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VGH München Beschluss vom 20.03.2012 - 11 CS 12.161 - Verdacht der Alkoholabhängigkeit
VGH München v. 20.03.2012: Auflagen bei Verdacht der Alkoholabhängigkeit
Der VGH München (Beschluss vom 20.03.2012 - 11 CS 12.161) hat entschieden:
Lag zwar im Jahre 2005 eine Alkoholabhängigkeit vor, die nach Durchführung einer Entzugsbehandlung erfolgreich überwunden und in eine stabile Abstinenz überführt wurde, kann die Einschätzung des Gutachters, dass beim Antragsteller sechs Jahre nach Erstfeststellung einer Abhängigkeitsproblematik unter Zugrundelegung des bisherigen Verlaufs trotz kurzzeitigen Rückfalls weiterhin Fahreignung angenommen werden könne, nur so verstanden werden, dass der Betroffene nicht erneut alkoholabhängig geworden ist, so dass die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis unter Auflagen geboten sein kann.
Siehe auch Alkoholabhängigkeit
Gründe:
I.
Der 1964 geborene Antragsteller wendet sich gegen die für sofort vollziehbar erklärte Entziehung seiner Fahrerlaubnis.
Dem Antragsteller wurde im Jahre 1992 eine Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alte Einteilung) erteilt.
Durch Ereignismeldung der Polizei vom 27. Juni 2011 wurde die Fahrerlaubnisbehörde darüber informiert, dass ein Arbeitskollege des Antragstellers der Polizei telefonisch mitgeteilt habe, dieser sei seit einer Woche unentschuldigt von der Arbeit ferngeblieben. An der Wohnadresse des Antragstellers habe nur ein alkoholbedingtes "Säuseln" durch die Wohnungstüre wahrgenommen werden können. Nach Wohnungsöffnung durch die Feuerwehr sei der Antragsteller in seinem Schlafzimmer angetroffen worden. Beim Anblick (der Einsatzkräfte) des BRK habe er geäußert, "bitte helft mir, ich brauche einen Entzug, ich kann nicht mehr". Der Antragsteller sei in das Krankenhaus Fürth verbracht worden. Ein Alkoholtest sei nicht möglich gewesen, da der Antragsteller den Alkomaten mit einer Schnapsflasche verwechselt habe und daraus habe trinken wollen.
Die Fahrerlaubnisbehörde nahm dies zum Anlass, vom Antragsteller die Vorlage eines Gutachtens eines Facharztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation der Fachrichtung Psychiatrie anzufordern. Durch das Gutachten sollte festgestellt werden,
"ob sich die auf den aktenkundigen Tatsachen begründete Annahme einer Alkoholabhängigkeit bestätigen lässt bzw. ob sich, wenn keine Abhängigkeit vorliegt, Anzeichen für Alkoholmissbrauch finden lassen".
Nachdem sich der Antragsteller zunächst gegen die Gutachtensanforderung wandte, legte er das geforderte Gutachten des Dr. W. vom 19. Oktober 2011 der Fahrerlaubnisbehörde am 24. Oktober 2011 vor. Das Gutachten stellt zusammenfassend fest, aufgrund der Schilderungen des Probanden sei davon auszugehen, dass dessen bis 2005 gezeigtes Alkoholkonsummuster zusammen mit dem Auftreten körperlicher Entzugserscheinungen im Rahmen der Entgiftungsbehandlung im Jahre 2005 doch als Beleg für eine Alkoholabhängigkeit gelten könne. Die danach erfolgten Anstrengungen zur Erreichung einer stabilen Abstinenz seien über Jahre erfolgreich gewesen. Dafür sprächen auch die Ergebnisse der wiederholt aus anderen Gründen erfolgten Blutuntersuchungen. Das Ereignis im Juni 2011 sei vor diesem Hintergrund als kurz dauernder Rückfall zu werten, welcher ohne länger anhaltende oder dauerhafte Folgen geblieben sei. Die vom Probanden seither angegebene strikte Alkoholkarenz sei glaubhaft und könne angesichts der neuerlich erhobenen Laborbefunde als hinreichend belegt gelten. Die in den Begutachtungsleitlinien gegebenen Empfehlungen seien im vorliegenden Falle nur bedingt anwendbar. Selbst wenn man das Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit unterstelle, habe der Antragsteller über einen Zeitraum von sechs Jahren bewiesen, dass er alkoholabstinent leben könne. Es spreche weiterhin für ihn, dass er psychosozial gut integriert sei und bisher zu keinen Verkehrsdelikten Anlass gegeben habe. Er sei hinreichend problembewusst und habe die fortbestehende Alkoholgefährdung erkannt und diesbezüglich weitere Hilfen in Anspruch genommen. Insofern könne aus gutachterlicher Sicht sechs Jahre nach der Erstfeststellung einer Abhängigkeitsproblematik unter Zugrundelegung des bisherigen Verlaufs trotz kurzzeitigen Rückfalls weiterhin Fahreignung angenommen werden, dies unter Auflage dreier weiterer zu willkürlichen Zeitpunkten zu erfolgenden Blut- und Urinkontrollen innerhalb des nächsten Jahres. Anders als nach der Erstmanifestation der Alkholproblematik verfüge der Antragsteller mittlerweile über ausreichende Erfahrung und Kenntnisse im Umgang mit dieser Erkrankung und habe die Fähigkeit zu stabiler Abstinenz über Jahre hinweg bewiesen.
Daraufhin entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller mit Bescheid vom 10. November 2011 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass die Feststellungen im Gutachten vom 19. Oktober 2011 die Nichteignung des Antragstellers belegten. Das Gutachten habe beim Antragsteller unzweifelhaft eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert. Eine Alkoholabstinenz bestehe längstens seit Juni 2011. Gemäß Nr. 8.3 der Anlage 4 zur FeV bestehe bei einer Alkoholabhängigkeit nicht die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Die Fahreignung sei dem Grunde nach frühestens nach einer mindestens einjährigen Alkoholabstinenz und einer positiven medizinisch-psychologischen Untersuchung als wiederhergestellt anzusehen.
Gegen diesen Bescheid ließ der Antragsteller Anfechtungsklage zum Verwaltungsgericht Ansbach erheben und nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 10. November 2011 wiederherzustellen.
Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag durch Beschluss vom 23. Dezember 2011 als unbegründet ab. Die Antragsgegnerin habe zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung davon ausgehen können, dass beim Antragsteller mindestens einmal eine Alkoholabhängigkeit vorgelegen habe, möge er auch für längere Zeit "trocken" gewesen sein. Andererseits sei jedoch durch den nachgewiesenen, nicht unerheblichen Alkoholgenuss im Juni 2011 davon auszugehen, dass erneut von der fehlenden Fahreignung des Antragstellers auszugehen sei, die allenfalls dann als wiedererlangt angesehen werden könnte, wenn er - jedenfalls im Regelfall - wieder eine ausreichende Zeit nachgewiesenermaßen abstinent lebe und eine medizinisch-psychologische Begutachtung ergebe, dass diese Abstinenz nun von Dauer sein werde. Die Tatsache, dass beim Antragsteller jedenfalls im Jahre 2005 eine "akute" Alkoholabhängigkeit vorgelegen habe, sei durch das Gutachten vom 19. Oktober 2011 ausreichend erwiesen. Desgleichen sei nichts dagegen zu erinnern, dass die Fahrerlaubnisbehörde aufgrund des Polizeiberichts vom Juni 2011 von einem Rückfall und somit wieder von einer akuten Alkoholabhängigkeit ausgegangen sei. Bei wieder vorliegender akuter Alkoholabhängigkeit sei jedoch nach Nr. 8.3 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung nicht gegeben. Aus dem Gutachten vom 19. Oktober 2011 ergebe sich nicht in nachvollziehbarer Weise, dass der erneute Alkoholkonsum im Juni 2011 nicht als Rückfall angesehen werden könne. Hierfür seien dem Gutachten lediglich Behauptungen, aber keine ausreichende Begründung zu entnehmen. Dass ein erheblicher Alkoholkonsum bei einem trockenen Alkoholiker keinen Rückfall anzeige, hätte, wenn eine derartige Gestaltung in medizinischer Hinsicht überhaupt als möglich erscheine, im Rahmen der Darlegung einer Regelabweichung gewürdigt und besonders begründet werden müssen. Allein die Tatsache, dass der Antragsteller vor diesem Rückfall längere Zeit abstinent gewesen sein möge, belege nach einem Rückfall gerade nicht, dass er künftig auch wieder die Fähigkeit haben werde, alkoholabstinent zu leben. Zudem sei dies eine verkehrspsychologische Feststellung, die nicht in die Fachkompetenz des hiesigen Gutachters falle.
Eine andere Entscheidung der Behörde wäre allenfalls dann möglich gewesen, wenn bereits im Zeitpunkt ihrer Entscheidung der Antragsteller seine Fahreignung wiedererlangt gehabt hätte. Dies wäre jedoch nur möglich gewesen, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits ein positives medizinisch-psychologisches Gutachten im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. e FeV vorgelegen hätte. Maßgeblich für die Wiedererlangung der Fahreignung sei neben einer erfolgreichen und nachgewiesenen Entwöhnungsbehandlung, ob ein Betroffener in der Regel nicht nur eine einjährige, nachgewiesene Alkoholabstinenz durchgehalten habe, sondern darüber hinaus, ob zu erwarten sei, dass er diese Abstinenz auch noch nach der Mindestabstinenzdauer von in der Regel einem Jahr einhalten werde. Hierzu bedürfe es jedoch nicht nur einer medizinischen Begutachtung, sondern auch einer verkehrspsychologischen Abklärung, ob der Betroffene voraussichtlich hierzu in der Lage sein werde. Erst im Rahmen dieser Begutachtung komm es letztlich darauf an, ob ein Betroffener die Voraussetzungen für eine positive Abstinenzprognose erfüllen werde. Einstiegsvoraussetzung für eine derartige positive Prognose sei jedoch, wie dies Nr. 8.4 der Anlage 4 zur FeV für den Regelfall vorgebe, dass eine ausreichende Abstinenzdauer schon einmal durchgehalten worden sei. Insoweit sei eine durchgehaltene und nachgewiesene Abstinenz für in der Regel mindestens ein Jahr zwar eine notwendige, nicht jedoch bereits hinreichende Bedingung für die Wiedererlangung der Fahrerlaubnis.
Letztlich lägen auch keine Hinweise darauf vor, dass ein Ausnahmefall im Sinne der Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV vorliegen könnte. Nachvollziehbare Anhaltspunkte für eine Ausnahmegestaltung hätte das Gutachten aufzeigen müssen, dem insoweit jedoch nichts zu entnehmen sei. Somit sei von einem Regelfall einer Alkoholabhängigkeit auszugehen, die sich nach einer möglicherweise längeren Abstinenzphase durch einen Rückfall wieder aktualisiert habe.
Gegen diesen Beschluss ließ der Antragsteller Beschwerde einlegen mit dem sinngemäßen Antrag,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. November 2011 hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis wiederherzustellen und den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 23. Dezember 2011 entsprechend abzuändern.
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass das Verwaltungsgericht nicht auf die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheids eingehe. Die Beibringungsanordnung vom 29. Juni 2011 habe sich ausschließlich auf den Polizeibericht vom 27. Juni 2011 gestützt. Ein Alkoholtest habe vor Ort nicht durchgeführt werden können. Der Antragsteller sei ins Klinikum Fürth verbracht worden, wo ebenfalls keine Blutalkoholkonzentration festgestellt worden sei. Der Antragsteller sei nicht im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges unter Alkoholeinfluss im Straßenverkehr auffällig geworden.
In dem als Rechtsgrundlage angegebenen § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV sei von Alkoholabhängigkeit die Rede, die nach Nr. 2 des Vorspanns zu den Abschnitten F 10 bis F 19 der ICD-10 nur dann vorliege, wenn eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen bestehe, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. Nach den Begutachtungsleitlinien könne eine solche sichere Diagnose einer Abhängigkeit nur gestellt werden, wenn während des letzten Jahres vor der Diagnose drei oder mehr der sechs in Abschnitt 3.2 der Begutachtungsleitlinien aufgeführten Kriterien gleichzeitig erfüllt gewesen seien. Kein einziges dieser Kriterien sei beim Antragsteller im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung erfüllt gewesen.
Das vom Antragsteller trotzt der Rechtswidrigkeit der Anordnung vorgelegte Gutachten sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Fahreignung bei ihm bestehe. Im Gutachten werde gerade nicht eindeutig festgestellt, dass er in der Vergangenheit alkoholabhängig gewesen sei. Es würden Probleme im Umgang mit dem normalen Alkoholkonsum geschildert (also Missbrauch). Eine Abhängigkeit im medizinischen Sinne sei jedoch nicht positiv festgestellt worden. Die Elektroenzephalographie sowie die Laborwerte hätten keinerlei Hinweise für eine Alkoholabhängigkeit ergeben, noch nicht einmal für einen Alkoholmissbrauch. Es existierten im Akt überhaupt keine beim Antragsteller gemessenen Alkoholwerte. Selbst wenn man aber dem Gutachten eine Alkoholabhängigkeit entnehmen wolle, so übersehe das Verwaltungsgericht, dass die Nr. 8.3 der Anlage 4 zur FeV ein Regeltatbestand sei, von dem es Ausnahmen geben müsse. Das Verwaltungsgericht übergehe die Ausführungen hierzu. Insbesondere bleibe völlig unbeantwortet, weshalb eine Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen sei, nachdem gerade ein Gutachten eines Psychiaters mit verkehrsmedizinischem Schwerpunkt die Fahreignung bei einer nachgewiesenen Abstinenz von fünf bis sechs Monaten bejahe. Es werde lediglich ohne nähere Begründung behauptet, dies könne nur von einem Verkehrspsychologen festgestellt werden und falle nicht in die Kompetenz des Gutachters. Der Gutachter sei jedoch Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapie mit einem Schwerpunkt im Bereich der verkehrsmedizinischen Beurteilung. Die Behauptung, die Fahreignung könne nur ein Verkehrspsychologe, der weitaus geringer qualifiziert sei, feststellen, sei falsch. Angesichts dieser Umstände sei die Entziehung der Fahrerlaubnis als unverhältnismäßig zu betrachten. Die Antragsgegnerin hätte Auflagen erteilen können etwa dergestalt, dass der Antragsteller Blut- und Urinkontrollen innerhalb des nächsten Jahres beibringen müsse. Es hätten daher ausreichend mildere Mittel zur Verfügung gestanden, um dasselbe Ziel, nämlich die Sicherheit des Straßenverkehrs, zu erreichen.
Die Interessenabwägung im Rahmen des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO sei vom Verwaltungsgericht in nicht nachvollziehbarer Weise vorgenommen worden. Die Sicherheit des Straßenverkehrs sei gerade nicht gefährdet, da ein Facharzt dem Antragsteller attestiert habe, er würde strikte Alkoholkarenz einhalten, dies durch entsprechende Laborbefunde belegt sei, die Fahreignung im Gutachten insgesamt bejaht werde und der Antragsteller ohnehin nie alkoholisiert am Straßenverkehr teilgenommen habe.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zur Begründung verteidigt sie den angefochtenen Beschluss. Ergänzend führt sie aus, aufgrund des Gutachtens werde deutlich, dass der Antragsteller wegen des bis in das Jahr 2005 gezeigten Alkoholkonsums zusammen mit dem Auftreten körperlicher Entzugserscheinungen im Rahmen einer Entgiftungsbehandlung als alkoholabhängig anzusehen gewesen sei. Im Juni 2011 sei es zu einem kurz dauernden Rückfall der Erkrankung gekommen. Damit sei die Voraussetzung der Nr. 8.3 der Anlage 4 zur FeV, nämlich das Bestehen einer Alkoholabhängigkeit mit der Folge der Fahrungeeignetheit, grundsätzlich gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakte verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde, bei deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die form- und fristgerecht dargelegten Gründe beschränkt ist, ist mit der Maßgabe begründet, dass die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis in Nr. 1 des Bescheids vom 10. November 2011 mit Auflagen im Sinn von § 80 Abs. 5 Satz 4 VwGO zu verbinden war.
Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung wird die Entziehung der Fahrerlaubnis in Nr. 1 Satz 1 des angefochtenen Bescheids der Nachprüfung im anhängigen Hauptsacheverfahren voraussichtlich nicht standhalten. Die Antragsgegnerin hat die Entziehung der Fahrerlaubnis auf § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV gestützt, wonach die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis diese zu entziehen hat, wenn er sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dem Antragsteller fehle nach Nr. 8.3 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung, weil er ausweislich der Feststellungen in dem Fahreignungsgutachten vom 19. Oktober 2011 alkoholabhängig sei.
Der Senat hat erhebliche Zweifel daran, ob sich eine Alkoholabhängigkeit des Antragstellers im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheids aus dem vorgelegten Fahreignungsgutachten oder sonstigen Umständen herleiten lässt.
Alkoholabhängigkeit wird nach Nr. 3.11.2 der Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung (Stand: 2.11.2009) unter Bezugnahme auf die ICD-10 dann angenommen, wenn irgendwann während des letzten Jahres drei oder mehr der folgenden Kriterien gleichzeitig vorhanden waren:
- Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren.
- Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums.
- Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduzierung des Konsums, nachgewiesen durch substanzspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.
- Nachweis einer Toleranz.
- Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zu Gunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
- Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen.
Während des letzten Jahres vor dem Erlass des Entziehungsbescheids am 10. November 2011 könnte sich eine Alkoholabhängigkeit des Antragstellers am ehesten in der Woche vor dem 27. Juli 2011 manifestiert haben, während der er unentschuldigt der Arbeit fern blieb und zuhause offensichtlich erheblich dem Alkohol zugesprochen hat. Es ist jedoch aus dem Akteninhalt nicht ersichtlich, dass beim Antragsteller während dieser Woche oder unmittelbar danach drei oder mehr der in der ICD-10 genannten Kriterien gleichzeitig erfüllt waren. Zwar spricht viel dafür, dass damals die Kriterien 1 und 2 erfüllt waren, weil nämlich ein starker Wunsch, Alkohol zu konsumieren und eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums vorgelegen haben dürften. Das Vorliegen eines oder mehrerer der in der ICD-10 genannten weiteren Kriterien ist jedoch nicht erkennbar.
Gegen die Annahme einer Alkoholabhängigkeit des Antragstellers spricht jedoch vor allem der Inhalt des Fahreignungsgutachtens vom 19. Oktober 2011. Danach lag beim Antragsteller zwar im Jahre 2005 noch eine Alkoholabhängigkeit vor, die er aber nach Durchführung einer Entzugsbehandlung im Klinikum Erlangen im Jahre 2005 erfolgreich überwunden und eine stabile Abstinenz erreicht habe. Dafür sprechen nicht nur die Angaben des Antragstellers selbst, sondern auch die Ergebnisse der wiederholt aus anderen Gründen erfolgten Laboruntersuchungen. Hierbei handelt es sich um die medizinischen Laborberichte vom 8. August 2006, 7. August 2009 und 30. März 2011, nach denen die Leberwerte des Antragstellers im August 2006 im Normalbereich lagen, und die im August 2009 und im März 2011 durchgeführten Blutuntersuchungen neben weiterhin normalen Werten für GOT, GPT und Gamma-GT auch normale Werte für das mittlere Zellvolumen ergaben und somit keine Hinweise auf einen zurückliegenden erhöhten Alkoholkonsum.
Vor diesem Hintergrund hat der Gutachter das Ereignis im Juni 2011 als kurz dauernden Rückfall bewertet, der ohne länger anhaltende oder dauerhafte Folgen geblieben sei. Die vom Antragsteller angegebene strikte Alkoholkarenz seither sei glaubhaft und durch die neuerlich erhobenen Laborbefunde - nämlich den medizinischen Laborbericht vom 5. September 2011 - hinreichend belegt.
Die Einschätzung des Gutachters, dass beim Antragsteller sechs Jahre nach Erstfeststellung einer Abhängigkeitsproblematik unter Zugrundelegung des bisherigen Verlaufs trotz kurzzeitigen Rückfalls weiterhin Fahreignung angenommen werden könne, kann nach Auffassung des Senats nur so verstanden werden, dass der Antragsteller durch den Alkoholkonsum im Juni 2011 nicht erneut alkoholabhängig geworden ist.
Diese Beurteilung des Gutachters stützt sich entgegen der Darstellung des Verwaltungsgerichts nicht lediglich auf Behauptungen ohne Aufzeigen einer ausreichenden Begründung. Der Gutachter hat vielmehr neben dem Ergebnis der körperlichen und psychiatrischen Untersuchung des Antragstellers, dessen eigenen Schilderungen und den bereits genannten wiederholten medizinischen Laborberichten auch den Umstand berücksichtigt, dass der Antragsteller psychosozial gut integriert und ausreichend problembewusst sei. Er habe die fortbestehende Alkoholgefährdung erkannt und diesbezüglich weitere Hilfen in Anspruch genommen. Aus diesen Gründen folgt der Senat nicht der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Beurteilung des Gutachters im Fahreignungsgutachten vom 19. Oktober 2011 nicht nachvollziehbar sei.
Der von der Fahrerlaubnisbehörde und dem Verwaltungsgericht aus dem "Rückfall" im Juni 2011 gezogene Schluss einer erneuten Alkoholabhängigkeit des Antragstellers ist deshalb aus dem Gutachten nicht abzuleiten. Die Frage einer Wiedererlangung der Fahreignung, die das Verwaltungsgericht eingehend erörtert und verneint hat, stellt sich somit im vorliegenden Fall nicht, so dass der Beschwerde stattzugeben war.
Im Hinblick auf die beim Antragsteller trotz Verneinung einer Alkoholabhängigkeit noch bestehende Alkoholgefährdung wird diese Entscheidung jedoch entsprechend dem vom Gutachter im Fahreignungsgutachten gemachten Vorschlag mit Auflagen verbunden, die sicherstellen sollen, dass er während der Dauer der aufschiebenden Wirkung nicht unter dem Einfluss von Alkohol motorisiert am Straßenverkehr teilnimmt. Dieses Ziel lässt sich nur erreichen, wenn ihm aufgegeben wird, während dieser Zeitspanne Alkohol gänzlich zu vermeiden, und den Verzicht auf dieses Rauschmittel durch engmaschige, für ihn unvorhersehbare Kontrollen nachzuweisen.
In Ausübung des Ermessens, das dem Gericht bei der Ausgestaltung von Auflagen nach § 80 Abs. 5 Satz 4 VwGO zusteht, legt der Verwaltungsgerichtshof den Inhalt des Vertrages, den der Antragsteller nach der Nr. III.2 des Tenors dieses Beschlusses abzuschließen und zu erfüllen, hat wie folgt fest:
- Der Arzt hat den Antragsteller innerhalb von drei Kalendermonaten dreimal an unregelmäßig anzuberaumenden Terminen zu einer unter ärztlicher Sichtkontrolle stattfindenden Abgabe von Urin und - falls nach ärztlichem Ermessen erforderlich - zur zusätzlichen Abnahme von Blut einzubestellen, wobei zwischen der Unterrichtung des Antragstellers über den jeweiligen Termin und der Urinabgabe bzw. Blutentnahme höchstens 48 Stunden liegen dürfen.
- Der Arzt hat sich, sofern im der Antragsteller nicht von Angesicht bekannt ist, bei allen Terminen zur Blutentnahme oder Urinabgabe anhand amtlicher Lichtbildausweise über die Identität des Erschienenen zu vergewissern.
- Der Antragsteller hat sich im Vertrag zu verpflichten, den beauftragten Arzt von jedem Umstand, der ihn hindert, einer Einbestellung im Sinne des vorstehenden Buchstabens a) Folge zu leisten, unverzüglich nach dem Bekanntwerden des Umstands - jedenfalls aber vor dem Zeitpunkt einer Einbestellung - zu unterrichten. Der Arzt hat sich zu verpflichten, bis zum Ablauf des nächsten Werktags nach einem vom Antragsteller - entschuldigt oder unentschuldigt - nicht wahrgenommen Termin im Sinne des Buchstabens a) die Antragsgegnerin hierüber zu informieren.
- Die Analyse des Urins bzw. des Bluts hat sich auf die Ermittlung des EtG-Werts zu beziehen. Ferner sind der Kreatiningehalt des Urins, sein spezifisches Gewicht und sein pH-Wert zu bestimmen. Der beauftragte Arzt ist zu ermächtigen, den Kreis der in die Untersuchung einzubeziehenden Stoffe zu erweitern und zusätzliche, dem Antragsteller zu entnehmende Proben analysieren zu lassen, soweit ihm das geboten erscheint, um einen Gebrauch von Alkohol durch den Antragsteller sicher auszuschließen.
- Die Befunde der Urin- sowie etwaiger Blutuntersuchungen sind innerhalb einer Woche, nachdem sie dem zu beauftragenden Arzt vorliegen, an die Antragsgegnerin weiterzuleiten. Die Weitergabe ist mit der Erklärung zu verbinden, dass die sich aus den vorstehenden Punkten ergebenden Anforderungen eingehalten wurden. Potentiell rechtserhebliche Wahrnehmungen im Zusammenhang mit der Blut- oder Urinabgabe (z.B. klinische Auffälligkeiten des Antragstellers) sind der Behörde mitzuteilen.
- Der Antragsteller hat den beauftragten Arzt in dem abzuschließenden Vertrag umfassend von der Schweigepflicht gegenüber Behörden und Gerichten zu entbinden.
Sollte der Antragsteller den vorstehenden Verpflichtungen nicht fristgerecht nachkommen, kann die Antragsgegnerin beim Verwaltungsgericht die Abänderung dieses Beschlusses nach § 80 Abs. 7 VwGO beantragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG sowie den Empfehlungen in den Abschnitten II.1.5 Satz 1, 46.3, 46.5 und 46.8 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327). Die Befugnis des Verwaltungsgerichtshofs, die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts von Amts wegen abzuändern, ergibt sich aus § 63 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).