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OLG Brandenburg Beschluss vom 07.03.2011 - (1) 53 Ss 19/11 (5/11), 1 Ws 19/11 - Wartepflicht des Gerichts in der Berufungshauptverhandlung

OLG Brandenburg v. 07.03.2011: Zur Wartepflicht des Gerichts in der Berufungshauptverhandlung


Das OLG Brandenburg (Beschluss vom 07.03.2011 - (1) 53 Ss 19/11 (5/11), 1 Ws 19/11) hat entschieden:
Verletzung des § 329 StPO (Verstoß gegen Grundsätze eines fairen Verfahrens und der hieraus abzuleitenden Fürsorgepflicht) durch Verwerfung der Berufung trotz der - zutreffenden- telefonischen Ankündigung, dass der Angeklagte irrtümlich vor dem erstinstanzlichen Gericht erschienen sei und deshalb um 1 Stunde und 15 Minuten verspätet bei der Berufungskammer eintreffen wird.


Gründe:

Mit der am 22. Dezember 2010 eingegangenen sofortigen Beschwerde wendet sich die Angeklagte gegen den am 16. Dezember 2010 zugestellten Beschluss der 6. kleinen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 8. Dezember 2010, durch den der Antrag der Angeklagten vom 18. November 2010 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsverhandlung vom 28. Oktober 2010 verworfen worden ist. Mit der Revision wendet sich die Angeklagte gegen das Verwerfungsurteil des Landgerichts Potsdam vom 28. Oktober 2010.

1. Die gemäß § 46 Abs. 3 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist formgerecht eingelegt worden und innerhalb der vorgeschriebenen Frist eingegangen. Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft berechnet sich die Wochenfrist des § 45 Abs. 1 StPO vom Zeitpunkt der Zustellung des Verwerfungsurteils und nicht vom Zeitpunkt der Kenntnis der Terminsversäumung.

Der Beschwerde muss allerdings der Erfolg versagt bleiben. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung ist unbegründet, da die Gründe, die die Angeklagte vorbringt, dem Berufungsgericht bereits bekannt waren, als es die Berufung verwarf (BVerfG, Beschluss vom 29. März 2007 - 2 BVR 2366/06; KG Berlin, NStZ-RR 2006, 183). Die Angeklagte kann daher ihr Wiedereinsetzungsgesuch nicht erfolgreich auf den Vortrag stützen, sie habe die Hauptverhandlung aufgrund der Annahme, dass sie in stattfände, versäumt. Dies war dem Berufungsgericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt und ist in dem Verwerfungsurteil als „nicht zur Entschuldigung geeignet“ angesehen worden. Soweit die Beschwerdeführerin darüber hinaus vorträgt, ihre Ladung sei nicht ihr persönlich zugestellt worden, ergibt sich aus der Zustellungsurkunde zum Termin vom 28. Oktober 2010, dass ihr die Ladung am 8. Oktober 2010 persönlich übergeben worden ist. Ihre eigene Erklärung und eidesstattliche Versicherung, die kein zulässiges Mittel der Glaubhaftmachung war, ist bereits dadurch widerlegt.

Grund für das Nichterscheinen vor dem Berufungsgericht war zudem in dem Irrtum über den Terminsort zu sehen und beruhte nicht auf einer fehlenden oder verspäteten Zustellung der Ladung.

2. Die gemäß § 333 StPO statthafte und nach den §§ 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht angebrachte Revision hat demgegenüber in der Sache Erfolg.

Die Verfahrensrüge der Verletzung des § 329 StPO ist zulässig erhoben worden. Aus den Urteilsgründen ergibt sich die angesetzte Terminszeit mit 9.10 Uhr. Die Angeklagte hat dargelegt, dass sie um 10.30 bei dem Landgericht erschienen sei, so dass das Rechtsmittelgericht überprüfen kann, inwieweit das erkennende Gericht seiner Wartepflicht gerecht geworden ist (vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 303 ff.). Auch im Übrigen wird das Revisionsvorbringen den Anforderungen des § 344 StPO gerecht. Insbesondere wird ausreichend vorgetragen, dass das Ausbleiben der Angeklagten entschuldigt gewesen sei.

Die Formalrüge ist begründet. Die Möglichkeit der Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zur Sache beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Beschwerdeführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Dabei ist aber eine enge Auslegung der Vorschrift des § 329 Abs. 1 StPO angebracht, um zu verhindern, dass der grundgesetzlich gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verkürzt wird. Daraus ergibt sich zunächst, dass der Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung zugunsten des Angeklagten weit ausgelegt werden muss (OLG München VRS 113, 117). Es kommt nicht darauf an, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat, sondern auf die wirkliche Sachlage, das heißt darauf, ob der Angeklagte entschuldigt ist (BGH NJW 1962, 2020 ff.; OLG Brandenburg, Beschluss vom 14.08.2002 - 1 Ss 52102).

Der Senat verweist insoweit auf seine Ausführungen in dem Beschluss vom 7. März 2011, die Revision des Mitangeklagten betreffend. Hier hat der Senat die Generalstaatsanwaltschaft wie folgt zitiert:
„…Die Revision ist erfolgreich, weil die Auslegung der Vorschrift es gebietet, dass das Gericht auch in einem Fall, in dem - wie hier - der Angeklagte ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erscheint, die Grundsätze eines fairen Verfahrens und insbesondere die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht beachtet (BayObLG bei Bär, DAR 1987, 315). Aus dieser ergibt sich nicht nur die Pflicht, mit einer gewissen Verzögerung des Angeklagten zu rechnen und eine Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung einzuhalten, sondern zusätzlich, wenn der Angeklagte innerhalb dieser Wartezeit mitteilt, dass er sich verspäten, aber noch innerhalb angemessener Zeit erscheinen werde, einen weiteren Zeitraum zuzuwarten (BayObLG a. a. O.; VRS 76, 137, 138; VRS 60, 304; OLG Stuttgart MDR 1985, 871; OLG Hamm VRS 54, 450, 451). Dies gilt unabhängig davon, ob den Angeklagten an dem verspäteten Eintreffen eine Schuld trifft oder nicht, soweit ihm nicht grobe Nachlässigkeit oder gar Mutwilligkeit zu Last fällt [KG, Beschluss vom 05.05.1997 - (4) 1 Ss 94/97 (41/97) - m.w.N.]. Für ein mutwilliges Säumnis ist vorliegend nichts ersichtlich. Aber auch grobe Nachlässigkeit lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen.“
Nach den Feststellungen des Landgerichts teilte der Angeklagte … am Tag der Hauptverhandlung der Geschäftsstelle des Landgerichts um 09:10 Uhr und somit, da die Information der Kammer zur Kenntnis gelangt ist, offensichtlich noch innerhalb der üblichen Wartezeit, fernmündlich mit, dass er und die Revisionsführerin sich beim Amtsgericht in befinden würden. Die letzte Hauptverhandlung sei dort gewesen, weshalb er angenommen habe, dass auch diese Verhandlung dort stattfinde. Die Revisionsführerin führt darüber hinaus aus, dass ihr Verteidiger erklärt habe, dass beide Angeklagte sich nunmehr auf dem Weg zum Landgericht Potsdam befänden und spätestens um 10:30 Uhr dort eintreffen würden. Die Revisionsführerin habe dann auch um 10:15 Uhr das Landgericht erreicht und sich um 10:30 Uhr in der dortigen Geschäftsstelle eingefunden.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände hätte es in den Urteilsgründen der Erörterung bedurft, weshalb für die Kammer ein weiteres Zuwarten auf das angekündigte Erscheinen nicht zumutbar war (KG, a. a. O.). Es war offensichtlich, dass die Revisionsführerin an der Hauptverhandlung teilnehmen wollte und gerade nicht der Fall des der Berufungshauptverhandlung fernbleibenden und auf eine Entscheidung verzichtenden Angeklagten vorliegt. Sie ist von ihrem Wohnort in … aus angereist, um die Hauptverhandlung wahrzunehmen und ihr Lebensgefährte hat noch innerhalb der Wartezeit des Gerichts beim Landgericht angerufen, um die Verspätung anzukündigen. Es kommt nicht darauf an, ob der von der Angeklagten selbst geltend gemachte Irrtum das Ausbleiben in der Berufungshauptverhandlung entschuldigen kann, sondern darauf, dass die Nachlässigkeit bei der Kenntnisnahme von der Terminsladung deshalb nicht als grob fahrlässig angesehen werden kann, weil die Angeklagte sich nach Bekanntwerden des Irrtums unverzüglich auf den Weg nach Potsdam gemacht hat und dort um 10:30 Uhr mit ihrem Verteidiger bei der Geschäftsstelle vorsprach.

Da angekündigt worden ist, dass die Angeklagte vor dem Amtsgericht in ... erschienen ist und mindestens eine Stunde benötigt, um in Potsdam vor dem Landgericht zu erscheinen, war es zumutbar, diesen Zeitraum abzuwarten. Auch angesichts des Umstands, dass erstinstanzlich eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe von einem Jahr ausgeurteilt worden war, hätte die Kammer der Angeklagten aufgrund der ihr obliegenden Fürsorgepflicht die Möglichkeit einräumen müssen, durch ihr verspätetes Erscheinen die Folgen einer Säumnis abzuwenden.

Im Ergebnis ist mithin auf die Revision der Angeklagten das Urteil des Landgerichts Potsdam gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung gemäß § 354 Abs. 2 StPO an eine andere Kammer des Landgerichts Potsdam, die auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben wird, zurückzuverweisen.