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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 15.12.1994 - 1 BvR 1368/94 - Parteivorbringen und rechtliches Gehör

BVerfG v. 15.12.1994: Parteivorbringen und rechtliches Gehör


Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 15.12.1994 - 1 BvR 1368/94) hat entschieden:
GG Art 103 Abs 1 ist verletzt, wenn ein Zivilgericht seiner Entscheidung Feststellungen zugrundelegt, die im Widerspruch zum Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten stehen, ohne näher zu begründen, weshalb es nicht von dem von der Partei dargelegten Sachverhalt ausgeht.


Siehe auch Rechtliches Gehör


Gründe:

I.

1. Die Beschwerdeführerin beauftragte den Beklagten mit ihrer Verteidigung in einem gegen sie anhängigen Ermittlungsverfahren. Der Beklagte forderte von ihr mit Schreiben vom 24. Oktober 1990 den Abschluss einer Honorarvereinbarung, in der sie sich unter anderem verpflichtete, dem Beklagten ein Honorar von 1.500 DM zu zahlen, wenn sich die Sache ohne Hauptverhandlung erledigen sollte. Zugleich bat der Beklagte um Überweisung eines Vorschusses gemäß § 17 BRAGO in Höhe von 1.500 DM zuzüglich Mehrwertsteuer, insgesamt also um Zahlung von 1.710 DM. Die Beschwerdeführerin zahlte einen Abschlag von 1.000 DM. Das Ermittlungsverfahren gegen sie wurde am 8. November 1990 eingestellt. Daraufhin rechnete der Beklagte seine Tätigkeit auf der Basis der Honorarvereinbarung - Erledigung ohne Hauptverhandlung - mit 1.500 DM zuzüglich Auslagen und Mehrwertsteuer am 22. November 1990 mit insgesamt 1.744,20 DM ab, brachte der Beschwerdeführerin die Zahlung von 1.000 DM gut und forderte restliche 744,20 DM, welche die Beschwerdeführerin auch zahlte.

2. Mit ihrer Klage forderte die Beschwerdeführerin von dem Beklagten 872,10 DM zurück. Das Sonderhonorar gelte das Ermittlungsverfahren und das gerichtliche Verfahren ohne Hauptverhandlung ab. Da lediglich ein Ermittlungsverfahren anhängig gewesen sei, könne der Beklagte - auch im Hinblick auf die geringe von ihm entfaltete Tätigkeit - nur die Hälfte des vereinbarten Sonderhonorars fordern. Dieser berief sich auf Verjährung.

Das Amtsgericht wies die Klage ab. Der Beklagte habe mit seinem Schreiben vom 24. Oktober 1990 von der Beschwerdeführerin ausdrücklich einen Vorschuss gemäß § 17 BRAGO in Höhe von insgesamt 1.710 DM erbeten. Diese Zahlung verlange sie hälftig zurück. Der Anspruch auf Rückzahlung des einem Rechtsanwalt geleisteten Vorschusses verjähre gemäß § 196 Abs. 1 Nr. 16 BGB in zwei Jahren. Diese Frist sei bei Klagerhebung bereits abgelaufen gewesen. Entgegen ihrer Auffassung habe die Beschwerdeführerin nicht auf einen fälligen Honoraranspruch gezahlt, sondern eine Vorschusszahlung erbracht, die der Beklagte ausdrücklich von ihr gefordert habe.

II.

1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG in Form des Willkürverbots.

Das Amtsgericht habe übersehen, dass sie ihren Anspruch auch auf Deliktsrecht und die daraus folgende dreijährige Verjährungsfrist gestützt habe. Außerdem habe sie der Beklagte nicht darüber belehrt, dass sie gegen ihn einen Regressanspruch wegen überhöhter Gebührenansprüche habe. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, über die sich das Amtsgericht hinweggesetzt habe, verjährten ihre Ansprüche zu einem noch späteren Zeitpunkt. Für sie sei nicht ersichtlich, weshalb ihre Zahlung von 1.500 DM, die für den Fall der Erledigung ohne Hauptverhandlung vereinbart worden sei, ein Vorschuss sei.

2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Begründung des Amtsgerichts, der Anspruch der Beschwerdeführerin sei verjährt, für nicht unproblematisch. Selbst wenn das Amtsgericht die Verjährung rechtsfehlerhaft bejaht haben sollte, stelle sich das aber nicht als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar. Die rechtlichen Ausführungen böten keinen Anhaltspunkt für die Annahme, das Amtsgericht habe sich von sachfremden Erwägungen leiten lassen.

Das Urteil begegne jedoch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG Bedenken. Denn keine der Parteien habe vorgetragen, die Beschwerdeführerin habe einen Vorschuss in der vom Beklagten in seinem Schreiben vom 24. Oktober 1990 geforderten Höhe von 1.710 DM erbracht. Dem Gebot des rechtlichen Gehörs werde aber dann nicht mehr genügt, wenn das Gericht seiner Entscheidung Feststellungen zugrunde lege, die im Widerspruch zum Vorbringen einer am Verfahren beteiligten Partei stünden, ohne dass das Gericht näher begründe, warum es nicht von dem von der Partei dargelegten Sachverhalt ausgehe.

3. Der Beklagte hält die Verfassungsbeschwerde für offensichtlich unbegründet.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Soweit eine Verletzung dieses Rechts gerügt ist, ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Die für diese Beurteilung maßgebliche verfassungsrechtliche Frage hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Zwar hat die Beschwerdeführerin nur eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG gerügt. Das hindert jedoch nicht eine Prüfung des angegriffenen Urteils auch am Maßstab des Art. 103 Abs. 1 GG. Die Beschwerdeführerin hat den maßgeblichen Sachverhalt vorgetragen und insbesondere geltend gemacht, sie habe keinen Vorschuss zurückgefordert, sondern einen Teil des von ihr gezahlten und für überhöht gehaltenen Honorars des Beklagten. Damit hat sie einen möglichen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dargelegt und dem Begründungserfordernis der §§ 23, 92 BVerfGG genügt. Eine ausdrückliche Benennung des als verletzt gerügten Grundrechtsartikels verlangen diese Vorschriften nicht (vgl. BVerfGE 47, 182 <187>; 85, 214 <217>).

2. Der im Grundgesetz verankerte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, soweit sie nicht aus Gründen des formellen und materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht bleiben können. Das Bundesverfassungsgericht kann allerdings nur dann feststellen, dass das Gericht diese Pflicht verletzt hat, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles ergibt (vgl. BVerfGE 22, 267 <274>; 88, 366 <375 f.>). Derartige Umstände liegen hier vor.

Weder aus der Klagschrift noch aus den mit ihr überreichten Anlagen, insbesondere also dem Schreiben des Beklagten vom 24. Oktober 1990 an die Beschwerdeführerin und der Honorarvereinbarung vom selben Tage ist zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin die Rückzahlung der Hälfte des vom Beklagten geforderten Vorschusses von insgesamt 1.710 DM begehrt hat. Sie hat vielmehr, woran ihre Klagbegründung in Verbindung mit den überreichten Anlagen keinen Zweifel lässt, die Rückzahlung der Hälfte des von ihr für überhöht gehaltenen Honorars von 1.744,20 DM verlangt. Woher das Amtsgericht seine Auffassung nimmt, die Beschwerdeführerin habe einen Vorschuss von 1.710 DM geleistet, den sie zur Hälfte zurückverlangt, ist aus dem Akteninhalt nicht abzuleiten. Keine der Parteien hat vorgetragen, die Beschwerdeführerin habe den vom Beklagten erbetenen Vorschuss erlegt. Im Gegenteil: Die Beschwerdeführerin führt in der Klagschrift aus, der Beklagte habe nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens, also nach Abschluss seiner Tätigkeit, diese mit 1.744,20 DM abzüglich bereits bezahlter 1.000 DM abgerechnet und sie habe die restlichen 744,20 DM gezahlt. Die Begründung des Amtsgerichts ist auch rechnerisch nicht richtig, worauf das Bayerische Staatsministerium der Justiz zutreffend hinweist, denn die Hälfte von 1.710 DM ergibt eine Summe von 855 DM und nicht den von der Beschwerdeführerin eingeklagten Betrag von 872,10 DM.

Das angegriffene Urteil beruht auch auf diesem Verfassungsverstoß. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht die Verjährungsfrage anders beurteilt, wenn es mit der Beschwerdeführerin davon ausgeht, diese verlange Rückzahlung der Hälfte eines nach ihrer Auffassung überhöhten Honorars.

3. Da die Rüge einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG der Verfassungsbeschwerde bereits zum Erfolg verhilft, bedurfte es keiner Entscheidung mehr darüber, ob zugleich Art. 3 Abs. 1 GG verletzt ist.