Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

VGH München Beschluss vom 06.05.2013 - 11 CS 13.426 - Fahrtenbuchauflage bei mehreren Fahrzeugen des Halters

VGH München v. 06.05.2013: Fahrtenbuchauflage bei mehreren Fahrzeugen des Halters


Der VGH München (Beschluss vom 06.05.2013 - 11 CS 13.426) hat entschieden:
Will die Behörde eine Fahrtenbuchauflage für andere Fahrzeuge als das Tatfahrzeug erteilen, muss sie vorab ermitteln, ob die anderen Fahrzeuge etwa einem wechselnden Benutzerkreis mit der Folge zur Verfügung stehen, dass bei einem Verkehrsverstoß mit der Nichtfeststellbarkeit des Fahrers zu rechnen ist. Geboten sein können auch Feststellungen darüber, ob diese anderen Fahrzeuge des betroffenen Halters ihrer Art nach überhaupt für die Begehung einschlägiger Verkehrsverstöße in Betracht kommen und ob in der Firma des Antragstellers entgegen allgemeinen Gepflogenheiten und (handels- und steuer-)rechtlichen Verpflichtungen Organisationsstrukturen bestehen, die die Feststellung eines konkreten Fahrers nicht ermöglichen.


Gründe:

I.

Der Antragsgegner wendet sich gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 29. Januar 2013, mit dem die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Oktober 2012 hinsichtlich der Fahrtenbuchauflage für zwei Fahrzeuge des Antragstellers wieder hergestellt worden ist.

Der Antragsteller ist Halter des Personenkraftwagens mit dem Kennzeichen "...". Am 2. April 2012 um 0.46 Uhr wurde mit diesem Fahrzeug die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften nach Abzug einer Messtoleranz von 4 km/h um 43 km/h überschritten. Dies wurde durch Geschwindigkeitsmessung und mit Fotos dokumentiert. In der Folgezeit war es dem Antragsgegner nicht möglich, den Fahrzeugführer bis zum Ablauf der Verjährungsfrist am 2. Juli 2012 festzustellen. Mit Schreiben des Kreises Euskirchen jeweils vom 29. Juni 2012 wurde dem Antragsteller und seinem Bevollmächtigten mitgeteilt, dass das Ordnungswidrigkeitenverfahren eingestellt worden sei, da der Fahrzeugführer nicht habe festgestellt werden können.

Nach Anhörung des Antragstellers auferlegte der Antragsgegner mit Bescheid vom 23. Oktober 2012 dem Antragsteller für den Zeitraum von neun Monaten ab dem dritten Tag nach Zustellung des Bescheids jeweils die Führung eines Fahrtenbuchs für das Tatfahrzeug mit dem Kennzeichen "..." sowie für die Fahrzeuge mit dem Kennzeichen "..." und "..." und Folgefahrzeuge. Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet. Unter Bezugnahme auf zwei Gerichtsentscheidungen (OVG Münster NJW 77, 2181; OVG Lüneburg, DAR 06, 167) wurde u.a. ausgeführt, dass sich die Fahrtenbuchauflage auf sämtliche Fahrzeuge sowie eventuelle Folgefahrzeuge erstrecke, da auf den Antragsteller mehrere Kraftfahrzeuge zugelassen und gegebenenfalls auch bei diesen einschlägige Zuwiderhandlungen zu befürchten seien.

Der Antragsteller ließ Anfechtungsklage erheben und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen. Mit Beschluss vom 29. Januar 2013 stellte das Verwaltungsgericht München die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 23. Oktober 2012 wieder her, soweit sich diese auf die Fahrzeuge mit dem Kennzeichen "..." und "..." bezieht. Im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt. Auf die Begründung des Beschlusses wird Bezug genommen.

Die Beschwerde des Antragsgegners wendet sich gegen den Beschluss, soweit dieser die aufschiebende Wirkung wieder hergestellt hat. Zur Begründung wird vorgetragen, dass die bisherigen Ermessenserwägungen des Antragsgegners gemäß § 114 Satz 2 VwGO bezüglich der Art und Nutzung der Fahrzeuge einer Ergänzung bedürften. Hierzu wird vorgetragen, dass der Antragsteller einen Maler-, Lackierer- und Bodenlegerbetrieb gewerberechtlich als Einzelfirma angemeldet habe. Das Personal bestehe offenbar aus ihm selbst und wenigstens zwei Mitarbeitern. Bei den drei Fahrzeugen handele es sich jeweils um VW-Transporter (Multivan) des Modells 7HC, die - dies folge zwanglos aus dem Fahrzeugtyp - im Betrieb des Antragstellers eingesetzt würden, jedoch - das folge aus dem Zeitpunkt der Begehung der Ordnungswidrigkeit um 0.46 Uhr - auch für Privatfahrten benutzt würden. Für Letzteres spreche auch, dass von den drei VW-Bussen jedenfalls das Tatfahrzeug und auch das Fahrzeug mit dem amtl. Kennzeichen „...“ keine Firmenaufschrift trügen. Offenbar treffe dies auch auf das Fahrzeug "..." zu. Auch seien bei allen drei Fahrzeugen im Kennzeichen die Buchstaben "BC" und damit die Initialen des Antragstellers und seiner Frau enthalten. Diese Kennzeichenwahl stelle einen privaten Bezug zu den Fahrzeugen her und belege zusätzlich, dass die Fahrzeuge nicht nur betrieblich genutzt würden. Demnach sei davon auszugehen, dass beide Fahrzeuge einen zum Tatfahrzeug identischen Nutzungszweck und auch einen zum Tatfahrzeug identischen Nutzerkreis hätten. Insoweit müsse auch bei diesen Fahrzeugen bei Verkehrsverstößen mit der Nichtfeststellbarkeit des Fahrers gerechnet werden. Dass Multivans des Typs VW 7HC zur Begehung von Geschwindigkeitsverstößen im fraglichen Rahmen geeignet seien, sei ebenfalls offensichtlich. Deren Höchstgeschwindigkeit liege im Bereich von 150 km/h. Auch sei darauf hinzuweisen, dass die vom Verwaltungsgericht aufgeworfene Frage, ob mit den Fahrzeugen bereits in der Vergangenheit Verkehrsverstöße begangen worden seien, deren Verantwortliche nicht habe ermittelt werden können, kein rechtlich relevantes Kriterium darstelle. Maßgeblich sei, ob einschlägige Zuwiderhandlungen ohne Fahrerermittlung in der Zukunft zu befürchten seien, nicht jedoch, ob solche schon in der Vergangenheit zu verzeichnen gewesen seien.

Mit Schriftsatz vom 20. März 2013 trat der Bevollmächtigte des Antragstellers der Beschwerde entgegen. Dass es sich bei den drei Fahrzeugen um Modelle des Herstellers Volkswagen handele, sei kein Hinweis auf einen wechselnden Benutzerkreis. Unter der Bezeichnung "VW-Transporter" gebe es verschiedenste Modelle von rein gewerblichen Fahrzeugen mit spartanischer Ausstattung bis hin zu exklusiv ausgestatteten Varianten für den privaten Freizeitgebrauch. Tatsächlich unterlägen die drei Fahrzeuge unterschiedlichen Nutzungszwecken (von "sauber" bis überwiegend handwerklich) und würden in ganz überwiegendem Maße immer von denselben Personen, nämlich vom Antragsteller (...), vom Angestellten (...) und von der Ehefrau des Antragstellers (...) genutzt. Dementsprechend sei die Ausstattung des Fahrzeugs „...“ nicht für einen Malerbetrieb prädestiniert und die Ausstattung des Fahrzeugs „...“ nicht für den privaten Bereich. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners setze die Vornahme einer Zukunftsprognose zur ordnungsgemäßen Ermessensausübung sehr wohl auch einen Blick in die Vergangenheit voraus.

Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.


II. Die zulässige Beschwerde, bei deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß §146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die vorgetragenen Gründe beschränkt ist, ist unbegründet.

Hat der Halter mehrere Fahrzeuge, die auf ihn zugelassen sind, kann gemäß § 31 a StVZO die Anordnung auf weitere Fahrzeuge erstreckt werden. Es kann dahinstehen, ob bei einem - wie hier - vorliegenden einmaligen Verstoß eine Erstreckung der Fahrtenbuchanordnung auf alle Fahrzeuge des Antragstellers verhältnismäßig ist, denn jedenfalls ist nicht ersichtlich, dass die Behörde im Rahmen ihrer Entscheidung das ihr zustehende Ermessen erkannt und zumindest ansatzweise Erwägungen zu einer derartigen "Erstreckungsanordnung" angestellt hat. Hierfür hätte sie vorab ermitteln müssen, ob die anderen Fahrzeuge etwa einem wechselnden Benutzerkreis mit der Folge zur Verfügung stehen, dass bei einem Verkehrsverstoß mit der Nichtfeststellbarkeit des Fahrers zu rechnen ist (st. Rspr. des Senats, vgl. z.B. B.v. 20.7.2009 – 11 CS 09.1258). Geboten sein können auch Feststellungen darüber, ob diese anderen Fahrzeuge des betroffenen Halters ihrer Art nach überhaupt für die Begehung einschlägiger Verkehrsverstöße in Betracht kommen und ob in der Firma des Antragstellers entgegen allgemeinen Gepflogenheiten und (handels- und steuer-)rechtlichen Verpflichtungen Organisationsstrukturen bestehen, die die Feststellung eines konkreten Fahrers nicht ermöglichen. Unterbleiben - wie hier - die für die anzustellenden Ermessenserwägungen erforderlichen Feststellungen gänzlich, kann die Behörde nicht unter Berufung auf § 114 Satz 2 VwGO ihre Ermessensausübung vollständig nachholen. Denn § 114 Satz 2 VwGO räumt der Behörde nur die Möglichkeit ein, eine zumindest ansatzweise bereits vorhandene Ermessensentscheidung zu ergänzen. Eine spätere Ergänzung einer Ermessensbegründung des Verwaltungsaktes noch während des Prozesses ist nur dann zulässig, wenn die nachträglich von der Behörde angegebenen Gründe schon bei Erlass des Verwaltungsaktes vorlagen, der Verwaltungsakt durch sie in seinem Wesen nicht geändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (BVerwGE 61, 200/210, Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 114, Rn. 87). Denn der Gesetzgeber wollte nach dem 6. VwGO-Änderungsgesetz mit § 114 Satz 2 VwGO lediglich entsprechend und im Umfang der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts klarstellen, dass die Verwaltung auch noch während des gerichtlichen Verfahrens materiell-rechtlich relevante Ermessenserwägungen in den Prozess einführen kann, § 114 Satz 2 VwGO soll aber nicht die Änderung des Verwaltungsakts in seinem Wesensgehalt gestatten (vgl. BT-Drs. 13/3993 S. 21). Wird erstmals nach Bescheidserlass Ermessen überhaupt ausgeübt, ist ein Verwaltungsakt in seinem Wesensgehalt geändert (vgl. Eyermann, a.a.O. Rn.89). Denn dann wird nicht nur eine in einzelnen Hinsichten lückenhafte Ermessensausübung komplettiert, sondern eine neue Ermessensentschliessung (ggf. inhaltsgleich) erlassen. Auch ist § 31 a Abs. 1 StVZO nicht zu entnehmen, dass es sich um eine sogenannte intendierte Entscheidung handelt, d.h. dass vom Gesetz für den Regelfall nur eine bestimmte Entscheidung gewollt ist und davon nur in besonders begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden soll. Eine „Erstreckungsanordnung“ stellt im Verhältnis zur Einzelanordnung für ein jeweiliges Tatfahrzeug eine erhebliche Erweiterung für den Betroffenen dar, die nur dann erforderlich und angemessen ist, wenn Umstände des Einzelfalls dafür sprechen. Unabhängig davon erfordert die Entscheidung der Behörde, eine Fahrtenbuchauflage auf alle Fahrzeuge des Fahrzeughalters zu erstrecken, eine Prognose darüber, ob über das Fahrzeug hinaus, mit dem die der Fahrtenbuchauflage zugrunde liegende Verkehrszuwiderhandlung begangen wurde, Verkehrsverstöße mit anderen Fahrzeugen des Halters künftig ebenfalls nicht aufgeklärt werden können. Dies erfordert auch, dass die Behörde neben Art und Umfang der Fahrzeuge etwaige Verkehrsverstöße mit Fahrzeugen des Halters in der Vergangenheit ermittelt. Denn verkehrswidrige Vorkommnisse in der Vergangenheit stützen die Annahme, dass mit den anderen Fahrzeugen des Halters auch künftig Zuwiderhandlungen gegen Verkehrsvorschriften begangen werden. Auch an diesen Erhebungen fehlt es hier. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1 und 46.13 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327). Der Streitwert war gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren um den Streitwert für das "Tatfahrzeug" zu reduzieren, da sich die Beschwerde nur auf die beiden anderen Fahrzeuge des Antragstellers beschränkte. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).