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OLG Brandenburg Beschluss vom 15.05.2012 - (2) 53 Ss 60/12 (22/12) - Wartepflicht des Gerichts in der Hauptverhandlung
OLG Brandenburg v. 15.05.2012: Zur Wartepflicht des Gerichts in der Hauptverhandlung
Das OLG Brandenburg (Beschluss vom 15.05.2012 - (2) 53 Ss 60/12 (22/12)) hat entschieden:
Auch bei einem ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erscheinenden Angeklagten hat das Gericht die Grundsätze eines fairen Verfahrens und insbesondere die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht zu beachten. Hieraus kann sich die Verpflichtung ergeben, mit dem Beginn der Hauptverhandlung zuzuwarten, wenn der Angeklagte mitteilt, dass er sich verspäten, aber noch innerhalb angemessener Zeit erscheinen werde. Dies gilt unabhängig davon, ob den Angeklagten für sein verspätetes Eintreffen eine Schuld trifft oder nicht, soweit ihm nicht grobe Nachlässigkeit oder Mutwilligkeit zur Last fällt (Anschluss KG Berlin, 5. Mai 1997, (4) 1 Ss 94/97 (41/97) und OLG München, 5. Juli 2007, 4St RR 122/07, VRS 113, 117 (2007); Festhaltung OLG Brandenburg, 7. März 2011, (1) 53 Ss 19/11 (5/11), VRR 2011, 351).
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Strausberg verurteilte den Angeklagten am 9. März 2011 wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15 €. Die Berufung des Angeklagten hiergegen hat das Landgericht Frankfurt (Oder) mit Urteil vom 28. November 2011 gemäß § 329 Abs. 1 StPO ohne Verhandlung zur Sache verworfen. In den Urteilsgründen hat die Kammer Folgendes ausgeführt:
"Der Angeklagte hat gegen das Urteil des Amtsgerichts Strausberg vom 9. März 2011 zwar rechtzeitig Berufung eingelegt, ist aber in dem heutigen Termin zur Berufungshauptverhandlung, ungeachtet der durch die Zustellungsurkunde vom 29. Oktober 2011 (Bl. 98 d. A.) nachgewiesenen Ladung, ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben und auch nicht in zulässiger Weise vertreten worden. Dass der Angeklagte sich hinsichtlich des Datums der Berufungshauptverhandlung geirrt hat, stellt keinen ausreichenden Entschuldigungsgrund dar. Ein Angeklagter ist gehalten durch entsprechende Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass ein derartiger Irrtum hinsichtlich des Zeitpunktes einer Berufungshauptverhandlung nicht eintreten kann. Unterlässt er dies, rechtfertigt dies zumindest den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit. Die Kammer ist angesichts der unzureichenden Gründe, die der Angeklagte über seinen Verteidiger als Grund für sein Nichterscheinen mitgeteilt hat, auch unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Fürsorgepflicht und des Grundsatzes des fairen Verfahrens nicht verpflichtet, mit dem Beginn der Verhandlung länger als ein Stunde bis zu dem vom Angeklagten telefonisch avisierten frühesten Erscheinenszeitpunkt um 15:30 Uhr zuzuwarten. Der vorliegende Fall ist in tatsächlicher Hinsicht mit demjenigen, der der Entscheidung des OLG München vom 5. Juli 2007 (Az: 4 St RR 197/07, VRS 113, 117 f) zu Grunde lag, nicht vergleichbar. Die eingelegte Berufung war daher nach § 329 StPO zu verwerfen."
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, mit der er die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts rügt. Der Angeklagte hat ferner entsprechend § 329 Abs. 3 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und gegen den diesen Antrag verwerfenden Beschluss des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 30. Januar 2012 sofortige Beschwerde eingelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen und auf die Revision das angefochtene Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
II.
1. Die zulässige sofortige Beschwerde hat aus den in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg vom 10. April 2012 dargelegten Gründen keinen Erfolg. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 329 Abs. 3 StPO setzt voraus, dass zur Entschuldigung geeignete Tatsachen geltend und glaubhaft gemacht werden, die dem Berufungsgericht nicht bekannt waren (vgl. Meyer-Goßner, StPO 54. Aufl. § 329 Rdnr. 42 m. w. N.). Daran fehlt es hier schon deshalb, weil der Angeklagte vom Landgericht noch nicht berücksichtigte neue Tatsachen zur Entschuldigung seines Ausbleibens in der Berufungshauptverhandlung nicht geltend gemacht hat.
2. Die zulässige Revision hingegen ist begründet.
a) Zwar versagt die Rüge, mit der die Revision die Unwirksamkeit der Zustellung der Terminsladung durch den privaten Postdienstleister geltend macht: Es ist bereits nicht dargelegt, inwieweit der behauptete Zustellungsmangel für das Ausbleiben des Angeklagten ursächlich geworden sein soll. Darüber hinaus verkennt die Verteidigung, dass die C… GmbH aufgrund der ihr von der Bundesnetzagentur erteilten Lizenz (P 98/355) zur Vornahme förmlicher Zustellungen berechtigt und verpflichtet war (§ 33 Abs. 1, § 5 PostG).
b) Allerdings dringt die Revision mit der Verfahrensrüge des Verstoßes gegen § 329 Abs. 1 StPO durch.
Die Ausführungen, mit denen das Vorliegen von Entschuldigungsgründen geltend gemacht wird, genügen noch den Anforderungen, die gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an die Verfahrensrüge zu stellen sind. Dem steht nicht entgegen, dass in der (Rechtsmittel)begründung nicht klar zwischen dem Wiedereinsetzungsbegehren und der Revision getrennt wird (vgl. hierzu Senat NStZ-RR 1997, 275), denn die betreffenden Ausführungen sind Inhalt der Revisionsschrift.
Dem angefochtenen Urteil lässt sich bereits nicht hinreichend klar entnehmen, welches konkrete Entschuldigungsvorbringen das Landgericht berücksichtigt und unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Fürsorgepflicht und des Grundsatzes eines fairen Verfahrens nicht als ausreichend erachtet hat. Die "unzureichenden Gründe, die der Angeklagte über seinen Verteidiger als Grund für sein Nichterscheinen mitgeteilt hat", werden nicht näher benannt. Ersichtlich ist lediglich, dass sich der Angeklagte hinsichtlich des Terminstages der Berufungshauptverhandlung geirrt hat.
Ferner hat die Strafkammer zwar erkannt, dass das Gericht auch bei einem ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erscheinenden Angeklagten die Grundsätze eines fairen Verfahrens und insbesondere die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht zu beachten hat. Die pauschale, nicht näher begründete Würdigung, mit der das Landgericht es abgelehnt hat, mit dem Beginn der Verhandlung länger als eine Stunde zuzuwarten, ist jedoch unzureichend. Bei Einhaltung eines fairen Verfahrens kann sich die Verpflichtung ergeben, mit dem Beginn der Hauptverhandlung zuzuwarten, wenn der Angeklagte mitteilt, dass er sich verspäten, aber noch innerhalb angemessener Zeit erscheinen werde. Dies gilt unabhängig davon, ob den Angeklagten für ein verspätetes Eintreffen eine Schuld trifft oder nicht, soweit ihm nicht grobe Nachlässigkeit oder Mutwilligkeit zur Last fällt (KG, Beschl. v. 5. Mai 1997 – 1 Ss 94/97; OLG München, Beschl. v. 5. Juli 2007 – 4 EStG RR 122/07; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 7. März 2011 – 1 Ss 19/11; jeweils zit. nach Juris).
Für einen Fall grober Nachlässigkeit ist in den Urteilsgründen Ausreichendes nicht dargetan. Der bloße Irrtum hinsichtlich des Terminstages genügt ohne weitere Prüfung der zu Grunde liegenden Umstände hierfür nicht.
Bei der Bemessung der zumutbaren weiteren Wartezeit ist im Übrigen zu beachten, dass die Regelung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO eng auszulegen ist und der grundgesetzlich gewährte Anspruch auf rechtliches Gehör nicht unzulässig verkürzt werden darf. Die Möglichkeit der Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zur Sache beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Erforderlich ist insoweit eine Abwägung zwischen den Interessen des Angeklagten an einer Sachentscheidung und dem Interesse an der beschleunigten Durchführung des Verfahrens bzw. der Aufrechterhaltung eines geordneten und zeitlich geplanten Ablaufs der Hauptverhandlungen (vgl. KG, aaO.).
An einer diese Umstände berücksichtigenden Erörterung in den Urteilsgründen fehlt es. Das Landgericht hat sich weder hinreichend damit auseinandergesetzt, dass der Angeklagte offensichtlich an der Berufungshauptverhandlung teilnehmen und anscheinend schnellstmöglich noch erscheinen wollte, noch eine nachzuvollziehende Abwägung zwischen den Belangen des Angeklagten und dem Interesse an der Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Sitzungsbetriebes erkennen lassen. Inwieweit dem Gericht wegen anstehender weitere Termine schlechterdings – auch im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter – ein längeres Zuwarten nicht zuzumuten war (vgl. hierzu KG, aaO.), ist nicht ausgeführt worden.