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BayObLG Beschluss vom 12.03.1999 - 1St RR 51/99 - Zustellung des Strafbefehls als Voraussetzung der Einspruchsverwerfung
BayObLG v. 12.03.1999: Zur Zustellung des Strafbefehls als Voraussetzung der Einspruchsverwerfung wegen unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten
Das BayObLG (Beschluss vom 12.03.1999 - 1St RR 51/99) hat entschieden:
- Ordnet der Vorsitzende die Zustellung des Urteils an den Verteidiger "mit Postzustellungsurkunde" an und gelangt die Zustellungsurkunde nicht zu den Akten, kann die (unwirksame) Zustellung nicht in eine solche gegen Empfangsbekenntnis nach ZPO § 212a umgedeutet werden, wenn der Verteidiger auf Betreiben der Geschäftsstelle unterschriftlich bescheinigt, das Urteil zu einem bestimmten Zeitpunkt erhalten zu haben.
2. Voraussetzung für eine Verwerfung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl wegen unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten wie für das gesamte weitere Verfahren ist die wirksame Zustellung des Strafbefehls (Anschluss OLG Karlsruhe, 1993-01-22, 3 Ss 172/92, Strafverteidiger 1995, 8). Ob das auch für den Fall gilt, dass der Zugang des Strafbefehls an den Angeklagten auf andere Weise oder zumindest die sichere Kenntnis des Angeklagten von dessen Erlass und Inhalt feststehen (vergleiche OLG Zweibrücken, 1994-05-27, 1 Ss 40/94, NStZ 1994, 602), bleibt offen.
Siehe auch Strafbefehl und Strafbefehlsverfahren
Gründe:
I.
Am 14.01.1998 hat das Amtsgericht Kaufbeuren - Zweigstelle Füssen - den Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts vom 10.11.1997, mit dem gegen ihn wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 50 DM festgesetzt sowie eine Maßregel nach §§ 69, 69 a StGB angeordnet worden waren, nach §§ 412, 329 Abs. 1 StPO verworfen, weil er zur Hauptverhandlung unentschuldigt nicht erschienen und auch nicht durch einen Verteidiger vertreten worden sei. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Kempten (Allgäu) am 9.9.1998 als unbegründet verworfen.
Die gegen dieses in Anwesenheit des Angeklagten verkündete Urteil von ihm am 15.09.1998 eingelegte Revision hat das Landgericht Kempten (Allgäu) mit Beschluss vom 25.01.1999 nach § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, weil nach Zustellung des Urteils am 28.10.1998 die Revision nicht fristgerecht begründet worden sei. Die Revisionsbegründungsschrift des Verteidigers Rechtsanwalt W. in K. vom 02.12.1998 ist am 05.12.1998 beim Landgericht eingegangen; mit ihr rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Nach Zustellung des Beschlusses vom 25.01.1999 am 28.1.1999 beantragte der Angeklagte am 30.1.1999 die Entscheidung des Revisionsgerichts und "vorsorglich ... wegen aller möglicher formal versäumter Fristen" Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
II.
1. Der zulässige Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 346 Abs. 2, § 43 StPO) hat Erfolg. Der Beschluss des Landgerichts vom 25.1.1999 kann keinen Bestand haben, weil das angefochtene Urteil vom 9.9.1998 bisher nicht wirksam zugestellt und die Revisionsbegründungsfrist daher noch nicht in Lauf gesetzt wurde (§ 345 Abs. 1 Satz 2 StPO; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 43. Aufl. § 345 Rn. 5).
Nach - rechtzeitiger - Revisionseinlegung am 15.9.1998 hatte der Strafkammervorsitzende zunächst am 17.9.1998 die Zustellung des Urteils an "Verteidiger, RAe Dr. B." und formlose Unterrichtung des Angeklagten hierüber verfügt; das von der Geschäftsstelle vorbereitete und an "RAe Dr. B. u.a." in K. gerichtete Empfangsbekenntnis (§ 212 a ZPO) ist dort am 24.9.1998 eingegangen und, soweit leserlich, handschriftlich von Rechtsanwalt Dr. B. unterzeichnet worden.
Diese Zustellung war, wie das Landgericht zutreffend gesehen hat, unwirksam, weil in der Zustellungsanordnung der Empfänger unzutreffend bezeichnet worden ist und die Kenntnis des Verteidigers daher nicht formgerecht feststeht (Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 36 Rn. 4; § 37 Rn. 19). Denn Verteidiger des Angeklagten waren nicht die Rechtsanwälte Dr. B. und Kollegen, sondern ausschließlich der - allerdings der Sozietät angehörende - Rechtsanwalt W., der ausweislich seiner Schriftsätze vom 26.8. und 20.11.1997 zum Alleinverteidiger bestellt war. Das Empfangsbekenntnis vom 24.9.1998 ist, wenn nicht von Rechtsanwalt Dr. B., so doch jedenfalls nicht von Rechtsanwalt W. selbst unterzeichnet worden, wie ein Schriftvergleich zweifelsfrei ergibt. Daher kann, selbst wenn man die Anordnung des Vorsitzenden dahin verstehen wollte, es sei jedenfalls auch dem Verteidiger Rechtsanwalt W. zuzustellen, nicht davon ausgegangen werden, dieser habe sich durch den anderen Rechtsanwalt lediglich vertreten lassen (Zöller/Stöber ZPO 21. Aufl. § 212 a Rn. 2), weil der andere Rechtsanwalt formal selbst Zustellungsempfänger war und für einen Vertretungswillen nichts ersichtlich ist.
Aber auch die erneute Zustellungsverfügung des Vorsitzenden vom 27.10.1998, derzufolge dem "Verteidiger, Rechtsanwalt R. W. ... mit Postzustellungsurkunde" zuzustellen war, hat zu keiner wirksamen Zustellung geführt. Denn die über die erfolgte Zustellung auszustellende Zustellungsurkunde (§ 37 Abs. 1 Satz 1 StPO, §§ 211, 212, 195 Abs. 2 ZPO) ist nicht zu den Akten gelangt. Die Bemühungen der Geschäftsstelle des Landgerichts beim Postamt K. haben lediglich dazu geführt, dass von der Kanzlei Rechtsanwälte Dr. B. durch "i.A. (unleserlich)" am 21.12.1998 bestätigt wurde, die Sendung "am 28.12.98" erhalten zu haben, und am 18.1.1999 ausweislich des Schriftbilds Rechtsanwalt W. den Erhalt am 28.10.1998 bestätigt hat (während dieser nunmehr im Rahmen des Antrags nach § 346 Abs. 2 StPO einen Zugang am 23.11.1998 geltend macht).
Das Fehlen der Zustellungsurkunde hat aber die Unwirksamkeit der Zustellung zur Folge (vgl. bereits für wesentliche Mängel der Urkunde KK/Maul StPO 4. Aufl. § 37 Rn. 25 m.w.N.). Durch den tatsächlich erfolgten Zugang des Urteils bei dem Verteidiger konnte der Mangel nicht geheilt werden, da mit der Zustellung die Rechtsmittelfrist des § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO in Lauf gesetzt werden sollte (§ 37 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 187 Satz 2 ZPO).
Eine wirksame Zustellung kann auch nicht in Hinblick auf das "Empfangsbekenntnis" des Verteidigers durch Umdeutung der (unwirksamen) Postzustellung in eine solche nach § 212 a ZPO, die dann von der Geschäftsstelle gewählt worden wäre, angenommen werden. Denn auch wenn der Vorsitzende die Art der Zustellung nicht, anzuordnen braucht und in der Regel der Urkundsbeamte selbst hierüber entscheidet (KK/Maul aaO § 36 Rn. 3; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 36 Rn. 6), ist der Vorsitzende hierzu jedoch befugt. Trifft er - wie hier - eine ausdrückliche Entscheidung über die Zustellungsart, ist die Geschäftsstelle daran gebunden; eine eigenmächtige Abweichung führt wie auch sonst zur Unwirksamkeit der Zustellung (Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 36 Rn. 6, 8; KK/Maul aaO § 36 Rn. 5).
Das Wiedereinsetzungsgesuch des Angeklagten ist daher gegenstandslos, weil eine Versäumung der Revisionsbegründungsfrist nicht vorliegt. Ob dem Angeklagten nicht andernfalls unbeschadet der Frage der Zulässigkeit seines Gesuchs Wiedereinsetzung von Amts wegen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 StPO) im Hinblick auf offensichtliches Anwaltsverschulden zu gewähren wäre, braucht daher nicht entschieden zu werden.
2. Einer Rückgabe der Sache an das Landgericht zur Nachholung einer wirksamen Urteilszustellung bedarf es nicht, weil die dem Senat auch im Rahmen des Verfahrens nach § 346 Abs. 2 StPO obliegende - bei zulässiger Revision wie hier - umfassende Prüfung auf Verfahrenshindernisse (LR/Hanack StPO 24. Aufl. § 346 Rn. 34; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 346 Rn. 11) zu dem Ergebnis führt, dass der Fortführung des Verfahrens entgegensteht, dass der Strafbefehl des Amtsgerichts vom 10.11.1997 bisher nicht wirksam zugestellt worden ist.
Der Amtsrichter hatte am 10.11.1997 durch entsprechendes Ankreuzen auf dem Formblatt "Zustellen an Verteidiger" und "Mitteilen an Angeklagten ..." verfügt. Abweichend hiervon hat die Geschäftsstelle des Amtsgerichts am 13.11.1997 nur die Zustellung (durch die Post) an den Angeklagten selbst veranlasst, die nach der vorliegenden Postzustellungsurkunde am 15.11.1997 erfolgt ist; eine Zustellung an den Verteidiger (wie auch dessen Benachrichtigung, § 145 a Abs. 3 Satz 2 StPO) ist unterblieben. Diese eigenmächtige Ausführung der Zustellung, die sich nicht im Rahmen der Anordnung des Vorsitzenden hielt, führte zur Unwirksamkeit der Zustellung vom 15.11.1997 schon aus diesem Grund (BayObLGSt 1989, 1; KK/Maul aaO § 36 Rn. 5). Auf die Frage der vom Angeklagten geltend gemachten Unwirksamkeit der Zustellung deshalb, weil er unter der Zustellungsanschrift nicht gewohnt habe, kommt es daher nicht mehr an.
Mit der fehlenden Zustellung des Strafbefehls fehlte es aber an einer Voraussetzung für die Durchführung der Hauptverhandlung und insbesondere auch für die Verwerfung des Einspruchs nach § 412 StPO (OLG Karlsruhe StV 1995, 8; LR/Gössel aaO § 412 Rn. 5; KK/Fischer aaO § 412 Rn. 3; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 412 Rn. 2; a.M. KMR/Metzger StPO 1998 § 412 Rn. 15). Dieser Mangel wirkt im Verfahren fort und steht dessen weiterer Durchführung zunächst entgegen (OLG Karlsruhe aaO).
Der Senat setzt sich damit nicht in Widerspruch zu der Entscheidung des PfzOLG Zweibrücken vom 27.5.1994 (NStZ 1994, 602), derzufolge die Einspruchsverwerfung die ordnungsgemäße Zustellung des Strafbefehls nicht voraussetzt. Das Pfälzische Oberlandesgericht hat dies lediglich für einen Fall entschieden, in dem der Strafbefehl dem Angeklagten "offenbar mit einfachem Brief zugegangen" war und der Angeklagte gegen den "mir zugeschickten Strafbefehl" Einspruch erhoben hatte, der Zugang des Strafbefehls also - wenn auch nicht in förmlicher Weise - feststand (KK/Fischer aaO). Wie zu verfahren ist, wenn dem Angeklagten der Strafbefehl nicht oder nur in abweichender Ausfertigung zur Kenntnis gelangt ist, hat das Oberlandesgericht ausdrücklich offengelassen.
Eine solche Fallgestaltung ist hier aber nicht ausschließbar gegeben. Weder ist ersichtlich, ob die am 15.11.1997 "zugestellte" Strafbefehlsausfertigung an den Angeklagten gelangt ist - im Gegenteil hat der Verteidiger vorgetragen, sie sei ihm, dem Verteidiger, von dem die Sendung entgegennehmenden Vater des Angeklagten zugeleitet worden -, noch findet sich sonst in den Akten ein Hinweis darauf, dem Angeklagten sei der Strafbefehl, auf welche Weise auch immer, zugegangen. Daraus, dass der Angeklagte persönlich - in Abwesenheit seines Verteidigers - an der Berufungshauptverhandlung vom 9.9.1998 teilgenommen hat, kann lediglich geschlossen werden, dass er von der Existenz eines Strafbefehls als solchem Kenntnis hatte. Die Feststellung, dass ihm dieser auf irgendeine Weise zugegangen ist oder er zumindest über dessen Inhalt korrekt unterrichtet war, kann demgegenüber zuverlässig nicht getroffen werden; auch das Protokoll über die Berufungshauptverhandlung erlaubt eine solche Feststellung nicht.
Eine Vorlegungspflicht nach § 121 Abs. 2 GVG besteht daher nicht.
Darauf, ob die Urteile des Amtsgerichts und des Landgerichts nicht auch deshalb keinen Bestand haben können, weil diese sich damit begnügt haben, die ordnungsgemäße Ladung des Angeklagten zur Hauptverhandlung vom 14.1.1998 durch Zustellung an seinen Verteidiger nach § 145 a Abs. 2 Satz 1 StPO festzustellen, ohne zu prüfen, ob den Angeklagten Unkenntnis von der Ladung entschuldigt haben könnte, was der Verteidiger vor der Hauptverhandlung mehrfach geltend gemacht hatte, kommt es daher nicht mehr an.
3. Der aufgezeigte Mangel nötigt nicht zur Einstellung des Verfahrens. Die Sache ist vielmehr unter Aufhebung der Urteile vom 14.1.1998 und vom 9.9.1998 an das Amtsgericht zur Nachholung der Zustellung des Strafbefehls vom 10.11.1997 zurückzugeben (OLG Karlsruhe aaO). Da dieser wirksam erlassen, nämlich vom Amtsrichter unterzeichnet und in den Geschäftsgang gegeben worden war, und der auch schon vor Zustellung des Strafbefehls mögliche Einspruch des Angeklagten vom 24.11.1997 daher zulässig war (LK/Gössel aaO § 410 Rn. 7), hat das Amtsgericht nach bewirkter Zustellung des Strafbefehls über den Einspruch Hauptverhandlung anzuberaumen (LK/Gössel aaO § 412 Rn. 5).
III.
Der Beschluss des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 25.1.1999 ist daher aufzuheben. Zugleich sind auf die Revision des Angeklagten das Urteil des Landgerichts vom 9.9.1998 und das des Amtsgerichts vom 14.1.1998 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO). Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung, nämlich zur Nachholung der Zustellung des Strafbefehls sowie zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an einen anderen Richter des Amtsgerichts Kaufbeuren - Zweigstelle Füssen - zurückverwiesen (§ 354 Abs. 2 StPO).
Die Entscheidung ergeht nach § 349 Abs. 4 StPO durch einstimmigen Beschluss.