Das Verkehrslexikon
OLG München Urteil vom 06.09.2013 - 10 U 2336/13 - Haftung des Falschblinkenden bei hoher Geschwindigkeit
OLG München v. 06.09.2013: Zur Haftung des Falschblinkenden bei hoher Geschwindigkeit
Das OLG München (Urteil vom 06.09.2013 - 10 U 2336/13) hat entschieden:
Ein wartepflichtiger Linksabbieger darf in Anbetracht einer hohen Annäherungsgeschwindigkeit - hier: 57 km/h - eines rechts blinkenden Vorfahrtberechtigten nicht darauf vertrauen, dass dieser auch tatsächlich nach rechts abbiegt und die Straße für den Linksabbieger freigibt (Haftungsverteilung 70:30 zu Lasten des Wartepflichtigen).
Siehe auch Irreführendes Falschblinken des Vorfahrtberechtigten
Gründe:
A.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg, die Anschlussberufung hat keinen Erfolg.
I.
Das Landgericht ist zu Unrecht dem Grunde nach von einer Haftungsverteilung von 70 zu 30 zu Lasten der Beklagten ausgegangen.
1. Dem Erstgericht ist kein Fehler bei der Tatsachenfeststellung unterlaufen. Der Senat ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil keine überzeugenden Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden. Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. zuletzt BGH VersR 2005, 945; Senat in st. Rspr., etwa Urt. v. 09.10.2009 - 10 U 2965/09 [juris] und zuletzt Urt. v. 21.06.2013 - 10 U 1206/13). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW 2006, 152 [153]; Senat a.a.O. ); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH a.a.O. ; Senat a.a.O. ).
a) Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass das Fahrzeug des Beklagten zu 1) in der Annäherung an die Kreuzung fortwährend nach rechts geblinkt hat. Dabei spielt es für die Entscheidung keine Rolle, wie wahrscheinlich es war, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs es nur vergessen hat, den Blinker zurückzustellen. Alle Mutmaßungen der Klägerin, der Zeuge S. habe tatsächlich nach rechts abbiegen wollen, sind im Ergebnis neben der Sache, da der Zeuge unstreitig geradeaus weiter gefahren ist.
b) Richtig hat das Erstgericht weiter vor allem unter Hinweis auf die Aussage der unbeteiligten Zeugin D. klargestellt, dass ein Nachweis der Klägerin nicht gelungen ist, der Zeuge S. habe vor der Abbiegemöglichkeit nach rechts so deutlich verzögert, dass auch deswegen der klägerische Fahrer davon ausgehen durfte, dass der Zeuge S. abbiegen werde (vgl. S. 5 des Ersturteils). Das Landgericht hat mit überzeugenden Erwägungen erläutert, weswegen die schwammige Aussage des Zeugen H. (für seine „Begriffe ... auch langsamer geworden“) sowie die Aussage des klägerischen Unfallfahrers nicht ausreichen, die klare und widerspruchsfreie Aussage der Zeugin D. (die Situation sei komisch gewesen, weil der Zeuge S. so schnell dran war und trotzdem geblinkt habe) zu widerlegen. Unzutreffend ist auch die Unterstellung, die Zeugin habe den Fiat Panda zuletzt weit von der Kreuzung entfernt gesehen. Dies ergibt sich nicht aus der Aussage der Zeugin. Im Übrigen fuhr die Zeugin in Richtung des Zeugen S. Da nicht feststeht, wie schnell die Zeugin beschleunigt hat, konnte die Klägerin ihre Behauptung, die Feststellung der Zeugin sei ohne Relevanz nicht beweisen.
c) Das Landgericht ist auch fehlerfrei auf Grund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen K. zu dem Ergebnis gelangt, dass der Zeuge S. mit einer so hohen Geschwindigkeit, die aber nicht über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit lag (bis 57 km/h bei 60 km/h Höchstgeschwindigkeit), gefahren ist, dass ein gefahrloses Abbiegen nach rechts nicht möglich war. Dabei kommt es entgegen der Auffassung der Klägerin nicht darauf an, ob ein womöglich geübterer Fahrer die Kurve mit der vom Sachverständigen angegebenen Geschwindigkeit noch bewältigen kann (so auch der Sachverständige K. im Gutachten vom 07.12.2012, S. 9, Bl. 83 d.A.). Hierbei kann der Senat als Spezialsenat für Verkehrsunfälle aller Art aus eigener Sachkenntnis feststellen, dass die Behauptung der Klägerin, es sei unproblematisch möglich, mit einem Fiat Panda den Abbiegevorgang nach rechts an der Unfallkreuzung mit einer Geschwindigkeit bis zu 57 km/h (vgl. Gutachten a.a.O.) bei Betrachtung der Lichtbilder 18 bis 20 (Bl. 105/106 d.A.) als kaum nachvollziehbar erscheint. Für die Entscheidung maßgeblich war jedoch lediglich die Frage, ob konkrete Anhaltspunkte die Abbiegeabsicht in Zweifel gezogen haben. Dies ist nicht die maximale Geschwindigkeit, mit der eine Kurve noch durchfahren werden kann, sondern eine Abbiegegeschwindigkeit des „Normalfahrers“ (so zutreffend der Sachverständige, Gutachten, a.a.O., S. 12 = Bl. 86 d.A.).
d) Die Argumentation der Klägerin mit den Geschwindigkeitsschätzungen der Zeugen D. und H., aus den sich die Unrichtigkeit verschiedener Sachverständigenfolgerungen ergeben soll, verkennt, dass (retrospektive) Schätzungen von Zeugen vor allem von Geschwindigkeiten nach allgemeiner Erfahrungen häufig sehr ungenau (vgl. OLG Koblenz DAR 1959, 111; OLG Celle VersR 1973, 526; OLG Hamm DAR 1974, 77; VRS 58 [1980] 380; KG, Urt. v. 25.4.1996 - 12 U 1631/95 [juris, dort Rz. 23]; NZV 2002, 34; NZV 2008, 626; OLG Karlsruhe NZV 2008, 586; eingehend Streck 14. VGT 1976, S. 189 ff., wonach Geschwindigkeitsschätzungen nur in 5%-15% der Fälle zutreffend waren; Wielke DAR 2002, 551 [554 unter 4.2]; Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 19. Aufl. Heidelberg 2007, Rz. 197; Schellhammer, Zivilprozess, 14. Aufl. Heidelberg 2012, Rz. 637), wenn auch nicht schlechterdings unbrauchbar sind, wenn entsprechende konkrete Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Schätzung vorliegen (BGH VerkMitt. 1963, 25; VersR 1973, 745; NJW 1985, 3078; OLG Hamm VRS 4 [1951] 293 f. [für einen Zeugen, der kein Kraftfahrer war]; DAR 1971, 218; BayObLG DAR 1958, 338; KG VRS 8 [1955] 298 ff.; 14 [1958] 443 [446]; OLG Karlsruhe NZV 2008, 586). Letzteres ist hier angesichts gegenteiliger, physikalischen Gesetzen gehorchender sachverständiger Feststellungen nicht Fall.
e) Die in der Berufungserwiderung wiederholt vorgebrachten weiteren Einwände der Klägerin gegen die gutachterlichen Äußerungen überzeugen nicht. Der Sachverständige wurde bereits in erster Instanz zu diesen Einwänden umfangreich angehört und hat hierzu überzeugend Stellung genommen (vgl. Protokoll vom 09.04.2013, S. 9 ff. = Bl. 151 ff. d.A.). Die Klägerin hat in ihrem beweiswürdigenden Schriftsatz vom 29.04.2013 wie in der Berufungserwiderung ihre gegenteilige Auffassung bloß wiederholt. Soweit die Klägerin zur Fahrstrecke des Beklagtenfahrzeugs auf die Aussage des Zeugen S. verweist, reicht das nicht aus, das Sachverständigengutachten zu widerlegen. Maßgeblich ist insoweit die objektiv feststellbare Bremsspur des Pkw Fiat (des Zeugen S). Diese Bremsspur der linken Reifen liegt so weit links, dass ein permanentes mittiges Fahren in der Spur, wie der Zeuge S. behauptet hat, technisch nicht darstellbar ist. Gleiches gilt naturgemäß auch für die gleichlautenden Angaben des Zeugen Se., wobei insoweit darauf hinzuweisen ist, dass dieser Zeuge die Fahrtstrecke des Fiat bis direkt zur Kollision nicht beobachtet haben dürfte, da er sich auf den Abbiegevorgang zu konzentrieren hatte (vgl. hierzu Skizze 1 im Gutachten K., Bl. 88 d.A.). Im Übrigen wäre es auch nachvollziehbar, wenn der Zeuge S. verheimlichen hätte wollen, dass er die Kurve über eine schraffierte Fläche hin geschnitten hat. Weiter war nach dem Gutachten Zeit genug für den Zeugen S., auf das Einfahren des Zeugen Se. mit einer Bewegung nach links entsprechend dem Fluchtreflex zu reagieren, wie sich aus den Berechnungen des Sachverständigen auf S. 8 des Gutachtens vom 07.12.2012 (Bl. 82 d.A.) ergibt (ca. 2 Sekunden Sichtbarkeit). Damit steht jedenfalls fest, dass sich der Zeuge S. vor der Kollision nicht nach rechts, sondern eher nach links orientiert hat. Im Übrigen bedarf es entgegen der Anträge der Klägerin nicht der Erholung eines weiteren Sachverständigengutachtens gemäß § 412 ZPO. Die Erforderlichkeit eines derartigen Gutachtens wurde von der Klägerin nicht dargelegt (zu den Voraussetzungen vgl. Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 34. Aufl. 2013, § 412 Rd. 1 m.w.N.).
2. Das Ersturteil weist jedoch sachlich-rechtliche Mängel in der Haftungsverteilung auf (§ 17 StVG).
Kommt es auf Straßenkreuzungen oder -einmündungen zu einem Zusammenstoß zwischen den Fahrzeugen eines nach links einbiegenden Wartepflichtigen und eines Vorfahrtberechtigten, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Wartepflichtige die Vorfahrt des Berechtigten schuldhaft verletzt hat (grdl. BGH VRS 5 [1953] 182; VersR 1959, 792 [793]; stRspr.). Diesen Anschein hatte die Klägerin zu widerlegen, was ihr nicht gelungen ist.
Verkehrsverstöße des Bevorrechtigten führen nicht zum Verlust der Vorfahrt, sondern i. d. R. nur zu einer Mithaftung (BGHSt. 20, 238; st. Rspr.). Wie falsche oder irreführende Richtungszeichen zu bewerten sind, hat der Senat zuletzt in seiner Entscheidung NZV 2009, 457 offengelassen. Der Senat hat früher die Auffassung vertreten, dass der Wartepflichtige im Grundsatz auf das angekündigte Abbiegen vertrauen darf, solange nicht konkrete Anhaltspunkte die Abbiegeabsicht in Zweifel ziehen (OLGR München 1998, 474; KG DAR 1990, 142). Die Gegenmeinung vertritt die Auffassung, dass der Wartepflichtige trotz eingeschalteter rechter Blinkleuchte des vorfahrtsberechtigten Fahrzeugs nur dann auf dessen Abbiegen vertrauen darf, wenn sich dieses außer durch die Betätigung der Blinkleuchte in der Gesamtschau der Fahrsituation - sei es durch eindeutige Herabsetzung der Geschwindigkeit, sei es durch den Beginn des Abbiegens selber - zweifelsfrei manifestiert (OLG Hamm, NJW-RR 2003, 975; vgl. auch OLG Saarbrücken NJW-RR 2008, 1611). Die Rechtsfrage braucht auch hier nicht entschieden werden, da die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts, wie oben unter Ziff. 1 näher erläutert wurde, konkrete Anhaltspunkte ergeben, dass der Zeuge Se. die durch den Blinker angekündigte Abbiegeabsicht in Zweifel ziehen und deshalb von einem Einfahren in die bevorrechtigte Straße Abstand nehmen musste.
Auf Grund der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts steht daher fest, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs zwar über längere Zeit den rechten Fahrtrichtungszeiger betätigt hatte, es konnte jedoch nicht nachgewiesen werden, dass er mit seinem Fahrzeug so verlangsamt hat, dass er den Einbiegevorgang problemlos hätte durchführen können, auch ein rechts einordnen oder beginnendes rechts abbiegen war nicht festzustellen. Unter diesen Umständen durfte der klägerische Fahrer nicht darauf vertrauen, dass der Zeuge S. rechts abbiegt und die Straße für den Linksabbieger freigibt (vgl. hierzu auch König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl. 2013, § 8 StVO Rd. 54 m.w.N. zur Rechtsprechung).
Angesichts dieser Tatsachenlage ist die rechtliche Würdigung des Erstgerichts, die Beklagten müssten überwiegend haften (§ 17 StVG), nicht tragfähig, da der Verstoß des klägerischen Fahrers gegen § 8 I 1 Nr. 1 StVO deutlich schwerer wiegt als der Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 1 II StVO. Aus diesem Grund kommt jedoch auch eine vollständige Haftung der Klagepartei nicht in Betracht, eine Haftungsverteilung von 70 zu 30 zulasten der Klagepartei ist bei Unterstellung der vorgenannten Voraussetzungen sachgerecht.
3. Da die Feststellungen des Landgerichts zur Höhe der klägerischen Ansprüche (vgl. S. 6 des Ersturteils) von den Beklagten in der Berufungsbegründung nicht mehr angegriffen wurden, sind diese der Entscheidung zugrunde zu legen. Das ergibt bei Berücksichtigung der Quote die im Tenor zugesprochenen Beträge einschließlich Zinsen und vorgerichtlicher Anwaltskosten.
II.
Aus den oben genannten Gründen ist die Anschlussberufung, die eine vollständige Haftung der Beklagten zum Ziel hatte, unbegründet. Soweit die Anschlussberufung die Abweisung der Feststellungsklage rügt, fehlt jede Berufungsbegründung, so dass insoweit auf die zutreffenden Ausführungen auf Seite 7 des Ersturteils Bezug genommen werden kann. Die Klägerin hat es auch in der Anschlussberufungsbegründung versäumt, überzeugend darzulegen, weshalb zum Schluss der mündlichen Verhandlung noch die Befürchtung bestehen soll, dass noch zukünftige materielle Schadensersatzansprüche (Unfall vom 21.10.2011) bestehen könnten. Die Anschlussberufung ist demgemäß auch insoweit unbegründet.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 I, 92 I 1 Fall 1 ZPO.
IV.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
V.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.