v. 22.05.2013: Keine rückwirkende Prüfung von Augenblicksversagen bei beharrlicher Pflichtverletzung


Das OLG Oldenburg (Urteil vom 22.05.2013 - 2 SsBs 103/13) hat entschieden:
Ohne aus dem Verkehrszentralregister ersichtliche Anhaltspunkte, muss das Tatgericht, bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Regelfalls der beharrlichen Geschwindigkeitsüberschreitung, nicht ermitteln, ob bei der ersten - durch einen Bußgeldbescheid geahndeten - Tat, ein sog. Augenblicksversagen vorgelegen hat.


Gründe:

Durch Urteil des Amtsgerichts Aurich ist gegen den Betroffenen wegen einer 2.7.2011 begangenen fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung innerhalb geschlossener Ortschaften um 28 km/h, eine Geldbuße in Höhe von 125,- € und ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat festgesetzt worden. Das Amtsgericht hat dabei aus dem Verkehrszentralregister entnommen, dass gegen den Betroffenen mit einem Bußgeldbescheid, rechtskräftig seit dem 02.03.2011, wegen einer am 29.12.2010 außerorts begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 30 km/h, eine Geldbuße von 80,- € festgesetzt worden war.

2 Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Rüge der Verletzung materiellen Rechts, sowie die näher ausgeführte Rüge der Verletzung formellen Rechts erhebt und mit letzterer beanstandet, dass das Amtsgericht die der Voreintragung zugrundeliegende Bußgeldakte nicht beigezogen habe. Hierzu hatte er unter Beweis gestellt, dass seinerzeit lediglich ein sogenanntes Augenblicksversagen vorgelegen habe, weil die Geschwindigkeit vor dem Tatort nur durch ein einzelnes Verkehrszeichen begrenzt gewesen sei.

3 Die Generalstaatsanwaltschaft ist der Ansicht, die Rechtsbeschwerde dürfe wegen Nichtbeiziehung der Verwaltungsakte einen vorläufigen Erfolg haben.

4 Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde ist mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts zulässig begründet worden.

5 Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

6 Das Amtsgericht hat sich zunächst rechtsfehlerfrei davon überzeugt, dass der Betroffene Fahrzeugführer gewesen ist und die ihm vorgeworfene Geschwindigkeitsüberschreitung begangen hat. Die Urteilsgründe genügen dabei den Anforderungen, die bei einem standardisierten Messverfahren zu erfüllen sind.

7 Entgegen der Auffassung des Betroffenen und der Generalstaatsanwaltschaft war das Amtsgericht nicht verpflichtet, durch Beiziehung der Bußgeldakte des der Voreintragung zugrundeliegenden Verkehrsverstoßes dessen nähere Umstände aufzuklären.

8 Es liegt zunächst ein Regelfall nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Bußgeldkatalogverordnung vor. Danach kommt die Anordnung eines Fahrverbotes allerdings lediglich „in Betracht“. Diese Fassung trägt im Zusammenhang mit der Ausnahmeregelung des Absatz 4 einerseits der richterlichen Entscheidungsfreiheit Rechnung und erlaubt es, die Umstände des konkreten Falles in objektiver und subjektiver Hinsicht bei der Bewertung und Entscheidung zu berücksichtigen. Andererseits werden hierdurch aber auch die Gerichte der Verpflichtung enthoben, die Angemessenheit der verhängten Rechtsfolgen besonders zu begründen, wenn keine Anhaltspunkte für ein Abweichen ersichtlich sind (BGH NJW 1992, 1397 f).

9 Die Grundsätze, die der BGH zum Augenblicksversagen bei „groben“ Pflichtwidrigkeiten entwickelt hat, gelten dabei auch für Fälle „beharrlicher“ Pflichtwidrigkeit, da die Grundkonstellationen in beiden Fallgruppen einander entsprechen (OLG Köln NZV 03, 397 f; OLG Hamm NZV 2000, 92 f).

10 Das bedeutet aber nicht, dass im vorliegenden Fall zu klären gewesen wäre, ob bei der ersten Tat ein Augenblicksversagen vorgelegen hat.

11 Eine Beharrlichkeit i. S. von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG ist nicht gegeben, wenn der dem Kraftfahrzeugführer vorgeworfene Verstoß, der die „Beharrlichkeit“ begründen soll, auf ein sogenanntes „Augenblicksversagen“ zurückgeht (OLG Hamm NZV 2000, 92 f; vgl. OLG Köln NZV 03, 397 f). Es ist deshalb grundsätzlich lediglich darauf abzustellen, ob hinsichtlich der Wiederholungstat Anhaltspunkte für ein Augenblicksversagen vorliegen.

12 Demgegenüber hat eine derartige Überprüfung hinsichtlich der aus dem Verkehrszentralregister zu entnehmenden Vortat in der Regel nicht zu erfolgen. Allerdings findet sich in der Rechtsprechung verbreitet die Anforderung, dass es für die Feststellung einer beharrlichen Pflichtverletzung auch auf die Einzelheiten der vorangegangenen Zuwiderhandlung ankäme (Bayerisches ObLG NZV 89, 35; OLG Düsseldorf NZV 93, 319 f.; OLG Düsseldorf VRS 96. Bd., 66 ff; OLG Hamm, Beschluss vom 10.10.2002, 3 Ss OWi 727/02 (juris); vgl. auch Bayerisches ObLG NZV 04, 48 hinsichtlich der Überprüfung der Täterschaft früherer Verkehrsverstöße). In den zuletzt genannten Entscheidungen war es allerdings so, dass ein Regelfall nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Bußgeldkatalogordnung nicht vorlag.

13 In der Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 22.1.2001 (VRS 100. Bd., 356 ff) waren demgegenüber die Voraussetzungen des § 2 (a.F.) Abs. 2 Satz 2 Bußgeldkatalogverordnung erfüllt. Die Besonderheit des dortigen Sachverhaltes bestand allerdings darin, dass hinsichtlich der Voreintragung für eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts eine Geldbuße festgesetzt worden war, die es als naheliegend erscheinen ließ, dass das Gericht von einem geringen Verschulden des Betroffenen ausgegangen war. Der Vorwurf einer beharrlichen Geschwindigkeitsüberschreitung sei aber bei der ersten Wiederholungstat nicht gerechtfertigt, wenn das Verschulden bei der früheren Begehung gering gewesen sei (OLG Düsseldorf VRS 100. Bd., 356 ff).

14 In Fällen, in denen die Voraussetzungen des Regelfalls nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Bußgeldkatalogverordnung vorlagen, hat die Rechtsprechung deshalb eine weitergehende Überprüfungspflicht hinsichtlich der Vortat nur dann gefordert, wenn sich bereits aus der Voreintragung ergab, dass das Verschulden bei der früheren Tat gering war.

15 So ist es hier allerdings nicht. Für eine außerorts begangene Geschwindigkeits-überschreitung um 30 km/h war die Regelgeldbuße von 80,- € festgesetzt worden.

16 Eine generelle Überprüfung durch die Amtsgerichte ist nicht zu verlangen.

17 Zutreffend weist das Bayerische ObLG (DAR 04, 163 f ) nämlich darauf hin, dass eine Aufklärung hinsichtlich der Vortat kaum realisierbar sei. Bei den Eintragungen handele es sich zumeist um Bußgeldbescheide ohne gerichtliches Verfahren. Aus ihnen ergäben sich zumeist keine weiteren Angaben zum Tathergang. Gleiches gelte in aller Regel für die Akten der Bußgeldstelle, die zudem meist bereits nach kurzer Zeit nicht mehr zur Verfügung stünden, weil sie ausgesondert worden seien.

18 Da sich in vielen Fällen die Umstände der Vortat nicht mehr aufklären lassen dürften, würde -bei entsprechender Einlassung- in vielen Fällen eine Verurteilung wegen eines beharrlichen Verkehrsverstoßes trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Regelfalles der Bußgeldkatalogverordnung nicht mehr in Betracht kommen.

19 Dass eine entsprechende Sachverhaltsaufklärung nicht stattfinden muss, belastet die betroffenen Kraftfahrer auch nicht über Gebühr: Wie der Bundesgerichtshof zutreffend ausgeführt hat, hat es der Kraftfahrer gerade aufgrund der Konkretisierung der in § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG lediglich normativ umschriebenen Verkehrsverstöße, die nach der Bußgeldkatalogverordnung regelmäßig zur Verhängung eines Fahrverbotes führen sollen, selbst in der Hand, sein Verhalten im Verkehr so einzurichten, dass ihm die im Einzelfall besonders lästige Sanktionen nicht droht (BGH NJW 92, 1397 f).

20 So liegt es auch hier. Der Betroffen hätte es durch seine Fahrweise vermeiden können, die Voraussetzungen eines Regelfalls der Bußgeldkatalogverordnung zu erfüllen. Stattdessen ist er bereits 4 Monate nach Rechtskraft der Voreintragung erneut erheblich zu schnell gefahren.

21 Soweit ersichtlich, gibt es keine einschlägige Entscheidung, bei der die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 Bußgeldkatalogversordnung vorlagen, sich aus dem Verkehrszentralregister keine Besonderheiten hinsichtlich des Schuldvorwurfes der ersten Tat ergaben und das Amtsgericht gleichwohl als verpflichtet angesehen worden ist, die Einzelheiten zur Vortat aufzuklären. Einer Vorlage an den BGH durch den Senat bedurfte es deshalb nicht.

22 Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG.

23 Die Verhängung des Fahrverbots ist mit dieser Entscheidung rechtskräftig. Der Führerschein ist spätestens am 22. September 2013 bei der Staatsanwaltschaft Aurich als der zuständigen Vollstreckungsbehörde in amtliche Verwahrung zu geben.