Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

VGH München Beschluss vom 06.05.2013 - 11 CS 13.425 - Zur Annahme von gelegentlichem Cannabiskonsum auf Grund von eigenen Angaben des Betroffenen

VGH München v. 06.05.2013: Zur Annahme von gelegentlichem Cannabiskonsum auf Grund von eigenen Angaben des Betroffenen


Der VGH München (Beschluss vom 06.05.2013 - 11 CS 13.425) hat entschieden:
Als zweiten Konsumakt muss sich ein Betroffener einen von ihm selbst in der polizeilichen Betroffenenanhörung eingeräumten Cannabiskonsum an einem anderen Tag als dem der letzten Feststellung entgegen halten lassen, wenn diese Erklärung zunächst mündlich gegenüber den Polizeibeamten abgegeben und schließlich in der polizeilichen Vernehmung eigenhändig niedergeschrieben und unterschrieben worden ist.


Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die Entziehung der Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen.

Am 26. März 2012 gegen 15.30 Uhr wurde der Antragsteller einer Verkehrskontrolle unterzogen; der dabei durchgeführte Urinschnelltest verlief positiv auf Tetrahydrocannabinol – THC. In der Betroffenenanhörung durch die Polizeibeamten erklärte der Antragsteller – nach Belehrung zum Aussageverweigerungsrecht –, er habe „gestern gegen 19.00 Uhr einen Joint geraucht und sich nichts dabei gedacht, heute wieder Auto zu fahren“. Außerdem händigte der Antragsteller der Polizei in seiner Wohnung 1,4 g Marihuana aus, das er dort aufbewahrt hatte.

Die ihm um 17.06 Uhr entnommene Blutprobe enthielt lt. Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München vom 16. April 2012 THC von 2,2 ng/ml, Hydroxy-THC von 1,1 ng/ml und THC-Carbonsäure von 17 ng/ml. Die gefundenen Werte belegen nach dem Gutachten die vorangegangene Aufnahme von Cannabis-Zubereitungen wie z.B. Haschisch oder Marihuana offensichtlich einige Stunden vor der Blutentnahme.

Nach vorheriger Anhörung entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller mit Bescheid vom 22. November 2012 die Fahrerlaubnis aller Klassen. Die Fahrerlaubnisbehörde ging von einem mindestens zweimaligen und damit gelegentlichen Cannabiskonsum im Sinne der Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV und von einem fehlenden Trennungsvermögen aus, da der Antragsteller mit mehr als 2,0 ng/ml THC im Blut ein Kraftfahrzeug geführt habe. Die sofortige Vollziehung von Nr. 1 und Nr. 2 (Abgabe des Führerscheins) des Bescheids wurde angeordnet.

Der Antragsteller ließ Klage gegen den Bescheid beim Verwaltungsgericht München erheben, über die noch nicht entschieden ist. Den gleichzeitig gestellten Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage wieder herzustellen, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 5. Februar 2013 ab.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde.

Die Antragsgegnerin trat der Beschwerde entgegen.


II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt keine Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts.

Die Voraussetzungen der Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV für die Annahme fehlender Fahreignung sind nach Aktenlage gegeben, weil der Antragsteller gelegentlicher Konsument von Cannabis ist und den Konsum von Cannabis und das Führen eines Kraftfahrzeugs nicht trennen kann.

Eine gelegentliche Einnahme von Cannabis im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV liegt vor, wenn tatsächlich mindestens zweimal Cannabis in voneinander unabhängigen Konsumakten eingenommen wurde (st.Rspr des Senats, vgl. z.B. B.v. 4.3.2013 – 11 CS 13.43, v. 25.1.2006 – 11 CS 05.1453 – ZfS 2006, 294). Nach Aktenlage und unter Berücksichtigung des Vortrags des Antragstellers ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren davon auszugehen, dass er mindestens zweimal Cannabis in voneinander unabhängigen Konsumakten eingenommen hat. Aufgrund des Ergebnisses des rechtsmedizinischen Gutachtens der Ludwig-Maximilians-Universität München vom 16. April 2012 steht fest, dass der Antragsteller am 26. März 2012 „offensichtlich einige Stunden vor der Blutentnahme“ um 17.06 Uhr Cannabisprodukte konsumiert hat.

Als zweiten Konsumakt muss sich der Antragsteller den von ihm selbst am 26. März 2012 in der polizeilichen Betroffenenanhörung eingeräumten Cannabiskonsum am 25. März 2012 gegen 19.00 Uhr entgegen halten lassen. Diese Erklärung hat der Antragsteller nach Aktenlage, worauf das Verwaltungsgericht zurecht hingewiesen hat, zunächst mündlich gegenüber den Polizeibeamten abgegeben und schließlich in der polizeilichen Vernehmung eigenhändig niedergeschrieben und unterschrieben (vgl. Bl. 16 Rückseite der Behördenakte). Dass er diese Erklärung abgegeben hat, bestreitet der Antragsteller nicht; er macht lediglich – und erstmals in der Beschwerdebegründung – die inhaltliche Unrichtigkeit seiner Äußerung geltend. Hieraus ist jedoch nicht herzuleiten, dass die damalige Einlassung des Antragstellers unzutreffend wäre. Zwar ist nicht auszuschließen, dass seine Äußerung von dem Bemühen getragen war, den Zeitpunkt der Cannabiseinnahme möglichst weit in die Vergangenheit zu legen, um in einem Verfahren, das eine Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 2 StVG zum Gegenstand haben würde, mit Aussicht auf Erfolg einwenden zu können, er habe frei von Verschulden davon ausgehen dürfen, im Zeitpunkt der motorisierten Verkehrsteilnahme nicht mehr unter dem Einfluss dieser Droge zu stehen. Entgegen der Beschwerdebegründung ist jedoch deshalb nicht erwiesen, dass zwischen den Angaben des Antragstellers zum Konsumzeitpunkt und den im rechtsmedizinischen Gutachten festgestellten Zeitpunkt des Konsums ein Widerspruch liegt, weil nicht nur das Eine oder das Andere richtig sein kann, sondern auch beides zutreffen kann. Mit seiner Äußerung, er habe den Zeitpunkt des Konsums vorverlegen wollen, möchte der Antragsteller sein Geständnis widerrufen. Hierfür reicht jedoch nicht eine bloße gegenteilige Äußerung, sondern es müssten Einzelheiten geschildert und dargetan werden, warum es entgegen seiner Äußerung in der polizeilichen Vernehmung nicht zu einem Konsum am Vorabend gekommen ist (vgl. BayVGH, B.v. 8.9.2008 – 11 CS 08.2062 – Rn. 14). Im Gegensatz zum Strafverfahren ist der Betroffene im Fahrerlaubnisverfahren zur Mitwirkung verpflichtet, wie die Regelungen in Art. 26 Abs. 2 BayVwVfG und § 11 Abs. 8 FeV zeigen. Die Mitwirkungsverpflichtung schließt auch Angaben zum Konsum von Stoffen, die die Fahreignung infrage stellen können, ein (BayVGH, B.v. 27.3.2013 – 11 CS 13.548 – Rn. 8). Kommt der Betroffene seiner Mitwirkungsobliegenheit nicht nach, obwohl ihm das ohne weiteres möglich und zumutbar ist und er sich der Erheblichkeit der in Rede stehenden Umstände bewusst sein muss, ist es zulässig, dieses Verhalten bei der Beweiswürdigung zu seinen Lasten zu berücksichtigen (vgl. OVG NW, B.v. 12.3.2012 – 16 B 1294/11 – DAR 2012, 275).

Der Antragsteller kann sich aber auch aus einem anderen Grund nicht mit Erfolg darauf berufen, dass bei ihm nur ein einmaliger und kein gelegentlicher Cannabiskonsum vorliege. Nach der Rechtsprechung des Senats, auf die bereits die Antragsgegnerin hingewiesen hat, ist im Falle der Teilnahme eines Kraftfahrzeugführers am Straßenverkehr unter der Einwirkung von Cannabis zur Verneinung seiner Fahreignung eine weitere Aufklärung durch Ermittlungen zur Häufigkeit seines Konsums nur dann geboten, wenn er ausdrücklich behauptet und substantiell darlegt, er habe erstmals Cannabis eingenommen und sei somit weder gelegentlicher noch regelmäßiger Konsument. Erst wenn hierzu substantiierte Darlegungen erfolgen, ist ihre Glaubhaftigkeit unter Würdigung sämtlicher Fallumstände zu überprüfen (vgl. BayVGH, B.v. 4.3.2013 – 11 CS 13.43 – Rn. 31, v. 26.9.2011 – 11 CS 11.1427, v. 26.10.2012 – 11 CS 12.2182; ebenso OVG RhPf, B.v. 2.3.2011 – 10 B 11400/10 – DAR 2011/279; OVG NW, B.v. 26.7.2009 – 16 B 1895/9; VGH BW, U.v. 21.2.2007 –10 S 2302/06 – VBl BW 2007, 214). Denn die Kombination von erstmaligem Cannabiskonsum, anschließender Verkehrsteilnahme unter Einwirkung des erstmalig konsumierten Stoffes und schließlich der Feststellung dieses Umstandes bei einer Verkehrskontrolle unter Berücksichtigung der relativ geringen polizeilichen Kontrolldichte spricht insgesamt deutlich für einen nur sehr selten anzunehmenden Fall. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer ausdrücklichen Behauptung mit substantiierten Darlegungen dazu, dass es sich bei der festgestellten Einnahme von Drogen tatsächlich um einen erstmaligen Konsum gehandelt hat (vgl. VGH BW, U.v. 22.11.2012 – 10 S 3174/11 – Rn. 26 f.).

Zwar ist die Gelegentlichkeit des Cannabiskonsum nach einhelliger Auffassung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ein Tatbestandsmerkmal, für das die Fahrerlaubnisbehörde nach dem sog. Günstigkeitsprinzip die materielle (und objektive) Beweislast trägt, mit der Folge, dass eine etwaige Nichterweislichkeit zu ihren Lasten geht. Doch vor dem Hintergrund des geschilderten, äußerst seltenen Falles, dass ein mit den Wirkungen der Droge noch völlig unerfahrener Erstkonsument zum Einen bereits wenige Stunden nach dem Konsum ein Kraftfahrzeug führt und er zum Anderen dann auch noch trotz der geringen Dichte der polizeilichen Verkehrsüberwachung in eine Verkehrskontrolle gerät, die Polizei drogentypische Auffälligkeiten feststellt und einen Drogentest durchführt, rechtfertigt in einem Akt der Beweiswürdigung (vgl. OVG NW, B.v. 12.3.2012 – 16 B 1294/11 – DAR 2012, 275) die Annahme, dass ohne substantiierte Darlegung des Gegenteils nicht von einem einmaligen Konsum ausgegangen werden muss. Das Verwaltungsverfahren kennt zwar ebenso wie der Verwaltungsprozess grundsätzlich keine Behauptungslast und Beweisführungspflicht, da Behörden und Verwaltungsgerichte den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln haben (vgl. § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO), jedoch sollen die Beteiligten bei der Sachaufklärung mitwirken bzw. sind sie hierzu nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO heranzuziehen. Unterlässt es ein Beteiligter aber ohne zureichenden Grund, seinen Teil zur Sachaufklärung beizutragen, obwohl ihm das ohne Weiteres möglich und zumutbar ist und er sich der Erheblichkeit der in Rede stehenden Umstände bewusst sein muss, kann dieses Verhalten je nach den Gegebenheiten des Falles bei der Beweiswürdigung zu seinen Lasten berücksichtigt werden (vgl. zum Verwaltungsverfahren Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, § 26 Rn. 40 f. und 43 f., § 24 Rn. 12a ff. und 50; zum Verwaltungsprozess s. Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 86 Rn. 11 f., § 108 Rn. 17).

Hier hat der Antragsteller lediglich bestritten, dass ein zweiter Konsumakt nachgewiesen sei. Nie wurde behauptet, dass es sich um einen erstmaligen, einmaligen Cannabiskosum gehandelt hat. Eine Äußerung zu dem in der Wohnung des Antragstellers aufgefundenen Marihuana fehlt vollständig. Das Argumentationsverhalten des Antragstellers im Verwaltungsverfahren und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren einschließlich des Beschwerdeverfahrens kann nur so verstanden werden, dass er einen Verstoß gegen die prozessuale Pflicht zu wahrheitsgemäßem Vortrag (§ 138 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO) vermeiden will, der ihm dann zur Last fiele, wenn er ausdrücklich behaupten würde, nur einmal Cannabis konsumiert zu haben. Dies zeigt der Umstand, dass die Beschwerdebegründung auf die Darlegungs- und Beweispflicht der Gegenseite hinsichtlich der Häufigkeit des Cannabiskonsums verweist. Zwar stellt es keine Verletzung der sich aus § 138 Abs. 1 ZPO ergebenden Pflicht zum vollständigen Vortrag aller entscheidungserheblichen Umstände und zur Äußerung zu den vom Gegner behaupteten Tatsachen (§ 138 Abs. 2 ZPO) dar, wenn ein Beteiligter solche Gesichtspunkte verschweigt, derentwegen er – wie das bei einem Cannabiskonsum unter Umständen möglich ist – straf- oder bußgeldrechtlich belangt werden kann (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 66. Aufl. 2008, Rn. 21 zu § 138; Reichholt in: Thomas/Putzo, ZPO, 28. Aufl. 2007, Rn. 7 zu § 138). Dessen ungeachtet ist das Gericht nicht gehindert, aus der Art der Einlassung des Antragstellers Schlüsse zu ziehen. Denn gerade dann, wenn ein Beteiligter – wie hier der Fall – sich nicht klar und eindeutig zu Gegebenheiten äußert, die seine eigene Lebenssphäre betreffen und über die er deshalb besser als der Verfahrensgegner Bescheid wissen muss, darf ein Gericht im Rahmen der sich aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergebenden Befugnis zur freien Beweiswürdigung das prozessuale Erklärensverhalten eines Beteiligten berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2006 – 11 CS 05.2853).

Die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis wird auch nicht dadurch infrage gestellt, dass zwischen der Verkehrskontrolle am 26. März 2012 und dem Entziehungsbescheid am 22. November 2012 fast acht Monate lagen. Die Notwendigkeit einer sicherheitsrechtlichen Maßnahme entfällt nicht dadurch, dass sie in gewissem zeitlichen Abstand zum anlassgebenden Vorfall getroffen wird. Der Antragsteller kann in dieser Zeit seine Fahreignung nicht wiedererlangt haben. Hierfür reicht auch nicht der mit der Beschwerde vorgelegte Abstinenznachweis der Forensisch Toxikologisches Centrum GmbH (München) vom 5. Februar 2013, wonach eine Haaranalyse keine Hinweise auf Drogenkonsum für einen Zeitraum von vier Monaten vor der Probenentnahme am 28. Januar 2013 ergab.

Eine Möglichkeit, vom Ausspruch der Entziehung der Fahrerlaubnis abzusehen und sich stattdessen mit der Überprüfung des Abstinenzverhaltens zu begnügen, eröffnet die Rechtsordnung bei feststehendem Verlust der Fahreignung jedenfalls solange nicht, als es nicht zumindest als möglich erscheint, dass der Betroffene inzwischen wieder fahrgeeignet geworden sein könnte. Davon kann im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids keine Rede sein, denn der entsprechend der Nr. 9.5 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung in der Regel zurückzulegende Zeitraum einer einjährigen nachgewiesenen Abstinenz war bis dahin noch nicht abgelaufen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung hat ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG, § 47 Abs. 3 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.1, 46.3, 46.4, 46.8 sowie 46.12 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327). Dabei waren nur die Klassen A, BE, C sowie die Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung maßgeblich; die anderen Fahrerlaubnisklassen sind darin enthalten.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).