Das Verkehrslexikon

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VGH München Beschluss vom 03.06.2013 - 11 CE 13.738 - Zur Darlegungslast bei der Widerlegung eines Wohnsitzeintrags im EU-Führerschein

VGH München v. 03.06.2013: Zur Darlegungslast bei der Widerlegung eines Wohnsitzeintrags im EU-Führerschein


Der VGH München (Beschluss vom 03.06.2013 - 11 CE 13.738) hat entschieden:

1.  Vom Ausstellermitgliedstaat herrührende unbestreitbare Informationen widerlegen die Eintragung eines Wohnsitzes im Ausstellermitgliedstaat im EU-Führerschein des Betroffenen.

2.  Die Meldedaten sagen nichts Unwiderlegbares darüber aus, ob jemand tatsächlich einen Wohnsitz unter der gemeldeten Adresse unterhält. So ist es möglich, dass eine Person unter einer bestimmten Adresse mit Wohnsitz gemeldet ist, dort aber tatsächlich nicht wohnt, und ist es ebenso möglich, dass jemand eine Wohnung im Sinne des Art. 12 der EU-Richtlinie 2006/126/EG innehat, dort aber nicht gemeldet ist.

3.  Legt der Inhaber einer solchen EU-Fahrerlaubnis dar, dass entgegen der melderechtlichen Gegebenheiten die Wohnsitzvoraussetzung bei Erteilung der EU-Fahrerlaubnis im Ausstellermitgliedsstaat erfüllt war, ist nach allgemeinen Beweisregeln zu prüfen, ob der EU-Fahrerlaubnisinhaber dort entgegen der melderechtlichen Situation dennoch einen Wohnsitz in Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2006/126/EG im Ausstellermitgliedsstaat innehatte. Dabei dürfen die nationalen Gerichte des Aufnahmemitgliedsstaats „alle Umstände eines bei ihnen anhängigen Verfahrens berücksichtigen“.

4.  Unterlässt es ein Beteiligter aber ohne zureichenden Grund, seinen Teil zur Sachaufklärung beizutragen, obwohl ihm das ohne weiteres möglich und zumutbar ist und er sich der Erheblichkeit der in Rede stehenden Umstände bewusst sein muss, kann dieses Verhalten je nach den Gegebenheiten des Falles bei der Beweiswürdigung zu seinen Lasten berücksichtigt werden. Bei anwaltlich vertretenen Prteien ist die Mitwirkungspflicht grundsätzlich ausgeprägter als bei nicht anwaltlich vertretenen.

5.  Der Betroffene muss je nach den Umständen des Einzelfalls darlegen, an welchem Ort, unter welcher Adresse und in welchen Zeiträumen er den Wohnsitz innegehabt haben will, warum er dort dennoch nicht gemeldet war, in welchem Umfang er sich dort tatsächlich aufgehalten hat, um welche Art von Unterkunft es sich bei der angegebenen Adresse handelt (Pension, Hotel, Mietwohnung oder Ähnliches), zu welchem Zweck sich er dort aufgehalten hat und ob er im fraglichen Zeitraum einer beruflichen Tätigkeit im Inland oder im Ausstellermitgliedstaat nachgegangen ist, und hierzu etwaige Dokumente (Mietverträge, Nachweise über den Zahlungsverkehr und über geschäftliche Tätigkeiten, Arbeitsverträge etc.) vorlegen bzw. erläutern, warum solche nicht vorliegen.



Gründe:


Die zulässige Beschwerde, bei deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof auf die dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) beschränkt ist, ist unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat in Übereinstimmung mit und unter Wiedergabe der Rechtsprechung des Senats zutreffend dargelegt, dass vom Ausstellermitgliedstaat herrührende unbestreitbare Informationen die Eintragung eines Wohnsitzes im Ausstellermitgliedstaat im Führerschein des Antragstellers widerlegen. Hierauf wird verwiesen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Auf Grund der vom Ausstellermitgliedsstaat eingeholten Informationen steht fest, dass der Antragsteller am Tag der Ausstellung seiner tschechischen Fahrerlaubnis (am 23.11.2009) nicht mehr (nämlich nur vom 11.8.2008 bis 12.10.2009) mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik gemeldet war. Damit haben die tschechischen Behörden selbst die im Führerschein eingetragene Bestätigung, wonach der Antragsteller zum Zeitpunkt der Erteilung der Fahrerlaubnis einen Wohnsitz in der Tschechischen Republik hatte, widerlegt.

Der Senat geht davon aus, dass die tschechischen Behörden, die die Wohnsitzvoraussetzung auch nach tschechischem Recht zu prüfen haben, ebenso wie die deutschen Behörden die Meldedaten zugrunde legen, weil es den Führerscheinbehörden regelmäßig nicht möglich sein wird oder sie hierzu auch keine Veranlassung sehen, zu überprüfen, ob der Fahrerlaubnisbewerber tatsächlich unter der angemeldeten Adresse einen Wohnsitz im Sinne des im vorliegenden Fall wegen der Ausstellung des tschechischen Führerscheins nach dem 19. Januar 2009 anwendbaren Art. 12 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (Neufassung, ABl. L 403 S.18, vgl. Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG) innehat. Die Führerscheinbehörden werden sich entweder eine Meldebescheinigung vorlegen lassen, wenn die Erteilung einer Fahrerlaubnis beantragt wird, oder sie werden eine entsprechende Auskunft der Meldebehörden im Zuge der Bearbeitung des Antrags selbst einholen oder eine Abfrage bei einer zentralen Einwohnermeldedatei vornehmen. Danach richtet sich die Eintragung im Führerschein. Hier wurde der Wohnsitz ohne Beachtung der Meldedaten eingetragen, was die tschechischen Behörden nunmehr bestätigen und damit die Eintragung im Führerschein widerlegen. Der Anerkennungsgrundsatz mit der Vermutung der Richtigkeit der im EU-Führerschein dokumentierten Angaben gilt dann nicht mehr.

Der Beschwerde ist jedoch darin zu folgen, dass die Meldedaten nichts Unwiderlegbares darüber aussagen, ob jemand tatsächlich einen Wohnsitz unter der gemeldeten Adresse unterhält. So ist es möglich, dass eine Person unter einer bestimmten Adresse mit Wohnsitz gemeldet ist, dort aber tatsächlich nicht wohnt, und ist es ebenso möglich, dass jemand eine Wohnung im Sinne des Art. 12 der EU-Richtlinie 2006/126/EG innehat, dort aber nicht gemeldet ist. Die Meldung ist zunächst eine gegenüber den zuständigen Behörden in der Regel in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht abgegebene Erklärung einer Person, einen Wohnsitz unter einer angegebenen Adresse innezuhaben. Eine solche Erklärung einer Person kann in der Regel nur von der Meldebehörde geprüft werden, sei es weil sie die Meldedaten aller Personen unter der angegebenen Adresse kennt und/oder weil sie über die örtlichen Gegebenheiten Bescheid weiß.

Legt der Inhaber einer solchen EU-Fahrerlaubnis dar, dass entgegen der melderechtlichen Gegebenheiten die Wohnsitzvoraussetzung bei Erteilung der EU-Fahrerlaubnis im Ausstellermitgliedsstaat erfüllt war, ist nach allgemeinen Beweisregeln zu prüfen, ob der EU-Fahrerlaubnisinhaber dort entgegen der melderechtlichen Situation dennoch einen Wohnsitz in Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2006/126/EG im Ausstellermitgliedsstaat innehatte. Dabei dürfen die nationalen Gerichte des Aufnahmemitgliedsstaats „alle Umstände eines bei ihnen anhängigen Verfahrens berücksichtigen“ (vgl. EuGH, U.v. 1.3.2012, Akyüz – C-467/10 – Rn. 75).

Die Beschwerde stellt jedoch zu Unrecht nahezu ausschließlich darauf ab, dass die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller nicht nachgewiesen hat, dass er zum Zeitpunkt der Ausstellung der Tschechischen EU-Fahrerlaubnis am 23. November 2009 keinen Wohnsitz in Tschechien hatte. Die Beschwerde enthält keine Ausführungen zum behaupteten Wohnsitz, was aber notwendig gewesen wäre.



Das Verwaltungsverfahren kennt zwar ebenso wie der Verwaltungsprozess grundsätzlich keine Behauptungslast und Beweisführungspflicht, da Behörden und Verwaltungsgerichte den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln haben (vgl. Art. 24 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG bzw. § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO) jedoch sollen die Beteiligten bei der Sachaufklärung gemäß Art. 26 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BayVwVfG mitwirken bzw. sind sie hierzu nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO heranzuziehen. Unterlässt es ein Beteiligter aber ohne zureichenden Grund, seinen Teil zur Sachaufklärung beizutragen, obwohl ihm das ohne weiteres möglich und zumutbar ist und er sich der Erheblichkeit der in Rede stehenden Umstände bewusst sein muss, kann dieses Verhalten je nach den Gegebenheiten des Falles bei der Beweiswürdigung zu seinen Lasten berücksichtigt werden (vgl. zum Verwaltungsverfahren Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, § 26 Rn. 40 f. und 43 f., § 24 Rn. 12a ff. und 50; zum Verwaltungsprozess s. Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 86 Rn. 11 f., § 108 Rn. 17). Denn die gerichtliche Aufklärungsverpflichtung findet ihre Grenze in der Mitwirkungspflicht der Beteiligten (vgl. BayVGH, U.v. 25.3.2013 – 11 B 12.1068 – Rn. 31). Bei anwaltlich vertretenen Klägern ist die Mitwirkungspflicht grundsätzlich ausgeprägter als bei nicht anwaltlich vertretenen (Arntz, DVBl 2008, 82). Grundsätzlich hat jeder Prozessbeteiligte den Prozessstoff umfassend vorzutragen, also auch bei der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken; das gilt insbesondere für die "in seine Sphäre fallenden Ereignisse" (Kopp/Schenke, 17. Aufl. 2011, § 86 Rn. 11 m.w.N.).

Denn gerade dann, wenn ein Beteiligter sich nicht klar und eindeutig zu Gegebenheiten äußert, die seine eigene Lebenssphäre betreffen und über die er deshalb besser als der Verfahrensgegner Bescheid wissen muss, darf ein Gericht im Rahmen der sich aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergebenden Befugnis zur freien Beweiswürdigung das prozessuale Erklärungsverhalten eines Beteiligten berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2006 – 11 CS 05.2853 – Rn. 31).

Stellen sich die Angaben im EU-Führerschein als falsch heraus, hat der Fahrerlaubnisinhaber, will er die Inlandsgültigkeit seiner EU-Fahrerlaubnis beanspruchen, die Pflicht, darzulegen, dass die EU-Fahrerlaubnis aus einem anderen Grund, nämlich dem eines Innehabens eines anderen Wohnsitzes im Ausstellermitgliedstaat im Sinne von Art. 12 der EU-Richtlinie 2006/126/EG rechtmäßig erteilt wurde und somit anzuerkennen ist.

Als ordentlicher Wohnsitz gilt gemäß Art. 12 der EU-Richtlinie 2006/126/EG der Ort, an dem ein Führerscheininhaber wegen persönlicher oder beruflicher Bindungen oder – im Falle eines Führerscheininhabers ohne berufliche Bindungen – wegen persönlicher Bindungen, die eine enge Beziehung zwischen Führerscheininhaber und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, d.h. während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr wohnt. Als ordentlicher Wohnsitz eines Führerscheininhabers, dessen berufliche Bindungen an einem anderen Ort als dem seiner persönlichen Bindungen liegen und der sich abwechselnd an verschiedenen Orten in zwei oder mehr Mitgliedsstaaten aufhalten muss, gilt jedoch der Ort seiner persönlichen Bindungen, sofern er regelmäßig dorthin zurückkehrt. Ein ordentlicher Wohnsitz ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person im Laufe eines Jahres zeitlich überwiegend dort wohnt, und dass das aufgrund persönlicher sowie ggf. beruflicher Bindungen geschieht (vgl. BayVGH, U.v. 14.3.2013 – 11 B 12.1314 – Rn. 28, B.v. 23.7.2012 - 11 AE 12.1013).



Der Betroffene muss somit je nach den Umständen des Einzelfalls darlegen, an welchem Ort, unter welcher Adresse und in welchen Zeiträumen er den Wohnsitz innegehabt haben will, warum er dort dennoch nicht gemeldet war, in welchem Umfang er sich dort tatsächlich aufgehalten hat, um welche Art von Unterkunft es sich bei der angegebenen Adresse handelt (Pension, Hotel, Mietwohnung oder Ähnliches), zu welchem Zweck sich er dort aufgehalten hat und ob er im fraglichen Zeitraum einer beruflichen Tätigkeit im Inland oder im Ausstellermitgliedstaat nachgegangen ist, und hierzu etwaige Dokumente (Mietverträge, Nachweise über den Zahlungsverkehr und über geschäftliche Tätigkeiten, Arbeitsverträge etc.) vorlegen bzw. erläutern, warum solche nicht vorliegen.

Ist der Betroffene im Inland mit einem (weiteren) Wohnsitz gemeldet oder hatte er einen tatsächlichen Wohnsitz im Inland inne, ist insbesondere darlegen, dass es sich bei dem Wohnsitz im EU-Ausstellermitgliedstaat um einen Wohnsitz im Sinne von Art. 12 der EU-Richtlinie 2006/126/EG gehandelt hat. Die Glaubhaftigkeit der Angaben hierzu setzt auch voraus, dass der Betreffende erklärt, warum er gleichzeitig im Bundesgebiet eine Wohnung innehatte, warum er dort etwaig mit Hauptwohnsitz gemeldet war, wo sich der berufliche und private Schwerpunkt befand und z. B. im Falle einer bestehenden Ehe, ob er getrennt lebte, und dass er, soweit vorhanden, Unterlagen hierzu vorlegt (Steuererklärungen, Nachweise über ausgeübte Tätigkeiten etc.).

Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht erkannt, dass es nicht (allein) auf die melderechtliche Situation ankommt, sondern der Kläger die Möglichkeit hat, darzulegen und glaubhaft zu machen, dass er tatsächlich am Tag der Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis einen Wohnsitz im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2006/126/EG in der Tschechischen Republik innehatte. Die hierzu gemachten Angaben des Antragstellers und die vorliegenden Erkenntnisse über den Aufenthalt und die Tätigkeit des Antragstellers in S... hat das Verwaltungsgericht zutreffend gewürdigt und zu Recht darauf hingewiesen, dass dem ggf. im Hauptsacheverfahren weiter nachzugehen sein wird. Hierauf wird verwiesen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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