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OLG Rostock Urteil vom 18.11.2011 - 5 U 169/10 - Aiuffahrunfall unter Überschreitung der Richtgeschwindigkeit
OLG Rostock v. 18.11.2011: Aiuffahrunfall unter Überschreitung der Richtgeschwindigkeit nach Kollision mit ausscherendem 'Fahrzeug
Das OLG Rostock (Urteil vom 18.11.2011 - 5 U 169/10) hat entschieden:
Steht nach der Beweisaufnahme lediglich fest, dass sich der Auffahrunfall in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel ereignet hat und der auffahrende Pkw eine Ausgangsgeschwindigkeit von ca. 160 km/h hatte, so haftet der Auffahrende mit einer Quote von 60%, wenn nicht bewiesen ist, dass der Unfall auch bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h unvermeidbar gewesen wäre.
Siehe auch Auffahrunfälle auf der Autobahn und Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen
Gründe:
I.
Die Klägerin verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldner Schadensersatz aus einem Auffahrunfall, der sich am 17.10.2008 gegen 23.00 Uhr auf der BAB 20 in Höhe der Abfahrt G.. Ost ereignet hat. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes zum Unfallhergang nimmt der Senat Bezug auf den Tatbestand der erstinstanzlichen Entscheidung.
Die Beklagte zu 1) hat am 02.03.2009 nach Klageerhebung den Schaden teilweise ausgeglichen und auf der Grundlage einer zugestandenen Haftungsquote von 50 % einen Betrag von 2.652,02 € an die Klägerin gezahlt.
Das Landgericht hat zum Unfallhergang den Beklagten zu 2) als unfallbeteiligten Fahrer angehört sowie den Zeugen A. S. vernommen. Mit Urteil vom 09.09.2010 hat es unter Abweisung der weitergehende Klage die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 1.300,62 € nebst Zinsen seit 20.12.2008 sowie weitere 379,02 € nebst Zinsen seit dem 20.03.2009 zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Abwägung der von den unfallbeteiligten Parteien gesetzten Verursachungsbeiträge für den Auffahrunfall vom 17.10.2008 nach Maßgabe der §§ 7, 17, 9 StVG zu einer Haftungsquote von 60 % zu Lasten der Beklagten führe. Ihrer Schadensberechnung dürfe die Klägerin den Ausgangsbetrag von 6.587,76 € zugrunde legen, von dem ihr 60 % zuzuerkennen waren.
Gegen die Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin, die in ihrer Berufungsschrift vom 07.10.2010 lediglich die Beklagte zu 1) als Berufungsbeklagte bezeichnet hat. Zur Begründung ihres Rechtsmittels führt die Klägerin aus, dass das Landgericht die offensichtliche Unaufmerksamkeit und das unangepasste Fahrverhalten des Beklagten zu 2) nur unzureichend und fehlerhaft gewürdigt habe. Dieser habe nach eigener Aussage einen abgebrochenen Überholvorgang des Zeugen S. beobachtet. Mit einem weiteren Überholversuch des klägerischen Fahrzeuges hätte er rechnen müssen. Der Spurwechsel sei nicht abrupt erfolgt. Der Beklagte zu 2) habe auch gewusst, dass er selbst die Richt-geschwindigkeit überschritten hatte. Auch sei für ihn die vorausliegende Baustelle mit Blinklichtern zu sehen gewesen. Er hätte daher mit einer Herabsetzung der Geschwindigkeit auf 80 km/h rechnen müssen. Den auf den teilerledigten Teil geltend gemachten Zins-anspruch für die Zeit vom 20.12.2008 bis 01.03.2009 habe das Landgericht offensichtlich übersehen.
Die Klägerin beantragt,
das erstinstanzliche Urteil des Landgerichtes Stralsund vom 09.09.2010 insoweit abzuändern, als das Landgericht die Klage abgewiesen hat und
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, weitere 2.635,10 € nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.12.2008,
weitere Anwaltskosten als Nebenforderung in Höhe von 110,43 € nebst Zinsen wie vor hierauf seit dem 20.03.2009
sowie Zinsen wie vor auf den teilerledigten Betrag von 2.652,02 € für den Zeitraum 20.12.2008 bis 01.03.2009 an die Klägerin zu zahlen.
Die Beklagte zu 1), die Zurückweisung der Berufung beantragt, hält die ausgeurteilte Haftungsquote jedenfalls aus Sicht der Klägerin nicht für fehlerhaft. Die Entscheidung des Landgerichts sei allenfalls zu kritisieren, soweit ein überhöhter Mitverursachungsbeitrag des Beklagten zu 2) angenommen wird. Zudem seien die Ausführungen zum Schadensbild der am Unfall beteiligten Fahrzeuge nicht zutreffend. Ausweislich der Skizze aus dem Schadensgutachten vom 17.11.2008 habe es auch eine Stoßrichtung von vorn rechts seitlich gegeben, was dafür spreche, dass das klägerische Fahrzeug noch nicht vollständig auf dem linken Richtungsfahrstreifen gewesen sei.
Mit Verfügung vom 09.03.2011 hat der Senatsvorsitzende beiden Parteien einen rechtlichen Hinweis erteilt. Sie haben daraufhin erklärt, mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden zu sein.
II.
Mit den Beklagten geht der Senat davon aus, dass die Klägerin nur gegen die teilweise Abweisung ihrer gegen die Beklagte zu 1) gerichteten Klage Berufung eingelegt hat, da sie den Beklagten zu 2) in der Berufungsschrift vom 07.10.2010 ausdrücklich nicht als Berufungsbeklagten bezeichnet hat. Dem diesbezüglichen Hinweis in der Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 09.03.2011 hat die Klägerin nicht widersprochen. Der Senat legt daher ihre Berufungsanträge aus der Berufungsbegründung vom 07.12.2010 dahin aus, dass die Klägerin in der Berufungsinstanz über die vom Landgericht Stralsund ausgeurteilten Zahlungsverpflichtungen der Beklagten als Gesamtschuldner hinaus weitere Zahlungen nur noch gegen die Beklagte zu 1) geltend macht.
III.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist in der Sache überwiegend unbegründet. Sie hat lediglich Erfolg, soweit sie von der Beklagten zu 1) Zinsen auf den teilerledigten Betrag für den Zeitraum 20.12.2008 bis zum 01.03.2009 fordert (§§ 286 Abs. 3, 288 Abs. 1 BGB).
1. Mit dem Landgericht hält der Senat bei Abwägung der von den Unfallbeteiligten gesetzten Verursachungsbeiträge für den Auffahrunfall auf der BAB 20 vom 17.10.2008 nach Maßgabe der §§ 7, 17, 9 StVG eine Haftungsquote von 60 % zu Lasten der Beklagten für gerechtfertigt.
Zunächst verweist der Senat auf den Hinweis, den der Vorsitzende den Parteien nach Vorberatung im Senat am 09.03.2011 erteilt hat. Er hat hierzu ausgeführt:
"2.1. Nach der Beweisaufnahme ist nicht festzustellen, dass der Beklagte zu 2) den Auffahrunfall verschuldet hat.
a) Zwar kann bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen. Dies setzt allerdings nach allgemeinen Grundsätzen voraus, dass ein typischer Geschehensablauf feststeht (BGH, Urt.v.30.11.2010, VI ZR 15/10, MDR 2011, 157 m. w. N.). Unstreitig ist hier der streitgegenständlichen Kollision ein Fahrstreifenwechsel des klägerischen Fahrzeuges auf die linke, von dem Beklagten zu 2) befahrene Fahrspur der Bundesautobahn vorausgegangen. Nach § 7 Abs. 5 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Das bedeutet, dass der nachfolgende Kraftfahrer nach dem Fahrspurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeuges in der Lage sein muss, zu diesem einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen bzw. einzuhalten. Nur in diesem Fall wäre ein typischer, für ein Auffahrverschulden des Beklagten zu 2) streitender Geschehensablauf anzunehmen. Ein Anscheinsbeweis spricht hierfür nicht (BGH, a. a. O.). Mithin ist es Sache der Klägerin, den vollen Beweis dafür zu erbringen, dass der Beklagte zu 2) den Auffahrunfall verursacht hat, weil trotz ihres Fahrspurwechsels entweder ein ausreichender Sicherheitsabstand des nachfolgenden Fahrzeuges des Beklagten zu 2) im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO gewahrt war oder weil der Beklagte zu 2) in der Lage war, einen solchen Sicherheitsabstand aufzubauen. Diesen ihr obliegenden Beweis hat die Klägerin nicht erbracht. Zwar hat der Zeuge A. S. ausgesagt, dass nach seiner Einschätzung das Fahrzeug, dessen Lichter er gesehen habe, noch soweit hinter ihm gewesen sei, dass keine Gefahr bestanden habe. Demgegenüber hat aber der Beklagte zu 2) in seiner Anhörung begründet, dass das klägerische Fahrzeug ca. 30 m vor ihm gewesen sei, als es auf die linke Fahrspur gewechselt habe. Unstreitig ist, dass die Geschwindigkeit des klägerischen Fahrzeuges wesentlich langsamer war, als die des vom Beklagten zu 2) gefahrenen Pkws, die dieser mit ca. 160 - 170 km/h angab. Damit steht nach der Beweisaufnahme lediglich fest, dass sich der Auffahrunfall in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel ereignet hat. Offen geblieben ist indes, ob der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges die Fahrspur so kurz vor dem Fahrzeug des Beklagten zu 2) gewechselt hat, dass dieser nicht mehr rechtzeitig die gefahrene Geschwindigkeit auf die des klägerischen Fahrzeuges abbremsen konnte.
b) Die vom Beklagten zu 2) eingeräumte Geschwindigkeit von ca. 160 km/h begründet ebenfalls kein Verschulden. Mangels einer Geschwindigkeits-beschränkung war diese nicht verboten. Dass eine konkrete Geschwindigkeits-beschränkung bestand, ist nicht festzustellen. Zwar hat der Zeuge A. S. ausgesagt, dass sich in der Ferne vor ihm eine Baustelle befunden habe, die durch Blinklicht gekennzeichnet gewesen sei und dass für die Baustelle eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 80 km/h bestanden habe. Er selbst ist jedoch nach eigenem Bekunden mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h gefahren, so dass davon auszugehen ist, dass zum Zeitpunkt seines Spurwechsels noch keine Geschwindigkeitsbeschränkung bestand. Gegenteiliges hat der Zeuge auch nicht ausgesagt.
c) Das Landgericht hat keine Beweisanträge der Klägerin verfahrensfehlerhaft übergangen. Eine erneute oder ergänzende Beweisaufnahme ist aus Sicht des Senats nicht angezeigt. Unter Beweis des Zeugen P. S. hatte die Klägerin erstinstanzlich nicht den Unfallhergang, sondern ihre Behauptung gestellt, ihr Fahrzeug habe i. ü. eine Baustelle passiert, wo 80 km/h vorgeschrieben gewesen seien. Dass eine vorausliegende Baustelle zu sehen war, ist nicht streitig. Dass auf Grund dessen die Geschwindigkeit bereits begrenzt war, als der Unfall passierte, behauptet die Klägerin nicht. Vielmehr trägt sie selbst vor, dass der Zeuge A. S. jedenfalls nicht schneller gefahren sei, als es die Richtgeschwindigkeit gebiete. Die in der Berufungsinstanz unter Beweis der Zeugen A. und P. S. gestellte Behauptung der Klägerin, der Fahrspurwechsel sei nicht abrupt erfolgt. ist nicht entscheidungserheblich. Streitentscheidend ist lediglich der zeitliche Abstand des Fahrspurwechsels zum Auffahrunfall. Für den hierzu angebotenen Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens fehlen die erforderlichen Anknüpfungstatsachen. Dem Sachverständigen stehen lediglich die Feststellungen zu den Beschädigungen an den unfallbeteiligten Fahrzeugen gemäß der Schadensgutachten vom 05.11.2008 (Bl. 7 ff) und vom 17.11.2008 (Bl. 74 ff) zur Verfügung. Auf dieser Grundlage kann er allenfalls feststellen, in welchem Winkel und mit welcher Differenzgeschwindigkeit diese Fahrzeuge aufeinander gefahren sind, nicht aber, ob das nachfolgende Fahrzeug trotz des Wechsels des Vorausfahrenden die Möglichkeit hatte, einen ausreichenden Sicherheitsabstand einzuhalten oder aufzubauen.
2.2. Da eine die Haftung für die einfache Betriebsgefahr ausschließende höhere Gewalt im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG weder zu Gunsten der Klägerin noch der Beklagten bewiesen ist, sind nach § 17 Abs. 1 StVG die beiderseitigen unfallursächlich gewordenen Betriebsgefahren der beteiligten Kraftfahrzeuge gegeneinander abzuwägen, wobei verkehrswidriges Verhalten der Fahrer die Betriebsgefahr des jeweils geführten Fahrzeuges je nach Gewicht des Verstoßes erhöht.
Ein Fehlverhalten in der konkreten Unfallsituation seitens des Beklagten zu 2) ist nicht festzustellen. Auf ein unabwendbares Ereignis gem. § 17 Abs. 3 StVG können sich die Beklagten aber nicht berufen, denn es ist nicht bewiesen, dass der Unfall auch bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h unvermeidbar gewesen wäre. Die Beklagten müssen sich daher die Betriebsgefahr ihres Fahrzeuges zurechnen lassen.
Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist jedenfalls aus Sicht der Klägerin nicht zu beanstanden, dass das Landgericht wegen der verhältnismäßig hohen Ausgangsgeschwindigkeit des auffahrenden Pkw von ca. 160 - 170 km/h und im Hinblick auf den Umstand, dass der Beklagte zu 2) mit einem weiteren Überholversuch des klägerischen Fahrzeuges hätte rechnen und sein Fahrverhalten darauf einrichten müssen, eine Haftungsquote von 60 % zu Lasten der Beklagten ausgeurteilt hat. Ihre Berufung kann daher insoweit keinen Erfolg haben."
Diesen Ausführungen, gegen die die Klägerin keine Einwendungen erhoben hat, schließt sich der Senat uneingeschränkt an.
2. Die Berechnung der Höhe des Schadenersatzanspruches durch das Landgericht haben die Parteien nicht angegriffen.
3. Gemäß §§ 286 Abs. 3, 288 Abs. 1 BGB kann die Klägerin von der Beklagten zu 1) die Zahlung von Zinsen auf den teilerledigten Betrag von 2.652,02 € für die Zeit vom 20.12.2008 bis zum 01.03.2009 beanspruchen, nachdem sie die Beklagte zu 1) mit anwaltlichem Schreiben vom 20.11.2008 unter Beifügung des Schadensgutachtens vom 05.11.2008 zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 5.968,75 € aufgefordert hat (Anl. 1).
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gem. §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
Der Wert der Berufung bemisst sich nach der Höhe der (weiteren) Hauptforderung; Anwaltskosten und Zinsen bleiben als Nebenforderungen bei der Streitwertbemessung unberücksichtigt (§ 4 ZPO).
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht. Weder hat die Sache grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichtes.