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OLG München Beschluss vom 05.07.2007 - 4St RR 122/07 - Wartepflicht des Gerichts in der Berufungshauptverhandlung

OLG München v. 05.07.2007: Zur Wartepflicht des Gerichts in der Berufungshauptverhandlung


Das OLG München (Beschluss vom 05.07.2007 - 4St RR 122/07) hat entschieden:
Die Grundsätze eines fairen Verfahrens und die Fürsorgepflicht können gebieten, im Einzelfall auch bei unentschuldigtem Fernbleiben des Angeklagten über die regelmäßig einzuhaltende Wartezeit von 15 Minuten hinaus zuzuwarten, wenn dieser noch vor Terminsbeginn dem Berufungsgericht fernmündlich mitteilt, dass er sich irrig statt beim Landgericht beim Amtsgericht eingefunden hat.


Gründe:

I.

Das Amtsgericht Starnberg hat den Angeklagten am 12.12.2006 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zur Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt; ferner wurde die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von vier Jahren keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen, und dem Angeklagten für die Dauer von drei Monaten verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art im Straßenverkehr zu führen.

Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten, die auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt worden war, hat das Landgericht nach § 329 Abs. 1 StPO ohne Verhandlung zur Sache verworfen, weil der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt zur Hauptverhandlung nicht erschienen sei. Das Landgericht hat hierzu ausgeführt:
… Bei Beginn der auf heute anberaumten Hauptverhandlung, zu welcher der Angeklagte ordnungsgemäß und unter Hinweis auf die Folgen unentschuldigten Ausbleibens vorgeladen worden war, ist der Angeklagte nach Aufruf der Sache nicht erschienen, sondern nur der Verteidiger. Gegen 13.45 Uhr erfolgte ein Anruf des Amtsgerichts Starnberg, dass der Angeklagte dort erschienen sei, da er geglaubt habe, der Termin findet am Amtsgericht Starnberg statt. Dies stellt keine ausreichende Entschuldigung dar. In seiner Ladung wurde der Angeklagte ausdrücklich darauf hingewiesen, wo der Berufungshauptverhandlungstermin stattfindet.
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte insbesondere, das Gericht habe den Begriff des unentschuldigten Ausbleibens verkannt. Der Angeklagte habe nach den Urteilsgründen vor Beginn der Hauptverhandlung um 13.45 Uhr durch das Amtsgericht Starnberg mitteilen lassen, dass er sich irrtümlich dort befinde. Dieser Anruf habe erkennbar den Sinn gehabt, eine längere Wartezeit als eine Viertelstunde zu erzielen. Der Sitzungssaal im Landgericht wäre mit einem Taxi in höchstens einer Dreiviertelstunde erreichbar gewesen. Auf den Anruf des Amtsgerichts Starnberg hätte das erkennende Gericht dem Angeklagten diese Möglichkeit einräumen müssen. Im Grunde sei „ein Kommen bei dem Rückruf des Gerichts um 14.00 Uhr angeregt (worden), aber mit der Angabe einer viel zu kurzen Zeit.“ Eine halbe Stunde Wartezeit sei zu kurz gewesen. Der Terminsplan des Landgerichts wäre auch nicht durcheinandergeraten, da es sich um die letzte Sache an diesem Tag gehandelt habe.


II.

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Revision hat Erfolg.

1. Das entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft noch den Erfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechende Beschwerdevorbringen wird durch eine Angabe in der Sitzungsniederschrift in Verbindung mit der Telefonnotiz der Justizsekretärin Pfeiler vom Landgericht München II sowie der von der Verteidigung vorgelegten dienstlichen Äußerung der Amtsinspektorin Rieger von der Geschäftsstelle des Amtsgerichts in Starnberg bestätigt. Danach ist der Angeklagte dort um 13.40 Uhr erschienen und hat sich nach dem Termin um 14.00 Uhr erkundigt. Es wurde dann festgestellt, dass es sich um die Berufungsverhandlung beim Landgericht München II handele. Die Geschäftsstelle des Landgerichts München II wurde telefonisch verständigt, der Richter war zunächst nicht zu erreichen. Der Angeklagte erklärte, er habe die Ladung an seiner Arbeitsstelle und vermutlich nicht genau gelesen, er sei der Meinung gewesen, der Termin finde in Starnberg statt. Nach Rückruf der Geschäftsstelle des Landgerichts München II gegen 14.00 Uhr wurde dem Angeklagten bekannt gegeben, dass der Richter erklärt habe, er könne noch erscheinen, es werde aber nur eine Viertelstunde gewartet. Das Ausbleiben sei Verschulden des Angeklagten.

2. a) Die Möglichkeit der Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zur Sache beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Beschwerdeführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Dabei ist aber eine enge Auslegung der Vorschrift des § 329 Abs. 1 StPO angebracht, um zu verhindern, dass der grundgesetzlich gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verkürzt wird.

Daraus ergibt sich einmal, dass der Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung zugunsten des Angeklagten weit ausgelegt werden muss. Allerdings kann auch bei einer solchen Auslegung der Vorschrift das Ausbleiben des Angeklagten zur festgesetzten Terminsstunde nicht als entschuldigt angesehen werden.

b) Die aus den dargelegten Gründen gebotene Auslegung der Vorschrift ergibt aber auch, dass das Gericht nicht schon immer dann, wenn der Angeklagte ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich erscheint, die Berufung sofort verwerfen darf oder gar muss. Vielmehr muss es in einem solchen Fall die Grundsätze eines fairen Verfahrens und insbesondere die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht beachten. Es muss z.B. schon allgemein mit der Möglichkeit einer gewissen Verspätung des Angeklagten rechnen und regelmäßig mindestens 15 Minuten zuwarten, bevor es die Berufung wegen Ausbleibens des Angeklagten verwirft. Weitergehende Anforderungen können an die Wartepflicht des Gerichts zu stellen sein, wenn ihm konkrete Verzögerungsgründe für das Erscheinen des Angeklagten mitgeteilt oder sonst Anhaltspunkte hierfür bekannt geworden sind (vgl. zu alldem BayObLGSt 1988, 103/104 f. m.w.N.; ferner Senatsbeschluss vom 29.1.2007 - 4St RR 219/06).

Im vorliegenden Fall, in dem sich der Angeklagte irrig beim Amtsgericht statt beim Landgericht eingefunden und dies noch vor Terminsbeginn mitgeteilt hatte, und in dem bei der Entfernung zwischen den beiden Gerichten sein Erscheinen zur Berufungsverhandlung noch innerhalb angemessener Frist möglich gewesen wäre, wenn er sich mit einem Taxi zum Landgericht nach München hätte fahren lassen, hätte das Landgericht dem Angeklagten Gelegenheit geben müssen, durch sein Erscheinen die Folgen der Säumnis abzuwenden (BayObLG vom 27.8.1986 RReg. 1 St 182/86, bei Bär DAR 1987, 301/315).

Dem Senat ist aus eigener Sachkunde bekannt, dass es in der Tat möglich ist, mit einem Taxi innerhalb von ca. 45 Minuten von Starnberg zum Gerichtsgebäude nach München zu fahren. Bei sofortiger Reaktion auf den Anruf des Amtsgerichts Starnberg hätte der Angeklagte daher eine halbe Stunde nach dem vorgesehenen Termin erscheinen können. Selbst wenn man auf den Zeitpunkt des Rückrufs um 14.00 Uhr abstellt, wäre ein Erscheinen immer noch in weniger als einer Stunde möglich gewesen. In Hinblick auf die erkennbare Bereitschaft des Angeklagten, zur Berufungsverhandlung zu kommen, und den Umstand, dass die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von acht Monaten im Raume stand, war das Landgericht daher gehalten, das Eintreffen des Angeklagten abzuwarten (vgl. BayObLG VRS 76,137; LR-Gössel StPO 25. Aufl. § 329 Rn. 41 a.E.).

Das Verhalten des Angeklagten beruht hier nämlich nicht auf grober Fahrlässigkeit oder Mutwillen. Es ist aber nicht der Zweck des § 329 Abs. 1 StPO, die bloße Nachlässigkeit „zu bestrafen“, die einem zur Mitwirkung am Verfahren bereiten Angeklagten bei der Erfüllung seiner Pflicht zum pünktlichen Erscheinen unterlaufen ist. Das Landgericht hat somit seine ihm gegenüber dem Angeklagten obliegende Fürsorgepflicht verletzt.

Unerheblich ist, dass zum Zeitpunkt der Berufungsverwerfung feststand, der Angeklagte werde auch nicht nachträglich zum Termin erscheinen, weil dies eine Folge der ihm auf Anordnung des Vorsitzenden der Strafkammer erteilten Auskunft war (BayObLG aaO).


III.

Danach ist das angefochtene Urteil auf die Revision des Angeklagten aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts München II zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).