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OLG Köln Beschluss vom 05.02.2013 - III-1 RVs 12/13 - Wartepflicht des Gerichts in der Berufungshauptverhandlung
OLG Köln v. 05.02.2013: Zur Wartepflicht des Gerichts in der Berufungshauptverhandlung
Das OLG Köln (Beschluss vom 05.02.2013 - III-1 RVs 12/13) hat entschieden:
Die Grundsätze eines fairen Verfahrens und die Fürsorgepflicht können es gebieten, im Einzelfall auch bei unentschuldigtem Fernbleiben des Angeklagten über die regelmäßig einzuhaltende Wartezeit von 15 Minuten hinaus zuzuwarten, wenn der Verteidiger in dieser Zeit mitteilt, dass der Angeklagte nicht fernbleiben wollte, er sich vielmehr, nachdem ihm der Termin in Erinnerung gebracht worden war, auf den Weg zum Gericht gemacht hatte (Anschluss OLG München, 5. Juli 2007, 4St RR 122/07, VRS 113, 117 (2007) und OLG Brandenburg, 15. Mai 2012, (2) 53 Ss 60/12 (22/12), Strafo 2012, 270).
Siehe auch Säumnis des Betroffenen bzw. Angeschuldigten in der Hauptverhandlung im OWi- oder Strafverfahren und Berufungshauptverhandlung
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten durch Urteil gemäß § 329 Abs. 1 StPO verworfen. Hiergegen richtet sich dessen Revision mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts.
II.
Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Verwerfungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
Die zulässig erhobene Verfahrensrüge, der Angeklagte habe nicht als säumig behandelt werden dürfen, greift durch.
1. Dem Verwerfungsurteil liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Das Landgericht hat Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 26.09.2012, 09:00 Uhr anberaumt. Die Verhandlung hat ausweislich der Sitzungsniederschrift von 09:05 Uhr bis 09:36 Uhr gedauert.
In der Sitzungsniederschrift heißt es u.a.:
"Die ordnungsgemäße Ladung des Angeklagten zum heutigen Termin wird ausweislich der Zustellungsurkunde vom 27.07.2012, BI. 157 d. A. festgestellt. Der Verteidiger erklärt den Angeklagten derzeit nicht erreichen zu können; sonstige Gründe für seine Abwesenheit seien ihm nicht bekannt.
Nachdem er einen Anruf erhalten hatte erklärt der Verteidiger:
Ich habe nunmehr über einen Bekannten des Angeklagten, den ich nach dem Nichterscheinen des Angeklagten hier kontaktiert hatte, erfahren, dass dieser seinerseits nunmehr den Angeklagten erreicht hat, der daraufhin sich auf den Weg von seiner Wohnung zur Gerichtsstelle gemacht habe.
...
Der Verteidiger beantragt, die Sitzung für 15 Minuten bis 09:30 Uhr zu unterbrechen.
Anordnung des Vorsitzenden:
Unterbrechung wird nicht gewährt.
Antrag des Verteidigers auf Kammerentscheidung.
Die Sitzung wird um 9:12 Uhr zum Zwecke der Kammerberatung unterbrochen.
Wiederbeginn der Sitzung um 09:19 Uhr.
b.u.v.
Die Anordnung des Vorsitzenden wird nicht bestätigt. Die Sitzung wird bis 09:30 Uhr unterbrochen.
Gründe:
Die Durchsetzung der im Gesetz zwingenden Folge des Nichterscheinens, erschien hier unangemessen. In dieser Stringenz wird gegenüber Anderen - größeren Fischen - nicht vorgegangen.
Die Sitzung wird von 09:21 Uhr bis 09:30 Uhr unterbrochen. Die Fortsetzung erfolgt mit denselben Verfahrensbeteiligten wie vor der Unterbrechung.
Auch bei erneutem Aufruf der Sache erscheint der Angeklagte um 09:31 Uhr nicht.
Der Verteidiger stellt einen Antrag, der als Anlage I zum heutigen Protokoll genommen wird.
Nach Beratung am Richtertisch
b.u.v.
Der Antrag wird abgelehnt.
Gründe:
Der Angeklagte wurde rechtzeitig geladen und hat seine Wohnung nach jetziger Erkenntnis erst nach Sitzungsbeginn verlassen, welches als ein schuldhaftes Nichterscheinen gewertet wird.
Der Verteidiger beantragt, die Sitzung für 10 Minuten zu unterbrechen, um eine Gegenvorstellung erheben zu können.
Anordnung des Vorsitzenden:
Unterbrechung wird nicht gewährt.
Der Verteidiger rügt die Anordnung und beantragt Kammerentscheidung.
Die Sitzung wird von 09:32 Uhr bis 09:33 Uhr unterbrochen. Die Fortsetzung erfolgt mit denselben Verfahrensbeteiligten wie vor der Unterbrechung.
b.u.v.
Die Anordnung des Vorsitzenden wird bestätigt, weil diese rechtsmäßig ist.
Der Verteidiger beantragt erneut Unterbrechung der Sitzung.
Anordnung des Vorsitzenden: Unterbrechung wird nicht gewährt.
Der Verteidiger rügt die Anordnung, die nach Beratung am Richtertisch mit der gleichen Begründung von der Kammer bestätigt wird.
Der Vertreter der Staatsanwaltschaft stellt Antrag gem. § 329 Abs. 1 StPO.
- nach Beratung am Richtertisch -
Das aus der Anlage II zum heutigen Protokoll ersichtliche Urteil wurde durch Verlesung der Urteilsformel und durch mündliche Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Urteilsgründe verkündet: ... "
Der als Anlage I zur Sitzungsniederschrift genommene Antrag des Verteidigers lautet wie folgt:
" ... wird beantragt, die Hauptverhandlung bis zum Erscheinen des Herrn P zu unterbrechen; hilfsweise die Hauptverhandlung für höchstens um eine halbe Stunde zu unterbrechen.
Begründung:
Herr P wurde vor etwa 2 Monaten zur heutigen Hauptverhandlung geladen. Es erscheint menschlich, wenn ein Angeklagter diesen Termin aufgrund der Zeitspanne versehentlich vergisst. Es wäre unangemessen, auf den Angeklagten, der sich mittlerweile auf den Weg gemacht hat, nicht zu warten und seine durchaus berechtigte Berufung, die Erfolgsaussichten hat, auf diesem Weg zu verwerfen. Das Gericht mag hier sein Ermessen zugunsten des Angeklagten ausüben."
Die Gründe des Verwerfungsurteils lauten wie folgt:
"Der Angeklagte hat gegen das aus dem Tenor ersichtliche Urteil am 20.03.2012 und damit rechtzeitig Berufung eingelegt, ist jedoch in dem heutigen Termin zur Hauptverhandlung ohne objektiv ausreichend entschuldigt zu sein, nicht erschienen, obwohl er ausweislich der Zustellungsurkunde vom 27.07.2012 (BI. 157 d. A.) ordnungsgemäß geladen worden ist.
Er hat seine Wohnung erst nach 09:00 Uhr verlassen, dies ist schuldhaft, insbesondere unter Berücksichtigung des Wohnortes in B, welcher mit ÖPNV (der Angeklagte hat keinen Führerschein) ca. 30 min (mind.) vom Gericht entfernt liegt. Er ist auch nicht in zulässiger Weise vertreten worden. ... "
2. Nach diesem Verfahrensgeschehen durfte die Strafkammer den Angeklagten nicht als säumig ansehen und daher kein Verwerfungsurteil erlassen.
Ein Ausbleiben des Angeklagten im Sinne des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ist nicht schon immer dann anzunehmen, wenn er bei Aufruf der Sache nicht im Sitzungssaal anwesend ist. Es besteht vielmehr für das Gericht innerhalb verständiger Grenzen die Pflicht, eine angemessene Frist zuzuwarten (SenE v. 13.01.2004 - Ss 547/03 - = VRS 106, 297 = StraFo 2004, 143; Paul, in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 329 Rn. 4). So ist schon im Falle nicht angekündigten Ausbleibens des Angeklagten und/oder seines Verteidigers ein Zeitraum von etwa 15 Minuten zuzuwarten, bevor mit der Hauptverhandlung begonnen werden kann (vgl. nur OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 303; KG NZV 2001, 356; SenE a.a.O. und SenE v. 02.09.1997 - Ss 485/97 B - = VRS 94, 278 = NZV 1997, 494; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 329 Rn. 13 m.w.N.).
Bei angekündigter Verspätung ist sogar eine deutlich über 15 Minuten hinausgehende Wartezeit geboten, deren genaue Länge sich nach den Umständen des einzelnen Falles bestimmt (vgl. nur: KG a.a.O.; Senatsentscheidungen a.a.O. und SenE v. 03.12.1999 - Ss 566/99 B - = VRS 98, 445 = NZV 2000, 429 = NStZ-RR 2000, 179).
Dies alles gebietet der Grundsatz eines fairen Verfahrens (Senat VRS 106, 297), ergibt sich aber auch bereits aus Sinn und Zweck der Regelung in § 329 Abs. 1 StPO. Die Möglichkeit der Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zur Sache beruht nämlich auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Angeklagten daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht (OLG München BeckRS 2007, 12215 = VRS 113, 117; OLG Brandenburg BeckRS 2011, 08098). Daraus folgt, dass § 329 StPO eine aufs Engste auszulegende Ausnahmebestimmung ist (vgl. BGHSt 17, 188; Meyer-Goßner a.a.O. § 329 Rn. 2) und dass der Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung zugunsten des Angeklagten weit ausgelegt werden muss (OLG München a.a.O.; OLG Brandenburg a.a.O.).
Aus alldem ergab sich hier für die Strafkammer eine Wartepflicht, die bei Verkündung des Verwerfungsurteils noch nicht abgelaufen war.
Durch die Erklärungen des Verteidigers noch innerhalb der fünfzehnminütigen Regelwartezeit hatte die Strafkammer erfahren, dass der Angeklagte nicht fernbleiben wollte, er sich vielmehr, nachdem ihm der Termin in Erinnerung gebracht worden war, auf den Weg zum Landgericht gemacht hatte. Bei dieser Sachlage und Kenntnis des Umstandes, dass der Angeklagte mit öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens 30 Minuten brauchen werde, um zum Gericht zu gelangen, hätte die Strafkammer nicht bereits gegen 09:36 Uhr die Berufung nach § 329 StPO verwerfen dürfen. Sie hätte dem Angeklagten vielmehr durch weiteres Warten auf sein Eintreffen Gelegenheit geben müssen, die Rechtsfolgen einer Säumnis abzuwenden (vgl. OLG München a.a.O.; OLG Brandenburg a.a.O.). Wie mit der Revisionsbegründung vorgetragen, ist der Angeklagte - nach der Verwerfung seiner Berufung durch die Strafkammer - um 09:51 Uhr bei Gericht eingetroffen.