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Kammergericht Berlin Urteil vom 02.05.2011 - 22 U 100/10 - Auffahrunfall nach Fahrstreifenwechsel und Anscheinsbeweis
KG Berlin v. 02.05.2011: Auffahrunfall nach Fahrstreifenwechsel und Anscheinsbeweis
Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 02.05.2011 - 22 U 100/10) hat entschieden:
Bei einem Auffahrunfall spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein alleiniges Verschulden des Auffahrenden. Dies gilt aber nur dann, wenn ein typischer Geschehensablauf feststeht. Bei einem Auffahrunfall ist ein solcher nur dann anzunehmen, wenn feststeht, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich die Fahrzeugführer auf die jeweiligen Fahrbewegungen hätten einstellen können. Bleibt der Hergang eines Unfalls letztlich ungeklärt, weil es sowohl Anzeichen für einen Auffahrunfall als auch dafür gibt, dass ein Fahrzeug oder beide Fahrzeuge kurz zuvor den Fahrstreifen gewechselt haben, ist der Schaden hälftig zu teilen.
Siehe auch Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden und Auffahrunfallund Auffahrunfälle und Anscheinsbeweis
Tatbestand:
Von der Darstellung eines Tatbestandes ist gemäß § 540 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. § 26 Nr. 8 EGZPO) abgesehen worden.
Entscheidungsgründe:
I. Berufung
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg.
Nach § 513 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO) oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Beides ist hier im Ergebnis nicht festzustellen.
Der Klägerin steht gegen die Beklagten als Gesamtschuldner nur ein Anspruch auf Schadensersatz von 50% der ihr durch den streitgegenständlichen Verkehrsunfall entstandenen Schäden aus der Betriebsgefahr des bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten und vom Beklagten zu 1. zur Unfallzeit gesteuerten LKW gemäß §§ 7, 17, 18 StVG bzw. § 115 Abs. 1 VVG (oder § 3 Nr. 1 und 2 PflVG a.F.) zu.
Auch nach Vernehmung der beiden von der Klägerin benannten Zeugen B und L ließ sich nicht mit der für eine Überzeugungsbildung des Gerichts erforderlichen Gewissheit klären, ob es zu dem streitgegenständliche Unfall durch einen Fahrstreifenwechsel des Beklagten zu 1. gekommen ist, wie die Klägerin behauptet, oder dadurch, dass die Klägerin mit ihrem Fahrzeug aus dem von ihr befahrenen mittleren Fahrstreifen in den daneben gelegenen, vom Beklagten zu 1. befahrenen linken Fahrstreifen geraten ist, was die Beklagten behaupten.
Entgegen der von der Klägerin vertretenen Ansicht spricht hier kein Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Beklagten zu 1., weil der von ihm gefahrene LKW gegen die linke hintere Ecke des Fahrzeuges der Klägerin gestoßen ist. Zwar spricht nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung, der sich das Kammergericht angeschlossen hat, im Falle eines Auffahrunfalls der Beweis des ersten Anscheins für ein alleiniges Verschulden des Auffahrenden (vgl. etwa schon BGH Urteil vom Urteil vom 18. Oktober 1988 – VI ZR 223/87 – VersR 1989,54 ff). Dieser Anscheinsbeweis beruht auf dem Erfahrungssatz, dass ein Auffahren im gleichgerichteten Verkehr typischerweise auf mangelnde Aufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit oder einen ungenügenden Sicherheitsabstand des Auffahrenden zurückzuführen ist. Die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises setzt jedoch voraus, dass ein typischer Geschehensablauf feststeht. Ein solcher ist im Falle eines Auffahrunfalls nach ständiger Rechtsprechung des Kammergerichts nur dann anzunehmen, wenn feststeht, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich die Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können (vgl. etwa KG, Urteil vom 12. Juli 2010 – 12 U 46/09 - Rdn. 14, zitiert nach Juris m. w. N.). Daran fehlt es jedoch im vorliegenden Fall. Vielmehr sind hier beide Fahrzeuge unstreitig zunächst bis unmittelbar vor der Kollision parallel in nebeneinander liegenden Fahrstreifen gefahren. Der Unfall kann sich daher nur dadurch ereignet haben, dass entweder eine oder beide Parteien seitlich über die Fahrstreifenmarkierung des jeweils von ihnen befahrenen Fahrstreifens geraten sind bzw. einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen haben. Insoweit bleibt es auch nach der vom Senat ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme bei dem vom Landgericht gefundenen Ergebnis, dass sich der genaue Unfallverlauf letztlich nicht klären lässt.
Allerdings konnte die Vernehmung der von der Klägerin benannten beiden Zeugen B und L entgegen der vom Landgericht vertretenen Ansicht nicht durch eine urkundenbeweisliche Verwertung der schriftlichen Angaben der beiden Zeugen auf den Fragebögen in dem gegen den Beklagten zu 1. zunächst eingeleiteten Bußgeldverfahren ersetzt werden. Denn die Klägerin hat in erster Linie die Zeugen benannt und lediglich angeregt, im Hinblick auf ihren relativ weiten Anreiseweg die schriftliche Beantwortung der Beweisfragen gemäß § 377 Abs. 3 ZPO anzuordnen. Eine Vernehmung der Zeugen oder der Ersatz ihrer Vernehmung durch das Verfahren nach § 377 Abs. 3 ZPO konnten nicht ohne weiteres auf den nur hilfsweise gestellten Antrag der Klägerin durch urkundenbeweisliche Verwertung der schriftlichen Angaben im Bußgeldverfahren ersetzt werden (vgl. insoweit zur urkundenbeweislichen Verwertung richterlicher Vernehmungsprotokolle Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 373 Rdn. 9 m. w. N. bei Benennung von Zeugen), zumal es sich insoweit nicht einmal um richterliche oder sonstige Vernehmungsprotokolle handelt und auch daher ihr Beweiswert beschränkt erscheint.
Im Übrigen war nach den schriftlichen Angaben der Zeugin B unklar, ob sie nähere Angaben zu der Behauptung der Klägerin würde machen können, der Unfall sei durch einen Fahrstreifenwechsel des Beklagten zu 1. verursacht worden. Auch den Angaben des Zeugen L im Bußgeldverfahren ließ sich nicht mit hinreichender Eindeutigkeit entnehmen, ob er Beobachtungen zu den Ursachen gemacht hat, aus denen die Klägerin mit ihrem Fahrzeug ins Schleudern geraten ist. Daher hat der Senat es für erforderlich erachtet, die Zeugen, wie von der Klägerin beantragt, unmittelbar zu hören und auch nicht nach § 377 Abs. 3 ZPO zu verfahren.
Allerdings hat die Unfallursache auch durch die Vernehmung der beiden Zeugen nicht mit einem für eine richterliche Überzeugungsbildung erforderlichen Grad an Gewissheit geklärt werden können. Zwar hat die Zeugin B bei ihrer Vernehmung vor dem Senat angegeben, der vom Beklagten zu 1. gefahrene LKW habe nach dem Anstoß, auf den sie durch ein Geräusch aufmerksam geworden sei, einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen. Jedoch hat sie die Fahrweisen beider Fahrzeuge unmittelbar vor dem Anstoß nicht wahrgenommen, sondern ist erst durch ein Unfallgeräusch auf sie aufmerksam geworden. Es ist daher denkbar, dass der von ihr angegebene Fahrstreifenwechsel erst im Zeitpunkt unmittelbar nach der Kollision beider Fahrzeuge stattgefunden hat als das Fahrzeug der Klägerin außer Kontrolle geraten war, sich um sich selbst gedreht hat und in den Gegenverkehr geschleudert ist. Denn der Beklagte zu 1. ist dann unstreitig mit dem LKW an den rechten Fahrbahnrand gefahren. Für eine Wahrnehmung erst in einem späten Stadium des Unfallgeschehens spricht auch, dass die Zeugin B angegeben hat, nach ihrer Erinnerung habe sich der PKW der Klägerin hinter dem LKW befunden, was jedenfalls, bezogen auf den Beginn des Unfallgeschehens, unstreitig nicht der Fall war.
Auch der Zeuge L, der im Gegenverkehr gefahren ist und dort gegen das ins Schleudern geratene Fahrzeug der Klägerin geprallt ist, hat das Fahrzeug der Klägerin erst wahrgenommen, als es bereits ins Schleudern geraten war. Was dieses Schleudern ausgelöst hatte, hat er nicht beobachtet.
Demgemäß bleibt es bei dem vom Landgericht zutreffend angenommenen Ergebnis, dass der durch den Unfall verursachte Schaden hälftig zu teilen ist.
Hinsichtlich der Höhe des der Klägerin zustehenden Schmerzensgeldes fehlt es an einer Begründung der Berufung, die gemäß § 520 Abs. 2 ZPO schon in der Berufungsbegründungsschrift enthalten sein musste. Daher und auch im Hinblick auf § 531 Abs. 2 ZPO konnte sie nicht erst auf einen gerichtlichen Hinweis des Berufungsgerichts nachgeholt werden. Im Übrigen sind nach Auffassung des Senats die Ausführungen des Landgerichts zum Schmerzensgeld auch nicht zu beanstanden.
Gegen die weiteren Ausführungen des Landgerichts zur Schadenshöhe, insbesondere zur Hilfsaufrechnung der Beklagten zu 2. mit Ansprüchen auf hälftige Erstattung wegen des von ihr regulierten Kaskoschadens an dem LKW, die dazu geführt hat, dass der der Klägerin vom Landgericht über den bereits gezahlten Betrag hinaus noch zuerkannte Betrag gemäß § 389 BGB erloschen ist, wendet sich die Klägerin mit der Berufung nicht.
II. Anschlussberufung
Die Anschlussberufung der Beklagten zu 2. ist gemäß § 524 Abs. 1 und 2 ZPO zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Das Landgericht hat entgegen der von den Beklagten vertretenen Ansicht zutreffend eine hälftige Schadensteilung angenommen. Dies hat zur Folge, dass auf die von der Beklagten zu 2. erklärte Hilfsaufrechnung gegenüber der Klageforderung mit ihr zustehenden Erstattungsansprüchen wegen des regulierten Kaskoschadens an dem LKW dieser Erstattungsanspruch gemäß § 389 BGB teilweise erloschen ist.
Zur hälftigen Haftung wird zunächst auf die Ausführungen oben zur Berufung verwiesen. Soweit die Beklagten geltend machen, ein Sachverständigengutachten würde ergeben, dass die Klägerin den Unfall durch einen Fahrstreifenwechsel allein verursacht haben müsse, fehlt es an hinreichenden Anknüpfungstatsachen für die Einholung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens. Insbesondere steht die Kollisionsstelle des PKW der Klägerin mit dem vom Beklagten gefahrenen LKW nicht fest und das Fahrzeug der Klägerin hat infolge des weiteren Zusammenstoßes mit dem von dem Zeugen L gefahrenen Fahrzeug im Gegenverkehr und des sich anschließenden Schleuderns gegen einen Betonpoller am Rande des Gehweges in erheblichen Maße weitere Schäden erlitten.
Die Höhe der vom Landgericht zuerkannten weiteren Schadenspositionen hat die Beklagte nicht im Einzelnen angegriffen.
Nach alledem sind sowohl die Berufung als auch die Anschlussberufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung, bei der berücksichtigt worden ist, dass sich der Streitwert durch die Anschlussberufung nicht erhöht hat, beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO (vgl. § 26 Nr. 8 EGZPO).
Die Revision hat der Senat nicht zugelassen, da keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären sind und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).